Missbrauchsfall Winfried Pilz
Zweifel an eidesstattlicher Erklärung Kardinal Woelkis

Im Missbrauchskomplex um den früheren Sternsinger-Präsidenten Winfried Pilz sind Zweifel an einer eidesstattlichen Erklärung des Kölner Kardinals Rainer Maria Woelki aufgekommen. Das legen Recherchen von Deutschlandfunk und "Christ & Welt" nahe.

Von Christiane Florin und Raoul Löbbert |
Kardinal Rainer Maria Woelki, Erzbischof von Köln, steht auf dem Balkon des Domforum - im Hintergrund der Kölner Dom.
Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki hat sich mit dem Fall Pilz befasst - aber wann genau? (picture alliance / dpa / Rolf Vennenbernd)
Ende Juni 2022 hatte das Erzbistum Köln öffentlich gemacht, dass der frühere Sternsinger-Präsident Winfried Pilz des Missbrauchs an einem schutzbedürftigen jungen Mann beschuldigt wurde und deshalb 2014 einen Verweis des damaligen Kardinals Joachim Meisner erhielt. Der Übergriff ereignete sich in der Zeit, als Winfried Pilz Rektor von Haus Altenberg war, einer Jugendeinrichtung des Erzbistums Köln. Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki hat in einem presserechtlichen Verfahren versichert, erst ab der vierten Juniwoche 2022 mit dem Fall Pilz befasst worden zu sein. Doch daran gibt es Zweifel.

Wann wusste Kardinal Rainer Maria Woelki Bescheid?

Nach gemeinsamen Recherchen von Deutschlandfunk und der "ZEIT"-Beilage "Christ & Welt" hat Woelkis Büroleiterin bereits Anfang Mai 2022 einen mutmaßlichen weiteren Betroffenen zum Gespräch mit dem Kardinal eingeladen, der sich zuvor mit Missbrauchsvorwürfen gegen Pilz an das Erzbistum Köln gewandt hatte. Die Einladung vom 6. Mai liegt den Redaktionen von Deutschlandfunk und "Christ & Welt" vor. Darin heißt es: "Der Herr Kardinal bat mich, bei Ihnen anzufragen, ob Sie am Montag, dem 27. Juni 2022 um 9.20 Uhr die Möglichkeit hätten, zu einem Gespräch in das Erzbischöfliche Haus zu kommen." An diesem Termin sollte laut Einladung auch ein Mitarbeiter aus der für Missbrauchsfälle zuständigen Interventionsstelle teilnehmen.
Das bedeutet: Woelki lädt einen möglichen Betroffenen im Fall Pilz zu einem Zeitpunkt zum Gespräch ein, als er selbst damit noch gar nicht befasst gewesen sein will. Das lässt jedenfalls erhebliche Zweifel an der offiziellen Darstellung des Erzbistums sowie Woelkis eidesstattlicher Erklärung aufkommen. 

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Der hier eingeladene mutmaßliche Betroffene hatte sich im März 2022 an den Deutschlandfunk gewandt und möchte anonym bleiben. Hier trägt er das Pseudonym Matteo Schuster. Dem Deutschlandfunk und "Christ & Welt" berichtete er, Pilz als Leiter des Hauses Altenberg im Bergischen Land habe ihn betrunken gemacht und vergewaltigt. Er wünsche sich, dass der Fall aufgeklärt werde. 
Er habe sich bereits Ende 2021/Anfang 2022 beim Erzbistum gemeldet. Im Mai sei die Einladung zu einem Gespräch gekommen. Den Termin mit dem Kardinal habe er nicht wahrnehmen können. Nach übereinstimmenden Angaben hat Woelki den Mann schließlich im August besucht. 

Der Missbrauchsfall Winfried Pilz

Das Erzbistum sieht keinen Widerspruch zwischen der im Mai erfolgten Einladung und der eidesstattlichen Versicherung Woelkis. "Die von ihnen dargestellten Umstände führten damit nicht zu einer früheren Befassung des Herrn Kardinal Woelki mit Pilz", teilte Woelkis Pressestelle auf Nachfrage mit. "Erst in der 4. Juniwoche wurde Herrn Kardinal Woelki mitgeteilt, dass S. Vorwürfe gegen P. erhebt."
Als das Erzbistum im Juni öffentlich machte, dass Pilz des Missbrauchs an einem schutzbedürftigen jungen Mann beschuldigt wurde, ging es um einen anderen Betroffenen. Auch dieser berichtete Deutschlandfunk und "Christ & Welt" nun von seinem Fall. Er erklärte, auch dem damaligen Personalchef des Erzbistums und heutigen Weihbischof Ansgar Puff von einem weiteren Missbrauchsbetroffenen erzählt zu haben. Es habe sich um einen Mitbewohner von Pilz im Haus Altenberg gehandelt, das der Priester damals als Rektor leitete.
Blick auf den Altenberger Dom in Odenthal, Bergisches Land
Jugendbildungsstätte Haus Altenberg des Erzbistums Köln befindet sich auf dem Gelände der früheren Zisterzienserabtei Altenberg (imago / CHROMORANGE / Alexander Ludwig)
Puff und die damalige Justiziarin sprachen Pilz 2012 im Rahmen einer Anhörung auf diese Information an, wie aus einem Befragungsprotokoll hervorgeht, das Deutschlandfunk und "Christ & Welt" einsehen konnten. Pilz gesteht in dieser Befragung zunächst nur Umarmungen ein, räumt dann aber auf Nachfrage ein, dass er nicht ausschließe könne, dass es dabei auch zu einer sexuellen Erregung gekommen sei.
Auf die Frage, ob es noch weitere derartige Situationen gegeben habe, antwortete Pilz: "Ich möchte da nicht mühsam überlegen, wer da noch gewesen sein könnte. Ich schlage vor, wenn sich da jemand meldet, dass sie mir das dann sagen. Ich möchte doch noch einmal sagen, dass es zwischen jungen Männern und Priestern doch etwas unbefangener zugeht."
Ob es weitere Betroffene gegeben hat, wurde damals aber nicht weiter geprüft.  Die Pressestelle des Erzbistums antwortete auf die Nachfrage, ob den Angaben von damals nun nachgegangen werde: "Das wird derzeit von der Stabsstelle Intervention untersucht." Der Fall werde weiter aufgearbeitet.
Pilz verstarb 2019 in der sächsischen Stadt Görlitz.
Das Hörfunkmanuskript in voller Länge:
Matteo Schuster zieht morgen um. So nennt er es. Von einem Krefelder Krankenhaus in ein Hospiz bei Düsseldorf. Neben seinem  Krankenhausbett wacht Christus. Matteo Schuster hat das Bild gemalt. Draußen brennt die Sonne an diesem 18. Juli. Sein Christus bekommt davon etwas ab, er schimmert im Mittagslicht gold, rot, blau. Matteo Schusters Gesichtsfarbe unterscheidet sich kaum vom weißen Laken. Der krebskranke Mann blickt meistens an die Decke, wenn er spricht. Ab und an wirft ein digitaler Wecker eine Spieluhrmelodie dazwischen, aber davon lässt er sich nicht unterbrechen.
Er müsse diese Geschichte mit Winfried Pilz erzählen, sagt er. "Also meinen Namen sollte man rauslassen, aber ansonsten sollte die Geschichte schon veröffentlicht werden." Matteo Schuster heißt in Wirklichkeit anders. Sein Name soll unbekannt bleiben, sein Schicksal nicht. Er wünscht sich, dass "die Sache mal langsam aufgeklärt wird und Leute wie Pilz vom hohen Sockel gestürzt werden."
Auf dem Krankenbett fallen ihm nicht mehr alle Namen und Jahreszahlen ein, aber er spricht klar und intensiv. Nach 90 Minuten formuliert er einen Wunsch. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Woelki mal eben vorbeikommt und sich entschuldigt bei mir. Journalistin: "Würden Sie sich das wünschen?"- "Ja, das würde ich schon, mit einem zusätzlichen Aufruf. Die sollen sich in solchen Angelegenheiten mal anders verhalten. Aber dass das passiert, kann ich mir nicht vorstellen."
Als Matteo Schuster das sagt, weiß er noch nicht, dass Rainer Maria Woelki an sein Krankenbett kommen wird. Er weiß noch nicht, dass seine Geschichte die Glaubhaftigkeit des Inhalts einer später verfassten Eidesstattlichen Erklärung des Kardinals massiv erschüttern könnte. Als der todkranke Patient das sagt,  möchte er nur erzählen, was er im Haus Altenberg erlebte und was Winfried Pilz ihm in dieser Einrichtung des Erzbistums Köln  angetan haben soll.

Missbrauchsvorwürfe gegen "Laudato Si"-Liedautor Winfried Pilz

Winfried Pilz war in den 1970er-Jahren der bekannteste katholische Jugendseelsorger Deutschlands. Von 1972 bis 1989 leitete er das Haus Altenberg, ein Prestigeprojekt im Bergischen Land. Das Altenberger Licht strahlte weit über das Erzbistum Köln hinaus.  Im Jahr 2000 wurde er Chef des Kinderhilfswerks „Sternsinger“. Er gilt als Paul McCartney des Neuen geistlichen Liedes. Hunderttausende dürften an Lagerfeuern und in Gottesdiensten sein Lied „Laudato Si“ geschmettert haben, sogar am Ballermann wurde eine umgedichtete Fassung zum Hit. Pilz starb 2019. Der Nachruf auf der Homepage des Erzbistums Köln verneigt sich vor einem „begnadeten Prediger und tiefgläubigen Charismatiker“.
Bildnummer: 59885151  Datum: 04.01.2008  Copyright: imago/epdWinfried Pilz, Präsident des Kindermissionswerks Die Sternsinger , spricht am Freitag (04.01.08) bei einem Empfang einer Delegation der Sternsinger bei Bundeskanzlerin Angela Merkel im Kanzleramt. Die rund 200 Mädchen und Jungen im Alter zwischen fünf und 18 Jahren überbringen ihren Segen seit 1984 in das Bundeskanzleramt und nunmehr zum dritten Mal zu Merkel. Die bundesweite Eröffnungsveranstaltung der mittlerweile 50. Sternsingeraktion fand am Mittwoch in Speyer statt. (Siehe epd-Meldung vom 04.01.08) DER ABDRUCK DES EPD-FOTOS IST HONORARPFLICHTIG! Sternsinger zu Gast bei Bundeskanzlerin Angela Merkel xas x0x 2008 hoch Europa Deutschland Berlin Personen Politik Bundeskanzler Politiker Politikerinnen Religionen Christentum Katholische Kirche Römisch-katholische Kirche  59885151 Date 04 01 2008 Copyright Imago epd Winfried Pilz President the  the Star Singer speaks at Friday 04 01 08 at a Reception a Delegation the Star Singer at Chancellor Angela Merkel in Chancellery the Around 200 Girl and Boys in Age between five and 18 Years convey theirs Blessing since 1984 in the Federal Chancellery and Now to third times to Merkel the Nationwide Opening Ceremony the now 50 Star Singer action took place at Wednesday in Speyer instead See epd Message of 04 01 08 the Imprint the epd Photos is  Star Singer to Guest at Chancellor Angela Merkel  x0x 2008 vertical Europe Germany Berlin People politics Federal Chancellor Politicians Politicians Religions Christianity Catholic Church Roman Catholic Church
Von 2000 bis 2010 war Winfried Pilz Präsident des Kindermissionswerks Die Sternsinger (imago stock&people / imago stock&people)
Auch der Deutschlandfunk sendete seine Predigten, hier eine aus dem Jahr 2006: Neulich beim Besuch einer Kinderkrippe in Betlehem habe ich einem Fünf-Monatskind in die Augen geschaut, das noch rechtzeitig aus dem Müll gerettet werden konnte. „Immer ist er unter denen, die gekreuzigt worden sind“, lautet der Text eines neueren Kirchenliedes. ,In unmenschlichen System lebt er wehrlos wie ein Kind …"
Pilz vermittelte das Evangelium lebensnah, als soziale Botschaft. Am 29. Juni 2022 zerbröselt dann der Sockel, auf dem das Denkmal für Winfried Pilz über Jahrzehnte ruhte. Das Erzbistum Köln gibt per Pressemitteilung bekannt:

Der Stabsstelle Intervention des Erzbistums Köln liegen Meldungen zu einem verstorbenen Priester vor. Deshalb wendet sie sich nun an den ehemaligen Einsatzorten des Priesters mit einem Aufruf an mögliche, bisher unbekannte Missbrauchsbetroffene. Bei dem Priester handelt es sich um den im Februar 2019 verstorbenen Pfarrer P. Er wird beschuldigt, einen schutzbedürftigen Erwachsenen in den 70er-Jahren sexuell missbraucht zu haben.

In der Pressemitteilung steht, was intern seit Jahren aktenkundig ist: Ein Mann hat Pilz im Jahr 2012 beschuldigt, ihn in den 70er-Jahren  missbraucht zu haben. Später heißt es, er soll ein Angestellter von Pilz gewesen sein. Weiter heißt es: Der damalige Kölner Erzbischof Meisner habe Pilz 2014 einen Verweis erteilt und ihm den Kontakt zu Minderjährigen ohne Anwesenheit weiterer erwachsener Personen verboten. Im Rahmen der Aufarbeitung des Erzbistums Köln sei der Fall 2018 der zuständigen Staatsanwaltschaft nachgemeldet worden, aufgrund bereits eingetretener Verjährung nahm sie keine Ermittlungen auf. Und, so die Pressemitteilung:

Im Jahr 2021 ergaben sich Hinweise auf mögliche weitere Betroffene, welchen die Stabsstelle Intervention nachgegangen ist. Da P. zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben war und seine Tätigkeit sich weit über das Erzbistum Köln hinaus erstreckte, wiesen die notwendigen Recherchen eine hohe Komplexität auf.

Vorwürfe jahrelang nicht bekannt
Die Mitteilung wirft Fragen auf.  Im Februar 2014 endete die Amtszeit von Joachim Meisner, das Strafdekret gegen Winfried Pilz dürfte eine seiner letzten Amtshandlungen gewesen sein. Am 20. September 2014 trat Rainer Maria Woelki das Amt als Erzbischof von Köln an. Pilz lebte zu dieser Zeit im Bistum Dresden-Meißen. Warum wussten die Sternsinger und das Bistum Dresden jahrelang nichts von den Vorwürfen und dem Strafdekret?
Das Gutachten der Kanzlei Gercke-Wollschläger, das 2021 veröffentlicht wurde, dokumentiert aktenkundige Missbrauchsfälle im Erzbistum Köln. Wieso kommt der Fall Pilz im Gercke-Gutachten nur in wenigen Zeilen vor – unter den Aktenvorgängen „ohne/mit nicht sicher festgestellten Pflichtverletzungen“? Und was sind das für neue Hinweise, die 2021 angeblich plötzlich auftauchten?  
Zumindest in einem Punkt wird das Erzbistum später deutlich: Rainer Maria Woelki hat nichts falsch gemacht. Zwei eidesstattliche Erklärungen legt der Kardinal im Rahmen eines presserechtlichen Verfahrens gegen die "BILD"-Zeitung vor. In der ersten vom 4. August heißt es merkwürdig passivisch formuliert:

Ich wurde mit dem Fall Pilz durch das Erzbistum Köln erst in der 4. Juniwoche 2022 befasst, indem mir mitgeteilt wurde, dass in einer Wiederaufarbeitung des Falles durch die zuständige Stelle des Erzbistums Köln öffentliche Informationen und Aufrufe durchgeführt werden.

Und dann noch einmal in derselben Eidesstattlichen Erklärung:

Auch unabhängig von einer Befassung durch das Erzbistum Köln habe ich mich vor der 4. Juniwoche 2022 auch nicht aus anderen Gründen mit dem Fall Pilz und/oder diesbezüglich zu treffenden Maßnahmen befasst.

Recherchen: Hinweise auf Betroffene gingen früher als bekannt an das Erzbistum

In einer gemeinsamen Recherche gehen "Christ&Welt" und der Deutschlandfunk den offenen Fragen im Fall Pilz nach. Wir konnten mit Zeitzeugen und Weggefährten sprechen und haben interne Bistumsunterlagen eingesehen. Die Recherchen zeigen: Das Erzbistum hat offenbar früher als bislang bekannt Hinweise auf weitere Missbrauchsbetroffene im Fall Pilz erhalten. Es gibt zudem Anhaltspunkte dafür,  dass auch Kardinal Woelki möglicherweise, anders als von ihm eidesstattlich versichert, bereits Wochen vorher über Missbrauchsvorwürfe gegen Pilz im Bilde gewesen ist. Das legt ein Brief vom 6. Mai 2022 nahe, der dem Deutschlandfunk und "Christ & Welt" vorliegt. Er stammt von Woelkis Büroleiterin. Der Adressat: Matteo Schuster. In dem Brief heißt es:

Der Herr Kardinal bat mich bei Ihnen anzufragen, ob sie am Montag, dem 27. Juni 2022 um 9.20 Uhr die Möglichkeit hätten, zu einem Gespräch in das Erzbischöfliche Haus zu kommen. An diesem Termin wird Herr … aus der Interventionsstelle anwesend sein.

Das bedeutet: Woelki lädt einen möglichen Betroffenen im Fall Pilz zu einem Zeitpunkt zum Gespräch ein, als er selbst damit noch gar nicht befasst gewesen sein will. Das lässt jedenfalls erhebliche Zweifel an der offiziellen Darstellung des Erzbistums sowie Woelkis eidesstattlicher Erklärung aufkommen. In einem Gerichtsverfahren eine falsche eidesstattliche Versicherung abzugeben, hätte schwere Konsequenzen. Kann es sein, dass der Kardinal des mitgliederstärksten deutschen Bistums einen Termin anberaumen lässt samt Mitarbeiter aus der Interventionsstelle, aber sich nicht damit beschäftigt hat, um welchen beschuldigten Priesterkollegen es gehen soll? Wann beginnt es denn, dass sich jemand mit einem Fall „befasst“?
Die Frage, ob Woelki angesichts dieser Umstände nicht doch schon im Mai 2022 von den Beschuldigungen gegen Pilz wusste, verneint das Erzbistum auf Anfrage und führt aus: "Die von Ihnen dargestellten Umstände führten damit nicht zu einer früheren Befassung des Herrn Kardinal Woelki mit Pilz. Erst in der vierten Juniwoche wurde Herrn Kardinal Woelki mitgeteilt, dass S. Vorwürfe gegen P. erhebt.“  
Den vereinbarten Termin in der vierten Juniwoche können jedoch weder der Kardinal noch Matteo Schuster wahrnehmen. Woelki hat Corona und Schuster ist schon zu krank, um ins Erzbischöfliche Haus zu kommen.

Schuster wendet sich an das Erzbistum Köln - lange ohne Reaktion

Matteo Schuster ist nicht der Betroffene, von dem in der Pressemitteilung des Erzbistums die Rede ist. Er ist mutmaßlich ein weiteres Opfer von Pilz. Schon Monate vor der Einladung habe er sich ans Erzbistum Köln gewandt und der dortigen Ansprechperson von Pilz berichtet, sagt er. Dass Schuster dort war, bestätigt seine Cousine. Sie fuhr ihn mit ihrem Auto im Winter zu zwei Terminen beim Erzbistum - und wartete draußen. Danach geschehen sei lange: nichts.  
Also meldet sich Matteo Schuster Ende März 2022 beim Deutschlandfunk. Am Telefon behauptet er, von Pilz vergewaltigt worden zu sein. Damals weiß er noch nichts von seiner tödlichen Diagnose. Er muss danach öfter stationär behandelt werden, ruft zwischendurch an. Es gehe ihm schlecht, sagt er dann, er drängt auf ein persönliches Gespräch. "Kommen Sie in Krankenhaus", sagt er. Wir vereinbaren den 18. Juli.
Etwa 15 Jahre habe er als Ikonenmaler in Haus Altenberg gelebt, erzählt er auf dem Krankenbett. Pilz war Rektor. Matteo Schuster erhebt schwere Anschuldigungen gegen ihn: "Ich muss ganz ehrlich sagen, das fing damit an, dass er wohl mich gemocht hat und ich überall, wo was los war, mit dabei war. Zum Beispiel Fahrten nach Rom, nach Assisi. Dass ich das Zimmer, das mein Zimmer komischerweise immer anliegend an seinem Zimmer gebucht war. Und er immer vor allen Dingen, wenn er betrunken war, versucht hat, sich an mich zu nähern. Aber da in diesen Begegnungsstätten ist das nicht passiert, sondern in Haus Altenberg. Wo er mich betrunken gemacht hat und … ich will darüber nicht reden. Ganz, ganz furchtbar. Zweimal war das gewesen, hintereinander." 
Zweimal soll Pilz ihn vergewaltigt haben. Krankenhausreif, sagt er. Ob das zutrifft, konnte bislang nicht aufgeklärt werden. Am Tag nach dem Gespräch, am 19. Juli, wird Matteo Schuster ins Hospiz verlegt. Immer an seiner Seite: Seine Cousine, bei der er seit mehr als 20 Jahren wohnt. „Mein Matteo“, nennt sie ihn. Sie stellt Fotos auf den Nachttisch, eines zeigt Matteo Schuster zusammen mit Papst Johannes Paul II., auf einem anderen steht er vor einem Altarbild, das er gemalt hat.

Kardinal Woelki kommt zu Besuch ins Hospiz

Drei Wochen nach dem Umzug ins Hospiz klingelt ihr Telefon. Ein Mitarbeiter des Erzbistums ist am Apparat. Einer von der Missbrauchsstelle, sagt sie. Der Kardinal komme morgen ins Hospiz, sagt der Mann. Er wolle Matteo Schuster besuchen. Am Tag danach rollt tatsächlich eine Limousine mit Fahrer vor. Rainer Maria Woelki steigt aus, er trägt einen schwarzen Anzug und ein Hemd mit Priesterkragen, erinnert sich die Cousine. Als Privatmann sei er da, habe er der verblüfften Hospizleitung gesagt. Eine gute Stunde habe der Erzbischof am Bett ihres Matteo gesessen, erzählt die Cousine. Was sie bereden, bleibt vertraulich.
Rainer Maria Woelki hatte am 23. September 2018 in seiner Videobotschaft erklärt: "Unser Kölner Erzbistum wird sich der Wahrheit stellen, auch dann, wenn diese schmerzlich ist. Und dazu gehört es, ungeschönt und ohne falsche Rücksichten aufzuklären. Das wird wahrscheinlich sehr schmerzhaft, auch für uns selbst."
Das Gutachten, das Woelki in dem Video ankündigt, bleibt unveröffentlicht, statt dessen bestellt das Erzbistum einen neuen Gutachter, den Strafrechtler Björn Gercke. Bis heute bebt diese Entscheidung aus dem Jahr 2020 nach.
Gerade in jener Augustwoche, in der er das Hospiz besucht, steht Woelki besonders in der Kritik. Ein Artikel im "Kölner Stadtanzeiger" zitiert aus internen Papieren zur PR-Strategie, aus denen hervorgehen soll, dass im Zuge des Gutachterwechsels Missbrauchsbetroffene benutzt worden seien, um dem angeschlagenen Erzbischof Glaubwürdigkeit zu beschaffen. Woelki steht als jemand da, der Empathie auf Bestellung heuchelt, nur um im Amt zu bleiben. Und ausgerechnet am 11. August, also kurz, nachdem dieser Artikel erschienen ist, besucht der Kardinal höchstselbst einen Mann, der beim Erzbistum einen prominenten Kölner Priester beschuldigt hat? 

Erzbistum Köln bleibt vage

Das Erzbistum bestätigt, dass Rainer Maria Woelki am 11. August Matteo Schuster im Hospiz besuchte, auf dessen ausdrücklichen Wunsch hin, das Gespräch sei ein priesterliches und daher vertraulich gewesen. Den umfangreichen Fragenkatalog zu dem hier geschilderten Sachverhalt, den "Christ&Welt" und der Deutschlandfunk eingereicht haben, beantwortet die Pressestelle des Erzbistums nur teilweise. Die Beantwortung der meisten Fragen sei aus rechtlichen Gründen nicht möglich, werden wir belehrt. In der Stellungnahme heißt es:
Eine Beantwortung ist datenschutzrechtlich deshalb unzulässig, weil damit personenbezogene Daten übermittelt oder abgeglichen würden. Die Fragen berühren zudem Missbrauchsschilderungen von Betroffenen, die zur absolut geschützten Intimsphäre der Betroffenen zählt, so dass eine Beantwortung der Fragen auch deren (postmortales) Persönlichkeitsrecht verletzen würde. Ein Teil der Fragen kann zudem nicht beantwortet werden, da eine Beantwortung die seelsorgerische Verschwiegenheitspflicht des Priesters zum seelsorgerischen Gespräch (z.B. bei der Sterbebegleitung) verletzen würde. Der vierte Grund ist, dass  oftmals schwer traumatisierte Betroffene, die sich an das Erzbistum wenden, darauf vertrauen, dass das Erzbistum die oft schmerzhaften Gesprächsinhalte nicht einfach Dritten auf Anfrage offenbart.“
Kardinal Rainer Maria Woelki besucht den Altenberger Dom, um die Wallfahrt der Erzbischöflichen Schulen nach Altenberg zu eröffnen. Nach einer Auszeit ist der Kardinal zurück im Erzbistum Köln.
Nach dem Ende seiner Auszeit im März 2022 besucht Kardinal Rainer Maria Woelki im Mai en Altenberger Dom, um die Wallfahrt der Erzbischöflichen Schulen nach Altenberg zu eröffnen (Imago / Panama Pictures / Christoph Hardt)
Ist es wahrscheinlich, dass derart gravierende Beschuldigungen gegen einen prominenten Geistlichen monatelang auf der Arbeitsebene bleiben und den Erzbischof nicht erreichen? Erst in der vierten Juniwoche will Rainer Maria Woelki nach eigenen Angaben mit dem Fall befasst gewesen sein. Wie aber passt diese Angabe zum Brief an Matteo Schuster vom 6. Mai?  In der Einladung wird ein Referent der Interventionsstelle als Teilnehmer genannt. Es liegt der Verdacht nahe, dass der „Herr Kardinal“ zum Zeitpunkt der Einladung zumindest wusste, dass es um Missbrauchsbeschuldigungen gegen Winfried Pilz ging. Warum sonst die Einladung zum persönlichen Gespräch im Erzbischöflichen Haus? Hätte Woelki das aber im Mai bereits gewusst, so  hätte er eine falsche eidesstattliche Erklärung abgegeben - also  möglicherweise eine Straftat begangen.

Schuster: ein Leben mit Misshandlung, Missachtung, Missbrauch

Matteo Schuster hat sich unter anderem deshalb beim Deutschlandfunk gemeldet, weil er den Eindruck hat, dass ihm die Ansprechpersonen zwar zuhören, aber nichts geschieht. Dieses Gefühl kennt er gut. Matteo Schuster ist Jahrgang 1956, schon als Kind wurde er Opfer eines klerikalen Täters. Seinen Eltern, der Vater Sinto, die Mutter Jüdin, beide KZ-Überlebende, trauten die Behörden die Erziehung nicht zu. Er wuchs in einem kirchlichen Heim auf.
"Das Schlimmste, was ich vor allen Dingen in der Kindheit erlebt habe, ist im Kinderheim gewesen. also wo ich sieben, acht Jahre war und Messdiener wurde. Wo der Pfarrer mich mehr oder weniger, ja, sexuell missbraucht hat. Und das Schlimmste war dann, wo dies geschehen ist und ich dann das den Nonnen erzählt hatte, dass ich dann richtig zusammengeschlagen worden bin. Das kann ja nicht sein, dass ich von einem Ihrer Priester vergewaltigt worden bin. Ich hab das zwar gezeigt, in der Unterhose, es war alles voll Blut, aber das interessiert die nicht.“
Dem Heimkind glaubte niemand. Jahrzehnte später, nachdem 2010 alle Medien über sexualisierte Gewalt in kirchlichen Häusern berichteten, meldet er sich beim zuständigen Bistum Aachen. Dort wird er als glaubwürdig eingestuft. 10.00O Euro bekommt er als Anerkennung des Leids bewilligt. „Erzwungener Analverkehr mit noch heute sichtbaren Verletzungen“, steht über seinen Fall in den Akten.
Misshandlung, Missachtung, Missbrauch. Eine grausame Kindheit und Jugend habe er gehabt, sagt er. Eine Lehre bricht er ab, zieht durchs Land, kommt bei einem Professor in Süddeutschland unter, der ihm das Malen beibringt. Und dann lernt er Winfried Pilz kennen. Wipi nennen ihn die Fans. Und bald hat auch Matteo Schuster einen Namen: „Wipis Zigeuner“. Pilz gab Schuster ein Dach über dem Kopf, angeblich weil er begeistert war von seinen Ikonen.
"Da war so ein Projekt, das er da anstrebte, Projekt Küchenhof. Da waren also viele Heranwachsende, vor allen Dingen männliche Jugendliche, die im Grunde ihr Leben nicht richtig bestritten hatten und er sich darum gekümmert hat um die Leute. Er hat mich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, im Küchenhof zu arbeiten, bzw. als Ikonenmaler zu arbeiten. Ich habe als Ikonenmaler gearbeitet und auch Ikonen verkauft." Journalistin: "Wie hat er sich Ihnen gegenüber verhalten?" - "Im Grund ganz normal, fast freundschaftlich. Das hat mir imponiert. Ich war wer, der Ikonenmaler."

Pilz machte junge Männer finanziell und emotional abhängig

Winfried Pilz gibt im Projekt Küchenhof jungen Männern mit gebrochenen Biografien eine Aufgabe. Diese Art von kirchlicher Sozialarbeit ist damals neu. Pilz wird jesusgleich verehrt, denn er hat ein Herz für Menschen am Rande. Aber er machte diejenigen, die er auffängt, auch finanziell und emotional abhängig von sich. Junge Männer wie Matteo konnten nicht einfach nein sagen. Sie hätten nicht einfach gehen können, wenn er ihnen Schlimmes angetan hätte. Pilz ist als Rektor ein mächtiger Mann.
Das erste Mal habe er sich 1988 ans Erzbistum Köln gewandt, erzählt Matteo Schuster. Damals habe er einem Weihbischof die Sache mit Wipi erzählt. Und auch, dass er selbst nicht der einzige Pilz-Betroffene gewesen sei. Da habe es noch diesen Schafshirten gegeben. Der habe sich später das Leben genommen. Wegen Pilz, so seine Vermutung. Der Weihbischof sei wütend gewesen nach dem Gespräch: "Er war sehr aufgeregt und böse darüber." Journalistin: "Aber nicht auf Sie, sondern auf Pilz?" - "Er wollte den Pilz zur Rede stellen, was er anscheinend nicht getan hat."
1989 verließ Pilz Altenberg und wurde Pfarrer in Kaarst bei Düsseldorf. Seine ehemalige Kirche steht in Sichtweite zum Hospiz. Auf die Frage, ob man seinen Hinweisen von 1988 nachging, antwortet das Erzbistum auf Anfrage: "Dem Erzbistum Köln liegen keine Unterlagen über eine Meldung gegen Monsignore P. aus dieser Zeit vor." Doch der Deutschlandfunk und "Christ&Welt" konnten Unterlagen einsehen, aus denen hervorgeht, dass Verantwortliche im Erzbistum auch späteren Hinweisen des in der Pressemitteilung genannten Betroffenen zu Pilz in der Vergangenheit nicht hinreichend nachgingen.

Pilz: "Zwischen jungen Männern und Priestern geht es unbefangener zu"

Winfried Pilz wurde im Juni 2012 im Zusammenhang mit den Beschuldigungen seines ehemaligen Angestellten vernommen. Befragt wurde er vom damaligen Personalchef des Erzbistums Köln und der damaligen Justiziarin. Der Personalchef duzt den Beschuldigten mitbrüderlich. Pilz gesteht in dieser Befragung zunächst nur Umarmungen ein. Dann die Nachfrage, ob es sein könne, "dass es im Rahmen dieser Umarmung auf der Bettkante auch schon einmal zu einer sexuellen Erregung gekommen ist?" Pilz antwortet: "Ja, das passiert dann halt schon so mal. Das will ich nicht ausschließen. Aber wollen wir da jetzt wirklich weiter im Detail drüber reden? Das ist mir etwas unangenehm."
Ob man festhalten dürfe, "dass diese Umarmungen eben leicht auch sexueller Art war?" Pilz bestätigt. Auf die Frage, ob es noch weitere derartige Situationen gegeben habe, antwortet Pilz: "Ich möchte da nicht mühsam überlegen, wer da noch gewesen sein könnte. Ich schlage vor, wenn sich da jemand meldet, dass sie mir das dann sagen. Ich möchte doch noch einmal sagen, dass es zwischen jungen Männern und Priestern doch etwas unbefangener zugeht."
Grafik zeigt Chronik um Missbrauchsvorwürfe gegen Winfried Pilz
Der Fall Winfried Pilz (Deutschlandradio / Andrea Kampmann)
Pilz berichtet, dass es ihm leidlich gut gehe, und beichten gehe er auch. Eine weitere Anhörung gibt es nicht, obwohl Pilz in seiner Anhörung weitere grenzüberschreitende Situationen nicht ausdrücklich ausschließen kann. So also sieht kirchliche Aufklärung 2012 aus - zwei Jahre nachdem der Missbrauchsskandal am Berliner Canisius-Kolleg ans Licht kam und die deutschen Bischöfe gelobt hatten, jeden Verdachtsfall schonungslos aufzuklären. Dabei wäre bei einer Einrichtung wie dem Haus Altenberg besondere Fürsorge geboten gewesen - zumal 2014 ein anonymer Sprayer auf einer Mauer in Altenberg den Satz schrieb: "Winfried Pilz hat mich zur Hure gemacht."
Pilz bekommt 2014 das Strafdekret nur für diesen einen Fall, die Akte wird danach geschlossen - bis zur Pressemitteilung von Ende Juni 2022. Derzeit untersuche die Stabsstelle Intervention den Fall Pilz.

Begründete Zweifel an Aussage Woelkis

Ungeschönt und ohne falsche Rücksicht, wollte Rainer Maria Woelki aufklären. Offenbar gibt es aus erzbischöflicher Perspektive richtige Rücksichten. Vielleicht wegen der Prominenz des Beschuldigten, wegen der Magie des Altenberger Lichts, wegen der Angst, da könnte ein vermeintlich kaum sichtbarer Abgrund ganz tief werden. Der Erzbischof hat nichts gewusst, nichts geahnt - so lautet die offizielle Ansage zum Fall Pilz. Jetzt stehen begründete Zweifel im Raum.
Matteo Schuster verzieht im Krankenhaus oft vor Schmerzen das Gesicht. Aber es geht, sagt er. Er denkt am Ende des Gesprächs an den Freund, der sich das Leben nahm. "Für mich war am schlimmsten, dass ich geglaubt habe, in Pilz einen netten, guten Freund kennengelernt zu haben. Nachdem, was ich so erlebt habe, in meiner Biografie. Und dann einsehen musste, dass es gar nicht so ist. Das ist so ziemlich das Schlimmste. Deshalb konnte ich das nachvollziehen mit dem (Name des Freundes), der sehr wahrscheinlich so ähnlich wie ich geglaubt hatte, wie ich, da steckt eine große Freundschaft dahinter und eben  nicht nur als Sexualobjekt."
Eine Christusikone hat er begonnen zu malen, Bekannte haben sie bei ihm bestellt. Sie bleibt unvollendet.