Eigentlich sehen die Regeln des sogenannten "Dublin-Abkommens" vor, dass Geflüchtete ihren Schutzantrag in dem ersten Land stellen müssen, das sie im Schengenraum betreten - und dieses Land dann auch verantwortlich für die Person ist. Auch der mutmaßliche syrische Attentäter, der drei Menschen mit einem Messer beim Solinger Stadtfest tötete und weitere verletzte, hätte schon im vergangenen Jahr in das EU-Land Bulgarien abgeschoben werden sollen, über das er eingereist war. In der Praxis jedoch funktionieren solche Abschiebungen oftmals nicht - aus unterschiedlichen Gründen.
Die Regeln
Nach den geltenden Dublin-III-Vorschriften gilt eine Frist von sechs Monaten, in denen ein Land die Rücküberstellung von Flüchtlingen in einen anderen europäischen Staat beantragen muss - sonst ist der Staat, in dem sich ein Geflüchteter aufhält, selbst verantwortlich. Diese Überstellungsfrist kann nur dann auf 18 Monate verlängert werden, wenn die betreffende Person offiziell als untergetaucht registriert ist.
Wegen der Vielzahl der Fälle, mangelnder Digitalisierung der Ausländerbehörden und Personalmangel wird die Sechs-Monate-Frist in Deutschland aber oft nicht eingehalten, weshalb die Bundesrepublik zuständig wird. Nach Angaben der Bundesregierung scheiterte eine fristgerechte Überstellung 2023 bei 38.682 Personen. Über die Jahre addiert sich die Zahl auf mehrere Hunderttausend Menschen. Mit dem neu beschlossenen Asylrechts-Paket der EU wird die Sechs-Monate-Frist abgeschafft und das Antragsverfahren für die Rücknahme erheblich vereinfacht.
Die Praxis
Es gibt verschiedene Gründe für das Scheitern von Rückführungen. Ein erheblicher Teil der Verantwortung liegt bei den deutschen Behörden: So wurde im Fall des mutmaßlichen Solinger Attentäters der Prozess der Abschiebung nach Bulgarien zwar gestartet, aber offenbar nicht konsequent weiterverfolgt.
Hinzu kommen Probleme bei der Durchführung der Abschiebungen. So zeigt die Übersicht des Innenministeriums für das erste Halbjahr 2024 beispielsweise, dass insgesamt 132 Abschiebungen (davon 59 Dublin-Überstellungen) wegen des Widerstands der Betroffenen abgebrochen werden mussten. In 142 Fällen (davon 29 Dublin-Fälle) weigerten sich Piloten, die Betroffenen an Bord zu nehmen. Aus medizinischen Gründen wurden 36 Abschiebungen (davon 16 Dublin-Fälle) abgebrochen.
Die Bundesregierung nennt in ihrer Statistik neben dem Untertauchen der Geflüchteten und langwierigen Verwaltungsgerichtsverfahren auch die fehlende Kooperation der europäischen Mitgliedstaaten als wesentlichen Grund für das Scheitern von Asylverfahren. Laut Bundesinnenministerium wurden im vergangenen Jahr 74.622 Fälle registriert, in denen Deutschland Migranten in andere europäische Mitgliedstaaten abschieben wollte. Davon wurden 22.462 von den jeweiligen EU-Ländern abgelehnt.
Die Problemfälle
Welche Länder sind besonders unkoporativ? Italien weigert sich bis auf wenige Ausnahmen seit Dezember 2022, Personen nach dem Dublin-Verfahren zurückzunehmen. Als Grund gibt die rechtskonservative Regierung an, dass aufgrund hoher Zugangszahlen von Flüchtlingen über das Mittelmeer keine ausreichenden Kapazitäten in den Aufnahmeeinrichtungen vorhanden seien.
Im Falle des EU-Partners Griechenland gibt es seit Jahren Kritik an der Versorgung von Flüchtlingen. Deutschland nahm Rückweisungen erst 2017 wieder auf - will aber Zusicherungen, dass die betroffenen Personen menschenrechtskonform untergebracht werden. Eine Rückführung gelingt nur in Einzelfällen, wofür auch etliche Gerichtsurteile sorgen. Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht etwa entschied 2021, dass nicht einmal in Griechenland anerkannte Schutzberechtigte wieder dorthin zurückgeführt werden dürfen.
In Bulgarien sehen Flüchtlingsorganisationen ebenfalls erhebliche Menschenrechtsprobleme, auch durch Übergriffe auf Migranten. Die nordrhein-westfälische Ministerin für Flucht und Migration, Paul, verweist zudem darauf, dass die Regierung in Sofia engmaschige Vorgaben für Rückführungen macht. Diese dürften nur per Flugzeug und nur an bestimmten Wochentagen zu bestimmten Uhrzeiten stattfinden, sagte Paul im Deutschlandfunk. Auch andere EU-Länder wie Rumänien machen die Überstellungen schwer.
Die Rückkehrer
Nach Angaben der Bundesregierung hielten sich im vergangenen Jahr 14.885 Personen in Deutschland auf, die schon einmal in einen anderen europäischen Staat zurückgeführt wurden - dann aber erneut nach Deutschland einreisten. Die größte Gruppe stellen Russen, es folgen Afghanen und Iraker.
Es ist zudem keinesfalls so, dass nur Deutschland Geflüchtete in andere Schengen-Staaten zurückschicken will: 2023 gab es auch 15.568 Anfragen von anderen Staaten an die Bundesrepublik, Personen zurückzunehmen - weil die Personen von Deutschland aus einreisten. Überstellt wurden nach Deutschland tatsächlich 4.275 Personen.
Diese Nachricht wurde am 29.08.2024 im Programm Deutschlandfunk gesendet.