Er war nicht einer unter Millionen, aber doch einer unter 132.000. So viele deutsche Staatsbürger fanden zwischen 1933 und 1945 Aufnahme in den Vereinigten Staaten. 682 unter ihnen gehörten zur schreibenden Zunft: Schriftsteller und Autoren also, die vor dem Hitler-Regime in ihrer Heimat geflohen waren und nun nicht selten ohne jegliche Englischkenntnisse mühsam eine neue Existenz aufbauen mussten. Viele scheiterten, und das Gros der Exilanten schlug sich nur mühsam durchs neue Leben. Gerade diejenigen unter ihnen, deren Handwerkszeug die deutsche Sprache gewesen war, erlitten häufig Schiffbruch in der Fremde. Nicht wenige endeten in Depression und Alkoholismus.
Bei Thomas Mann lag der Fall anders, vollständig anders. Selbst wenn er einer unter Millionen gewesen wäre, wenn also Millionen Deutscher vor Hitler nach Amerika geflohen wären: Thomas Manns amerikanische Jahre, sie blieben von Anfang bis Ende einzigartig. Nicht nur, weil der Nobelpreisträger berühmter und publizistisch wie ökonomisch weit erfolgreicher war als die meisten seiner Schicksalsgenossen, nicht nur, weil er mehr reiste und mehr von den Vereinigten Staaten sah, weil er Land und Leute besser kennenlernte und mehr amerikanische Hände schüttelte als jeder andere, darunter auch die Hände des Präsidenten im Weißen Haus und aller wichtigen Studiobosse in Hollywood, nicht nur, weil er das Land mit Vorträgen überzog und sogar eine angesehene Position im öffentlichen Leben Amerikas bekleidete, nämlich als Berater der Washingtoner Kongressbibliothek, nein, Thomas Manns Fall ist zunächst aus einem einzigen Grund so unvergleichlich: Er war der einzige unter den 132.000 deutschen Emigranten in den USA, der die Kühnheit und das Selbstbewusstsein mit sich im Reisegepäck führte, die nötig waren, um sich der Neuen Welt als Repräsentant nicht nur der deutschen Literatur, sondern des ganzen Landes und der Nation schlechthin vorzustellen:
Where I am, there is Germany.
Der Satz ist berühmt. Man kennt ihn. Aber was soll er eigentlich bedeuten? In welchem Selbstverständnis, vor allem aber: mit welcher Absicht wurde er ausgesprochen? Hans Rudolf Vaget gibt auf die scheinbar simple Frage eine facettenreiche, unendlich detaillierte und in der Summe höchst überzeugende Antwort. Er tut dies in seiner grundlegenden, sechshundert Seiten umfassenden Studie "Thomas Mann, der Amerikaner", und man könnte nun fragen, ob das nicht vielleicht des Guten ein wenig zu viel ist. Sechshundert Seiten über Thomas Manns amerikanisches Intermezzo? Muss das sein? Denn schließlich hat der Schriftsteller ja nur einen Teil der Hitler-Jahre sowie den Beginn der Nachkriegszeit in den Vereinigten Staaten verbracht, bevor er 1952 in die Schweiz zurückkehrte, die ihn schon vor 1938 aufgenommen hatte.
Aber genau hier beginnt das Missverständnis, das Vaget mit seiner Studie ausräumen möchte, und das er tatsächlich ausräumt, ein für alle Mal: Die amerikanischen Jahre, das zeigt dieses Buch auf beeindruckende Weise, waren eben beileibe nicht nur ein Intermezzo. Sie waren viel mehr als dies, und sie hatten im Leben und Werk des Schriftstellers eine so fundamentale Bedeutung, dass der mehrdeutige und anspielungsreiche Titel "Thomas Mann, der Amerikaner" keineswegs übertrieben scheint. Ein neuer Thomas Mann wird uns hier nicht gegeben, wie auch? Aber Vaget hat dem Bild des Schriftstellers doch so viel Interessantes, Aufschlussreiches und Wesentliches hinzuzufügen, dass man nach der Lektüre versucht ist zu sagen: Wer Thomas Mann, den Amerikaner, nicht kennt, kann auch Thomas Mann, den Deutschen, nicht kennen.
Where I am, there is Germany - Thomas Mann diktierte diese Worte am 21. Februar des Jahres 1938, dem Tag seiner Ankunft in New York, den Journalisten, die den weltberühmten Nobelpreisträger erwartet hatten, in die Notizblöcke. Die Manns waren am 15. Februar in Zürich aufgebrochen, um sich in Cherbourg an Bord der "Queen Mary" einzuschiffen, die am 21. Februar 1938 in New York anlegte. Der Grund der Reise war eine Vortragstournee quer durch Amerika, die vom 1. März bis zum 6. Mai dauern sollte und von New York, Philadelphia und Washington an der Ostküste bis nach Los Angeles und San Francisco an der Westküste führte. Im Landesinneren waren neben Kansas City, Chicago oder Cleveland auch so exotische Orte wie Tulsa oder Urbana vorgesehen. Ein Abstecher über die Grenze ins kanadische Toronto wurde aus besonderem Anlass eingeschoben: Es ging um Thomas Manns Antrag auf Einwanderung, der, damals nicht anders als heute, nicht im Land selbst gestellt wurden durfte.
Insgesamt fünfzehn Mal sollte Thomas Mann auf dieser Reise eine Bühne besteigen, meistens trug er dabei Frack, Lackschuhe und Seidenstrümpfe. Die Zuhörerschaft variierte je nach Größe des Saals, der zur Verfügung stand. Mal waren es zweitausend Menschen, mitunter, wie in Ann Arbor oder Chicago, auch 4000 oder 4500 Zuhörer, die gekommen, waren, um dem deutschen Schriftsteller zu lauschen, dessen Akzent zunächst so schrecklich gewesen sein soll, dass ein sarkastischer Ohrenzeuge einmal bemerkte, es wäre besser gewesen, Thomas Mann hätte auf Deutsch gesprochen - denn dann hätten ihn zumindest ein paar der Anwesenden verstehen können.
Nach dem Vortrag unterwarf sich Thomas Mann dem in amerikanischen Vortragssälen üblichen Ritual der im Tagebuch gern und oft beklagten "Auspressung" und beantwortete Fragen aus dem Publikum, wobei ihm seine Tochter Erika, manchmal auch die ebenfalls mitgereiste Ehefrau Katia, dolmetschen musste. Danach ging es in der Regel zu einem großen Empfang, dem ein spätes Essen im Kreis der örtlichen Honoratioren folgte. Allfällige Interviews durch Zeitungs- und Rundfunkjournalisten mussten ebenfalls absolviert werden.
Die Entlohnung für diese Mühsal war durchaus stattlich und entsprach mit 15.000 Dollar etwa dem dreifachen Jahresgehalt eines amerikanischen Professors. Allerdings war von dieser Summe auch der amerikanische Literaturagent zu entlohnen sowie der Reiseetat zu bestreiten. Man reiste ja zu dritt und mit großer Garderobe: Vierzehn bis zwanzig Gepäckstücke, darunter auch große, nach heutigem Verständnis geradezu monumentale Schrankkoffer, in denen Frack, Smoking und Abendkleider ungefaltet transportiert wurden, waren die Regel. Später wurde das Reisegepäck um einen kleinen Karteikasten aus Holz ergänzt. Er war mit einem Vorhängeschloss versehen, enthielt allerdings keine wichtigen Aufzeichnungen, Notizen oder gar kostbare Manuskripte, sondern zwei Whiskyflaschen samt Gläsern. Denn beim Durchqueren der sogenannten "dry States", jenen Bundesstaaten also, in denen die Prohibition auch in den späten dreißiger Jahren noch nicht aufgehoben war, wollte man auf eine kleine Stärkung nicht verzichten. Oder, wie Katia Mann einmal freimütig einem Journalisten gegenüber erklärte:
When we get to a dry state ... we can still have our fun.
Reichte die Aufmunterung durch Alkoholika einmal nicht aus, griff Thomas Mann vor seinen Auftritten zuweilen auch zu stimmungsaufhellenden Aufputschmitteln, die im Jargon der für Drogen und Stimulantien aller Art bekanntlich recht anfälligen Familie euphemistisch als "Heiterlein" bezeichnet wurden.
Aber solch vergnügliche Details, von denen Vagets ungemein detaillierte und akribisch recherchierte Studie wimmelt, sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich keinesfalls um eine Vergnügungsreise handelte. Und auch das fürstliche Honorar allein war nicht ausschlaggebend für die Entscheidung Thomas Manns, den Weg über den Ozean zu wagen, von dem er in seinen frühen Jahren gesagt hatte, er verspüre wenig Lust, ihn anzutreten. Thomas Manns Interesse an Amerika erwachte spät, aber dann war es, wie Vaget zu zeigen versteht, groß, vielseitig und in mehr als einer Hinsicht ausgesprochen zielgerichtet. Und es stieß auf Erwiderung: Amerika interessierte sich auch für Thomas Mann.
Insgesamt etwa 43.000 Amerikaner zahlten im Frühjahr 1938 Eintritt, um einem der fünfzehn Vorträge des deutschen Schriftstellers zu lauschen, der auf Plakaten und in Zeitungsanzeigen als "The Greatest Living Man of Letters" annonciert wurde. Naturgemäß teilten nicht alle Beobachter diese Einschätzung, und auch Thomas Mann selbst schien seine Anziehungskraft auf das amerikanische Publikum zuweilen unerklärlich, wie er in einem der zahlreichen Briefe an seine amerikanische Gönnerin Agnes Meyer bekannte:
Der stürmische Zudrang des Publikums, die lautlose Aufmerksamkeit, die Dankbarkeit, das alles hat etwas Verwirrendes und Unbegreifliches ... Ich frage mich jedes Mal: Was erwarten diese Menschen? Ich bin doch nicht Caruso!
Nein, der berühmte Tenor Enrico Caruso war Thomas Mann nicht. Aber er war etwas anderes. Er war Deutschland.
Where I am, there is Germany.
Lange Zeit galt Thomas Manns Bruder als einzige Quelle für dieses Zitat. Heinrich Mann hatte es in seinem Band "Ein Zeitalter wird besichtigt" überliefert. Dort heißt es in deutscher Übersetzung - und mit einer kleinen, aber keinesfalls unbedeutenden Akzentverschiebung:
Wo ich bin, ist die deutsche Kultur.
Auch das, die Verkörperung deutscher Kultur, wäre ja kein leichtes Unterfangen, kein bescheidenes Vorhaben und durchaus keine Kleinigkeit gewesen. Aber offenbar hatte Thomas Mann mehr im Sinn, als er im Februar 1938 amerikanischen Boden betrat. Der Titel des Vortrags, den er zu halten beabsichtigte, lautete: "The Coming Victory of Democracy". Und genau darum ging es dem Schriftsteller: Im bevorstehenden Kampf der Demokratie gegen die Diktatur der faschistischen Regime wollte Thomas Mann nicht als Zuschauer am Rand stehen, sondern mitkämpfen und seinen Beitrag leisten: als weltberühmter Schriftsteller, der ausgebürgert war, seit 1933 seiner Heimat und seit 1936 der deutschen Staatsangehörigkeit beraubt, und der eben deshalb im Ausland als eines der prominentesten Opfer der Nazi-Diktatur betrachtet wurde. Aber bei aller Verbitterung, bei allen Klagen über die Vertreibung, die ja nicht nur der Person galt, sondern auch den Werken, hat der Schriftsteller sich nie nur als Opfer, sondern immer auch als aktiven Gegenspieler jenes Mannes betrachtet, dem er einen Essay widmete, der 1938 unter aufsehenerregender Überschrift erschien: "Bruder Hitler".
Der Titel des Aufsatzes stammt zwar nicht von Thomas Mann selbst, und selbstverständlich lässt Vaget ein solches Detail nicht unerwähnt, aber der Titel trifft doch den Kern der Sache, weil Thomas Mann ja tatsächlich eine Art Verwandtschaft zwischen sich und dem pathologischen Massenmörder Hitler reklamierte. Was auf den ersten Blick absurd anmutet, war kühl kalkuliert und von großer Tragweite. Denn der zugrunde liegende Gedanke war nicht nur entscheidend für die Einschätzung des verbrecherischen Diktators, sondern er war entscheidend für die im Grunde bis heute virulente Frage, wie deutsch die Nazis waren. Anders gesagt: Beide, Adolf Hitler und Thomas Mann, erhoben den Anspruch, Deutschland zu verkörpern. Und Thomas Mann gestand dem Diktator indirekt zu, dass er und seine blutgierigen Helfer diesen Anspruch nicht gänzlich zu Unrecht erhoben. Was daraus folgt? Viel, sehr viel sogar, denn damit war die post festum so oft bemühte Erklärung, die Nazis seien ein "Betriebsunfall" der deutschen Geschichte gewesen, von vornherein ausgeschlossen. "Bruder Hitler" - diese plakative Formulierung bedeutete cum grano salis nichts anderes, als dass der Diktator und seine Schergen sich in gewissem Sinne sehr wohl auf das Deutschtum und dessen Traditionen berufen durften. Die Nazis kamen nicht aus dem Nichts, sie waren das andere, das - mit einer Mann' schen Formulierung - "fehlgegangene" Deutschland.
Ein solcher Befund stieß nicht nur auf Zustimmung. Nicht während Hitlers Schreckensherrschaft und auch nicht nach ihrem Ende, wie die vor allem von dem Schriftsteller Frank Thieß betriebene Hetzkampagne gegen Thomas Mann zeigen sollte. Selbstverständlich rekonstruiert Vaget auch dieses Kapitel im Leben des Schriftstellers.
Es gehört im engsten Sinne zum Thema dieser Studie, wurde doch Thomas Mann damals von seinen Gegnern explizit als "der Amerikaner" bezeichnet. Gemeint war dies als Beleidigung.
Thomas Mann, und mit ihm viele andere Exilanten, sollte ein zweites Mal ausgegrenzt werden. Der Schriftsteller Otto Flake schrieb damals, der Nobelpreisträger habe, als er die amerikanische Staatsbürgerschaft annahm, das Tischtuch zwischen sich und Deutschland zerschnitten und damit jegliches Recht verloren, sich überhaupt noch zu deutschen Angelegenheiten zu äußern. Seine Einlassungen seien schlicht "illegitim". Dass Mann erst amerikanischer Bürger geworden war, nachdem ihm Nazi-Deutschland die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt hatte, spielte dabei für Flake und manchen anderen Deutschen keinerlei Rolle. Als die amerikanische Militärbehörde im Sommer 1947 eine kleine Umfrage durchführte, war das Ergebnis eindeutig. Auf die Frage, ob es wünschenswert sei, dass die Emigranten Thomas Mann, Carl Zuckmayer und Helene Thimig nach Deutschland zurückkehrten, antwortete die Mehrzahl der Befragten, die überwiegend zum Bildungsbürgertum zählten, mit nein. Man wollte offenbar unter sich bleiben und ungestört an der heute geradezu wahnwitzig anmutenden Legende stricken, das deutsche Volk sei gereift und moralisch nobilitiert aus dem braunen Sumpf hervorgegangen. Die vielleicht größtmögliche Unverschämtheit beging Otto Flake, wie Thomas Mann ein Autor des S. Fischer Verlages, als er sich zu der Behauptung verstieg, die Deutschen hätten für die "Menschheit ... die Kastanien aus dem Feuer geholt".
Thomas Mann, der Amerikaner, kehrte nicht in sein Heimatland zurück. Am 1. Juli 1950 schrieb er an den im Jahr zuvor nach Frankfurt zurückgekehrten Theodor W. Adorno:
Nach Deutschland bringen mich keine zehn Pferde. Der Geist des Landes ist mir widerwärtig.
Aber auch in Amerika wollte er nicht bleiben. Denn dort hatte sich nach dem Tod Roosevelts ein Klima der Unfreiheit entwickelt, dass in der Menschenjagd der McCarthy-Jahre seinen unrühmlichen Höhepunkt fand. Für Thomas Mann kam diese Entwicklung keineswegs unerwartet, wie Vaget zu zeigen weiß.
Der Schriftsteller hatte 1938 den Entschluss gefasst, nach Amerika zu emigrieren, weil er überzeugt war, dass Hitler den Krieg wollte und nur die Weltmacht Amerika in der Lage war, den Diktator militärisch zu bezwingen. Den weltpolitischen Gegenspieler Hitlers hatte er in Roosevelt ausgemacht, dem amerikanischen Präsidenten des New Deal. In ihn setzte er all seine Hoffnung. Deshalb hielt es ihn nicht in der Schweiz, deshalb musste es Amerika sein. Die Aussichten, zugleich den gigantischen englischsprachigen Buchmarkt zu erobern, waren solchen Plänen durchaus förderlich.
Vaget widmet dem Verhältnis Thomas Manns zu Roosevelt zu Recht ein ganzes Kapitel. Ebenso verfährt er mit Agnes Meyer, deren Briefwechsel mit Thomas Mann er in den neunziger Jahren herausgegeben hat. Jetzt beleuchtet Vaget die eigentümliche, aber für Thomas Manns amerikanischen Jahre ungeheuer wichtige Beziehung zwischen dem Autor und seiner Gönnerin im Detail und zeigt minutiös, auf welch verschlungenen Wegen "die Meyer" Eingang ins literarische Werk gefunden hat. Es folgen Kapitel über die Vortragsreisen, die akademischen Episoden, die Beziehungen und Kontakte mit Literaten sowie dem sogenannten "Movie-Gesindel" in Hollywood, dem Thomas Mann durchaus aufgeschlossen gegenüberstand. Drei Filmprojekte wurden in Aussicht genommen, keines wurde realisiert. Nach einem Kapitel über die Zeit der Kommunistenhatz in den USA, auch Thomas Mann wurde hartnäckig vom FBI bespitzelt, beschließen Kapitel über den Doktor-Faustus-Komplex und die bitteren Kontroversen der ersten Nachkriegsjahre die Studie.
Aber zurück zu Roosevelt. Im ersten Kapitel des Buches zeigt Vaget, wie Thomas Mann sich den USA über die Literatur, die Werke Walt Whitmans und Joseph Conrads vor allem, langsam genähert hatte. Das war in den zwanziger Jahren. Sein Demokratieverständnis, notorisch heikel seit den "Betrachtungen eines Unpolitischen", erfuhr unter dem Eindruck des Nationalsozialismus eine drastische Veränderung. In Roosevelt sah er nun, da der Krieg heraufzog, den perfekten Staatsmann, der das Mann' sche Ideal einer Demokratie mit aristokratischem Einschlag, die gleichsam von oben nach unten Gutes bewirkt, zu verkörpern wusste. Dass der liberale Präsident in seinen eigenen großbürgerlichen Kreisen als Verräter geschmäht und vor allem für seine soziale Politik des "New Deal" oft mit großer Inbrunst gehasst wurde, focht Thomas Mann nicht an. Seine Bewunderung ging so weit, dass er sich 1944 sogar mit einer Rede in den amerikanischen Wahlkampf einschaltete und gegen Roosevelts republikanischen Herausforderer Thomas E. Dewey zu Felde zog. Bereits zwei Jahre zuvor, im Mai 1942, hatte er in einem Artikel erkennen lassen, dass er Roosevelt durchaus auch als Bollwerk gegen jene Gefahren betrachtete, die Amerikas aus seinem Inneren bedrohten:
Ich lebe lange genug in Amerika, um der Schwächen, Gebrechen, Gefahren seiner Demokratie gewahr geworden zu sein. Ich weiß sogar, dass die Giftstoffe, die Europa zersetzten, auch in seinem Organismus ihr Wesen treiben und dass sie nicht ohne alle Aussicht auf Erfolg seinen Siegeswillen lahmzulegen versuchen.
Das ist von erstaunlicher Offenheit gegenüber dem Land, das den Ausgebürgerten aufgenommen hatte. Erstaunlich auch, wenn man bedenkt, dass Thomas Mann zum Zeitpunkt dieser Äußerung erst seit vier Jahren in den USA lebte, und noch erstaunlicher, wenn man den Titel des Artikels kennt, der sie enthielt. Er lautet "Lob Amerikas". Und das tut Thomas Mann denn auch ausgiebig. Er lobte Amerika als Heimat der "Gutwilligen", aber er war nicht blind für die Schattenseiten und auch nicht für die Schwierigkeiten, mit denen Roosevelt innenpolitisch zu kämpfen hatte. Nein, Thomas Mann war offensichtlich keineswegs der politisch ahnungslose Schriftsteller, als der er oft genug dargestellt wurde, und Vagets Studie lässt auch keinen Zweifel daran, dass Thomas Manns Analyse des Nationalsozialismus und seiner Auswirkungen in manchen Punkten ihrer Zeit voraus war - weit voraus mitunter.
Bereits im September 1941 spricht er in einer seiner berühmten Radioansprachen an "Deutsche Hörer" von den Verbrechen gegen "Polen und Juden", im folgenden November erwähnt er erstmals "Massen-Vergasungen", im Juni 1942 konfrontiert er seine deutschen Hörer mit dem "viehischen Massenmord von Mauthausen", und im September 1942 berichtet er im Rundfunk von der Ermordung von elftausend Juden durch Giftgas. Aber der empörte Aufschrei der Weltöffentlichkeit blieb aus, und auch Amerikas Reaktion war enttäuschend. Am 10. April 1943 konstatiert ein ernüchterter Thomas Mann im Tagebuch:
Die Abschlachtung der Juden hat allgemeinen Beifall, stößt mindestens auf Gleichgültigkeit.
Einige Wochen später, am 17. Juni 1943, hält der Schriftsteller in San Francisco eine Rede mit dem Titel "The Fall of the European Jews", in der er klar und deutlich ausspricht, dass das jüdische Volk nicht wie andere Völker vor ihm von Sklaverei oder Dezimierung bedroht war, sondern von der völligen Ausmerzung. Angesichts dessen macht er auch vor einer deutlichen Kritik an dem ansonsten nahezu unantastbaren Roosevelt nicht Halt: Dessen Standpunkt, man könne für die Juden nicht mehr tun, als gegen Hitler Krieg zu führen, sei schlichtweg "billig".
Als er am 14. Januar 1945 in seiner Radioansprache beschreibt, was die Soldaten der Roten Armee vorfanden, als sie Auschwitz befreiten, nennt Thomas Mann auch die Namen der Vernichtungslager von Majdanek und Birkenau und prophezeit, dass die Krematorien der Todeslager einmal als
D a s Denkmal des Dritten Reiches
in Erinnerung bleiben werden. Und der so gern als unpolitisch gescholtene Schriftsteller hat noch vor Kriegsende den Weitblick, vorherzusagen, dass ohne die "volle und rückhaltlose Kenntnisnahme" der entsetzlichen Verbrechen und ohne die "klare Einsicht" in ihre "Unsühnbarkeit" eine künftige Aussöhnung Deutschlands mit der Welt nicht möglich sein würde.
Spricht so ein Dilettant in politischen Dingen? Wohl kaum. Hans Rudolf Vaget belegt in seiner Studie eindrucksvoll, dass Thomas Mann keineswegs der politisch ahnungslose Poet, der "unwissende Magier" war, als den man ihn oft betrachten wollte. Im Jahr 1938, dem Jahr seiner Emigration in die Vereinigten Staaten, veröffentlichte Thomas Mann einen bemerkenswerten Satz über sich selbst, den Vaget mit guten Gründen als programmatisch ansieht:
Die Heimsuchung Deutschlands nun gar durch den Hitlerismus hat diesen ursprünglich unpolitischen Schriftsteller zu einem aus tiefster Seele Protestierenden ... zu einem Emigranten und politischen Kämpfer gemacht.
Ein politischer Kämpfer für das bessere Deutschland, der zum Amerikaner wurde, weil er Deutscher bleiben wollte, den schrecklichen Verbrechen des Hitlerismus zum Trotz - so steht Thomas Mann nun tatsächlich vor uns, weil Hans Rudolf Vaget ihn uns so gezeigt hat. Die souveräne Kenntnis zahlloser Quellen, die tiefe Vertrautheit mit dem Mann'schen Werk, geduldige Arbeit in den Archiven, Genauigkeit in der Sache und die luzide, allerdings gelegentlich ein wenig zur Redundanz neigende Darstellung haben Vagets Studie "Thomas Mann, der Amerikaner" zu einem großen Wurf der Mann-Forschung werden lassen.
Hans Rudolf Vaget, "Thomas Mann, der Amerikaner. Leben und Werk im amerikanischen Exil 1938 - 1952.", S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011, 24,95 Euro.
Bei Thomas Mann lag der Fall anders, vollständig anders. Selbst wenn er einer unter Millionen gewesen wäre, wenn also Millionen Deutscher vor Hitler nach Amerika geflohen wären: Thomas Manns amerikanische Jahre, sie blieben von Anfang bis Ende einzigartig. Nicht nur, weil der Nobelpreisträger berühmter und publizistisch wie ökonomisch weit erfolgreicher war als die meisten seiner Schicksalsgenossen, nicht nur, weil er mehr reiste und mehr von den Vereinigten Staaten sah, weil er Land und Leute besser kennenlernte und mehr amerikanische Hände schüttelte als jeder andere, darunter auch die Hände des Präsidenten im Weißen Haus und aller wichtigen Studiobosse in Hollywood, nicht nur, weil er das Land mit Vorträgen überzog und sogar eine angesehene Position im öffentlichen Leben Amerikas bekleidete, nämlich als Berater der Washingtoner Kongressbibliothek, nein, Thomas Manns Fall ist zunächst aus einem einzigen Grund so unvergleichlich: Er war der einzige unter den 132.000 deutschen Emigranten in den USA, der die Kühnheit und das Selbstbewusstsein mit sich im Reisegepäck führte, die nötig waren, um sich der Neuen Welt als Repräsentant nicht nur der deutschen Literatur, sondern des ganzen Landes und der Nation schlechthin vorzustellen:
Where I am, there is Germany.
Der Satz ist berühmt. Man kennt ihn. Aber was soll er eigentlich bedeuten? In welchem Selbstverständnis, vor allem aber: mit welcher Absicht wurde er ausgesprochen? Hans Rudolf Vaget gibt auf die scheinbar simple Frage eine facettenreiche, unendlich detaillierte und in der Summe höchst überzeugende Antwort. Er tut dies in seiner grundlegenden, sechshundert Seiten umfassenden Studie "Thomas Mann, der Amerikaner", und man könnte nun fragen, ob das nicht vielleicht des Guten ein wenig zu viel ist. Sechshundert Seiten über Thomas Manns amerikanisches Intermezzo? Muss das sein? Denn schließlich hat der Schriftsteller ja nur einen Teil der Hitler-Jahre sowie den Beginn der Nachkriegszeit in den Vereinigten Staaten verbracht, bevor er 1952 in die Schweiz zurückkehrte, die ihn schon vor 1938 aufgenommen hatte.
Aber genau hier beginnt das Missverständnis, das Vaget mit seiner Studie ausräumen möchte, und das er tatsächlich ausräumt, ein für alle Mal: Die amerikanischen Jahre, das zeigt dieses Buch auf beeindruckende Weise, waren eben beileibe nicht nur ein Intermezzo. Sie waren viel mehr als dies, und sie hatten im Leben und Werk des Schriftstellers eine so fundamentale Bedeutung, dass der mehrdeutige und anspielungsreiche Titel "Thomas Mann, der Amerikaner" keineswegs übertrieben scheint. Ein neuer Thomas Mann wird uns hier nicht gegeben, wie auch? Aber Vaget hat dem Bild des Schriftstellers doch so viel Interessantes, Aufschlussreiches und Wesentliches hinzuzufügen, dass man nach der Lektüre versucht ist zu sagen: Wer Thomas Mann, den Amerikaner, nicht kennt, kann auch Thomas Mann, den Deutschen, nicht kennen.
Where I am, there is Germany - Thomas Mann diktierte diese Worte am 21. Februar des Jahres 1938, dem Tag seiner Ankunft in New York, den Journalisten, die den weltberühmten Nobelpreisträger erwartet hatten, in die Notizblöcke. Die Manns waren am 15. Februar in Zürich aufgebrochen, um sich in Cherbourg an Bord der "Queen Mary" einzuschiffen, die am 21. Februar 1938 in New York anlegte. Der Grund der Reise war eine Vortragstournee quer durch Amerika, die vom 1. März bis zum 6. Mai dauern sollte und von New York, Philadelphia und Washington an der Ostküste bis nach Los Angeles und San Francisco an der Westküste führte. Im Landesinneren waren neben Kansas City, Chicago oder Cleveland auch so exotische Orte wie Tulsa oder Urbana vorgesehen. Ein Abstecher über die Grenze ins kanadische Toronto wurde aus besonderem Anlass eingeschoben: Es ging um Thomas Manns Antrag auf Einwanderung, der, damals nicht anders als heute, nicht im Land selbst gestellt wurden durfte.
Insgesamt fünfzehn Mal sollte Thomas Mann auf dieser Reise eine Bühne besteigen, meistens trug er dabei Frack, Lackschuhe und Seidenstrümpfe. Die Zuhörerschaft variierte je nach Größe des Saals, der zur Verfügung stand. Mal waren es zweitausend Menschen, mitunter, wie in Ann Arbor oder Chicago, auch 4000 oder 4500 Zuhörer, die gekommen, waren, um dem deutschen Schriftsteller zu lauschen, dessen Akzent zunächst so schrecklich gewesen sein soll, dass ein sarkastischer Ohrenzeuge einmal bemerkte, es wäre besser gewesen, Thomas Mann hätte auf Deutsch gesprochen - denn dann hätten ihn zumindest ein paar der Anwesenden verstehen können.
Nach dem Vortrag unterwarf sich Thomas Mann dem in amerikanischen Vortragssälen üblichen Ritual der im Tagebuch gern und oft beklagten "Auspressung" und beantwortete Fragen aus dem Publikum, wobei ihm seine Tochter Erika, manchmal auch die ebenfalls mitgereiste Ehefrau Katia, dolmetschen musste. Danach ging es in der Regel zu einem großen Empfang, dem ein spätes Essen im Kreis der örtlichen Honoratioren folgte. Allfällige Interviews durch Zeitungs- und Rundfunkjournalisten mussten ebenfalls absolviert werden.
Die Entlohnung für diese Mühsal war durchaus stattlich und entsprach mit 15.000 Dollar etwa dem dreifachen Jahresgehalt eines amerikanischen Professors. Allerdings war von dieser Summe auch der amerikanische Literaturagent zu entlohnen sowie der Reiseetat zu bestreiten. Man reiste ja zu dritt und mit großer Garderobe: Vierzehn bis zwanzig Gepäckstücke, darunter auch große, nach heutigem Verständnis geradezu monumentale Schrankkoffer, in denen Frack, Smoking und Abendkleider ungefaltet transportiert wurden, waren die Regel. Später wurde das Reisegepäck um einen kleinen Karteikasten aus Holz ergänzt. Er war mit einem Vorhängeschloss versehen, enthielt allerdings keine wichtigen Aufzeichnungen, Notizen oder gar kostbare Manuskripte, sondern zwei Whiskyflaschen samt Gläsern. Denn beim Durchqueren der sogenannten "dry States", jenen Bundesstaaten also, in denen die Prohibition auch in den späten dreißiger Jahren noch nicht aufgehoben war, wollte man auf eine kleine Stärkung nicht verzichten. Oder, wie Katia Mann einmal freimütig einem Journalisten gegenüber erklärte:
When we get to a dry state ... we can still have our fun.
Reichte die Aufmunterung durch Alkoholika einmal nicht aus, griff Thomas Mann vor seinen Auftritten zuweilen auch zu stimmungsaufhellenden Aufputschmitteln, die im Jargon der für Drogen und Stimulantien aller Art bekanntlich recht anfälligen Familie euphemistisch als "Heiterlein" bezeichnet wurden.
Aber solch vergnügliche Details, von denen Vagets ungemein detaillierte und akribisch recherchierte Studie wimmelt, sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich keinesfalls um eine Vergnügungsreise handelte. Und auch das fürstliche Honorar allein war nicht ausschlaggebend für die Entscheidung Thomas Manns, den Weg über den Ozean zu wagen, von dem er in seinen frühen Jahren gesagt hatte, er verspüre wenig Lust, ihn anzutreten. Thomas Manns Interesse an Amerika erwachte spät, aber dann war es, wie Vaget zu zeigen versteht, groß, vielseitig und in mehr als einer Hinsicht ausgesprochen zielgerichtet. Und es stieß auf Erwiderung: Amerika interessierte sich auch für Thomas Mann.
Insgesamt etwa 43.000 Amerikaner zahlten im Frühjahr 1938 Eintritt, um einem der fünfzehn Vorträge des deutschen Schriftstellers zu lauschen, der auf Plakaten und in Zeitungsanzeigen als "The Greatest Living Man of Letters" annonciert wurde. Naturgemäß teilten nicht alle Beobachter diese Einschätzung, und auch Thomas Mann selbst schien seine Anziehungskraft auf das amerikanische Publikum zuweilen unerklärlich, wie er in einem der zahlreichen Briefe an seine amerikanische Gönnerin Agnes Meyer bekannte:
Der stürmische Zudrang des Publikums, die lautlose Aufmerksamkeit, die Dankbarkeit, das alles hat etwas Verwirrendes und Unbegreifliches ... Ich frage mich jedes Mal: Was erwarten diese Menschen? Ich bin doch nicht Caruso!
Nein, der berühmte Tenor Enrico Caruso war Thomas Mann nicht. Aber er war etwas anderes. Er war Deutschland.
Where I am, there is Germany.
Lange Zeit galt Thomas Manns Bruder als einzige Quelle für dieses Zitat. Heinrich Mann hatte es in seinem Band "Ein Zeitalter wird besichtigt" überliefert. Dort heißt es in deutscher Übersetzung - und mit einer kleinen, aber keinesfalls unbedeutenden Akzentverschiebung:
Wo ich bin, ist die deutsche Kultur.
Auch das, die Verkörperung deutscher Kultur, wäre ja kein leichtes Unterfangen, kein bescheidenes Vorhaben und durchaus keine Kleinigkeit gewesen. Aber offenbar hatte Thomas Mann mehr im Sinn, als er im Februar 1938 amerikanischen Boden betrat. Der Titel des Vortrags, den er zu halten beabsichtigte, lautete: "The Coming Victory of Democracy". Und genau darum ging es dem Schriftsteller: Im bevorstehenden Kampf der Demokratie gegen die Diktatur der faschistischen Regime wollte Thomas Mann nicht als Zuschauer am Rand stehen, sondern mitkämpfen und seinen Beitrag leisten: als weltberühmter Schriftsteller, der ausgebürgert war, seit 1933 seiner Heimat und seit 1936 der deutschen Staatsangehörigkeit beraubt, und der eben deshalb im Ausland als eines der prominentesten Opfer der Nazi-Diktatur betrachtet wurde. Aber bei aller Verbitterung, bei allen Klagen über die Vertreibung, die ja nicht nur der Person galt, sondern auch den Werken, hat der Schriftsteller sich nie nur als Opfer, sondern immer auch als aktiven Gegenspieler jenes Mannes betrachtet, dem er einen Essay widmete, der 1938 unter aufsehenerregender Überschrift erschien: "Bruder Hitler".
Der Titel des Aufsatzes stammt zwar nicht von Thomas Mann selbst, und selbstverständlich lässt Vaget ein solches Detail nicht unerwähnt, aber der Titel trifft doch den Kern der Sache, weil Thomas Mann ja tatsächlich eine Art Verwandtschaft zwischen sich und dem pathologischen Massenmörder Hitler reklamierte. Was auf den ersten Blick absurd anmutet, war kühl kalkuliert und von großer Tragweite. Denn der zugrunde liegende Gedanke war nicht nur entscheidend für die Einschätzung des verbrecherischen Diktators, sondern er war entscheidend für die im Grunde bis heute virulente Frage, wie deutsch die Nazis waren. Anders gesagt: Beide, Adolf Hitler und Thomas Mann, erhoben den Anspruch, Deutschland zu verkörpern. Und Thomas Mann gestand dem Diktator indirekt zu, dass er und seine blutgierigen Helfer diesen Anspruch nicht gänzlich zu Unrecht erhoben. Was daraus folgt? Viel, sehr viel sogar, denn damit war die post festum so oft bemühte Erklärung, die Nazis seien ein "Betriebsunfall" der deutschen Geschichte gewesen, von vornherein ausgeschlossen. "Bruder Hitler" - diese plakative Formulierung bedeutete cum grano salis nichts anderes, als dass der Diktator und seine Schergen sich in gewissem Sinne sehr wohl auf das Deutschtum und dessen Traditionen berufen durften. Die Nazis kamen nicht aus dem Nichts, sie waren das andere, das - mit einer Mann' schen Formulierung - "fehlgegangene" Deutschland.
Ein solcher Befund stieß nicht nur auf Zustimmung. Nicht während Hitlers Schreckensherrschaft und auch nicht nach ihrem Ende, wie die vor allem von dem Schriftsteller Frank Thieß betriebene Hetzkampagne gegen Thomas Mann zeigen sollte. Selbstverständlich rekonstruiert Vaget auch dieses Kapitel im Leben des Schriftstellers.
Es gehört im engsten Sinne zum Thema dieser Studie, wurde doch Thomas Mann damals von seinen Gegnern explizit als "der Amerikaner" bezeichnet. Gemeint war dies als Beleidigung.
Thomas Mann, und mit ihm viele andere Exilanten, sollte ein zweites Mal ausgegrenzt werden. Der Schriftsteller Otto Flake schrieb damals, der Nobelpreisträger habe, als er die amerikanische Staatsbürgerschaft annahm, das Tischtuch zwischen sich und Deutschland zerschnitten und damit jegliches Recht verloren, sich überhaupt noch zu deutschen Angelegenheiten zu äußern. Seine Einlassungen seien schlicht "illegitim". Dass Mann erst amerikanischer Bürger geworden war, nachdem ihm Nazi-Deutschland die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt hatte, spielte dabei für Flake und manchen anderen Deutschen keinerlei Rolle. Als die amerikanische Militärbehörde im Sommer 1947 eine kleine Umfrage durchführte, war das Ergebnis eindeutig. Auf die Frage, ob es wünschenswert sei, dass die Emigranten Thomas Mann, Carl Zuckmayer und Helene Thimig nach Deutschland zurückkehrten, antwortete die Mehrzahl der Befragten, die überwiegend zum Bildungsbürgertum zählten, mit nein. Man wollte offenbar unter sich bleiben und ungestört an der heute geradezu wahnwitzig anmutenden Legende stricken, das deutsche Volk sei gereift und moralisch nobilitiert aus dem braunen Sumpf hervorgegangen. Die vielleicht größtmögliche Unverschämtheit beging Otto Flake, wie Thomas Mann ein Autor des S. Fischer Verlages, als er sich zu der Behauptung verstieg, die Deutschen hätten für die "Menschheit ... die Kastanien aus dem Feuer geholt".
Thomas Mann, der Amerikaner, kehrte nicht in sein Heimatland zurück. Am 1. Juli 1950 schrieb er an den im Jahr zuvor nach Frankfurt zurückgekehrten Theodor W. Adorno:
Nach Deutschland bringen mich keine zehn Pferde. Der Geist des Landes ist mir widerwärtig.
Aber auch in Amerika wollte er nicht bleiben. Denn dort hatte sich nach dem Tod Roosevelts ein Klima der Unfreiheit entwickelt, dass in der Menschenjagd der McCarthy-Jahre seinen unrühmlichen Höhepunkt fand. Für Thomas Mann kam diese Entwicklung keineswegs unerwartet, wie Vaget zu zeigen weiß.
Der Schriftsteller hatte 1938 den Entschluss gefasst, nach Amerika zu emigrieren, weil er überzeugt war, dass Hitler den Krieg wollte und nur die Weltmacht Amerika in der Lage war, den Diktator militärisch zu bezwingen. Den weltpolitischen Gegenspieler Hitlers hatte er in Roosevelt ausgemacht, dem amerikanischen Präsidenten des New Deal. In ihn setzte er all seine Hoffnung. Deshalb hielt es ihn nicht in der Schweiz, deshalb musste es Amerika sein. Die Aussichten, zugleich den gigantischen englischsprachigen Buchmarkt zu erobern, waren solchen Plänen durchaus förderlich.
Vaget widmet dem Verhältnis Thomas Manns zu Roosevelt zu Recht ein ganzes Kapitel. Ebenso verfährt er mit Agnes Meyer, deren Briefwechsel mit Thomas Mann er in den neunziger Jahren herausgegeben hat. Jetzt beleuchtet Vaget die eigentümliche, aber für Thomas Manns amerikanischen Jahre ungeheuer wichtige Beziehung zwischen dem Autor und seiner Gönnerin im Detail und zeigt minutiös, auf welch verschlungenen Wegen "die Meyer" Eingang ins literarische Werk gefunden hat. Es folgen Kapitel über die Vortragsreisen, die akademischen Episoden, die Beziehungen und Kontakte mit Literaten sowie dem sogenannten "Movie-Gesindel" in Hollywood, dem Thomas Mann durchaus aufgeschlossen gegenüberstand. Drei Filmprojekte wurden in Aussicht genommen, keines wurde realisiert. Nach einem Kapitel über die Zeit der Kommunistenhatz in den USA, auch Thomas Mann wurde hartnäckig vom FBI bespitzelt, beschließen Kapitel über den Doktor-Faustus-Komplex und die bitteren Kontroversen der ersten Nachkriegsjahre die Studie.
Aber zurück zu Roosevelt. Im ersten Kapitel des Buches zeigt Vaget, wie Thomas Mann sich den USA über die Literatur, die Werke Walt Whitmans und Joseph Conrads vor allem, langsam genähert hatte. Das war in den zwanziger Jahren. Sein Demokratieverständnis, notorisch heikel seit den "Betrachtungen eines Unpolitischen", erfuhr unter dem Eindruck des Nationalsozialismus eine drastische Veränderung. In Roosevelt sah er nun, da der Krieg heraufzog, den perfekten Staatsmann, der das Mann' sche Ideal einer Demokratie mit aristokratischem Einschlag, die gleichsam von oben nach unten Gutes bewirkt, zu verkörpern wusste. Dass der liberale Präsident in seinen eigenen großbürgerlichen Kreisen als Verräter geschmäht und vor allem für seine soziale Politik des "New Deal" oft mit großer Inbrunst gehasst wurde, focht Thomas Mann nicht an. Seine Bewunderung ging so weit, dass er sich 1944 sogar mit einer Rede in den amerikanischen Wahlkampf einschaltete und gegen Roosevelts republikanischen Herausforderer Thomas E. Dewey zu Felde zog. Bereits zwei Jahre zuvor, im Mai 1942, hatte er in einem Artikel erkennen lassen, dass er Roosevelt durchaus auch als Bollwerk gegen jene Gefahren betrachtete, die Amerikas aus seinem Inneren bedrohten:
Ich lebe lange genug in Amerika, um der Schwächen, Gebrechen, Gefahren seiner Demokratie gewahr geworden zu sein. Ich weiß sogar, dass die Giftstoffe, die Europa zersetzten, auch in seinem Organismus ihr Wesen treiben und dass sie nicht ohne alle Aussicht auf Erfolg seinen Siegeswillen lahmzulegen versuchen.
Das ist von erstaunlicher Offenheit gegenüber dem Land, das den Ausgebürgerten aufgenommen hatte. Erstaunlich auch, wenn man bedenkt, dass Thomas Mann zum Zeitpunkt dieser Äußerung erst seit vier Jahren in den USA lebte, und noch erstaunlicher, wenn man den Titel des Artikels kennt, der sie enthielt. Er lautet "Lob Amerikas". Und das tut Thomas Mann denn auch ausgiebig. Er lobte Amerika als Heimat der "Gutwilligen", aber er war nicht blind für die Schattenseiten und auch nicht für die Schwierigkeiten, mit denen Roosevelt innenpolitisch zu kämpfen hatte. Nein, Thomas Mann war offensichtlich keineswegs der politisch ahnungslose Schriftsteller, als der er oft genug dargestellt wurde, und Vagets Studie lässt auch keinen Zweifel daran, dass Thomas Manns Analyse des Nationalsozialismus und seiner Auswirkungen in manchen Punkten ihrer Zeit voraus war - weit voraus mitunter.
Bereits im September 1941 spricht er in einer seiner berühmten Radioansprachen an "Deutsche Hörer" von den Verbrechen gegen "Polen und Juden", im folgenden November erwähnt er erstmals "Massen-Vergasungen", im Juni 1942 konfrontiert er seine deutschen Hörer mit dem "viehischen Massenmord von Mauthausen", und im September 1942 berichtet er im Rundfunk von der Ermordung von elftausend Juden durch Giftgas. Aber der empörte Aufschrei der Weltöffentlichkeit blieb aus, und auch Amerikas Reaktion war enttäuschend. Am 10. April 1943 konstatiert ein ernüchterter Thomas Mann im Tagebuch:
Die Abschlachtung der Juden hat allgemeinen Beifall, stößt mindestens auf Gleichgültigkeit.
Einige Wochen später, am 17. Juni 1943, hält der Schriftsteller in San Francisco eine Rede mit dem Titel "The Fall of the European Jews", in der er klar und deutlich ausspricht, dass das jüdische Volk nicht wie andere Völker vor ihm von Sklaverei oder Dezimierung bedroht war, sondern von der völligen Ausmerzung. Angesichts dessen macht er auch vor einer deutlichen Kritik an dem ansonsten nahezu unantastbaren Roosevelt nicht Halt: Dessen Standpunkt, man könne für die Juden nicht mehr tun, als gegen Hitler Krieg zu führen, sei schlichtweg "billig".
Als er am 14. Januar 1945 in seiner Radioansprache beschreibt, was die Soldaten der Roten Armee vorfanden, als sie Auschwitz befreiten, nennt Thomas Mann auch die Namen der Vernichtungslager von Majdanek und Birkenau und prophezeit, dass die Krematorien der Todeslager einmal als
D a s Denkmal des Dritten Reiches
in Erinnerung bleiben werden. Und der so gern als unpolitisch gescholtene Schriftsteller hat noch vor Kriegsende den Weitblick, vorherzusagen, dass ohne die "volle und rückhaltlose Kenntnisnahme" der entsetzlichen Verbrechen und ohne die "klare Einsicht" in ihre "Unsühnbarkeit" eine künftige Aussöhnung Deutschlands mit der Welt nicht möglich sein würde.
Spricht so ein Dilettant in politischen Dingen? Wohl kaum. Hans Rudolf Vaget belegt in seiner Studie eindrucksvoll, dass Thomas Mann keineswegs der politisch ahnungslose Poet, der "unwissende Magier" war, als den man ihn oft betrachten wollte. Im Jahr 1938, dem Jahr seiner Emigration in die Vereinigten Staaten, veröffentlichte Thomas Mann einen bemerkenswerten Satz über sich selbst, den Vaget mit guten Gründen als programmatisch ansieht:
Die Heimsuchung Deutschlands nun gar durch den Hitlerismus hat diesen ursprünglich unpolitischen Schriftsteller zu einem aus tiefster Seele Protestierenden ... zu einem Emigranten und politischen Kämpfer gemacht.
Ein politischer Kämpfer für das bessere Deutschland, der zum Amerikaner wurde, weil er Deutscher bleiben wollte, den schrecklichen Verbrechen des Hitlerismus zum Trotz - so steht Thomas Mann nun tatsächlich vor uns, weil Hans Rudolf Vaget ihn uns so gezeigt hat. Die souveräne Kenntnis zahlloser Quellen, die tiefe Vertrautheit mit dem Mann'schen Werk, geduldige Arbeit in den Archiven, Genauigkeit in der Sache und die luzide, allerdings gelegentlich ein wenig zur Redundanz neigende Darstellung haben Vagets Studie "Thomas Mann, der Amerikaner" zu einem großen Wurf der Mann-Forschung werden lassen.
Hans Rudolf Vaget, "Thomas Mann, der Amerikaner. Leben und Werk im amerikanischen Exil 1938 - 1952.", S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011, 24,95 Euro.