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Wohin mit dem Atommüll?

In Frankreich wächst der Unmut über die Informationstaktik der Regierung in Sachen Atommüll. Entscheidungen werden undemokratisch gefällt, über Gefahren wird nicht informiert. Immer mehr Protest formiert sich gegen ein geplantes Endlager in der Nähe von Bure - nur 150 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt.

Von Suzanne Krause | 28.05.2013
    Vergangenen Donnerstagabend in Bure, einem abgeschiedenen Dorf in Lothringen. Vom Festsaal, einem schicken Neubau oberhalb der 93-Seelen-Gemeinde, hat man einen herrlichen Blick über die idyllische Landschaft, über Felder und Wälder. Auf dem Vorplatz spielen zwei Dutzend bunt gekleidete Demonstranten auf. Sie sind umringt von zahlreichen Polizisten. "Keinen Atommüll nach Bure", stimmen sie entschlossen an.

    Nicht weit von hier, in zwei Kilometer Entfernung, hinter dem nächsten Hügel, liegt seit einem guten Jahrzehnt das unterirdische Forschungslabor, in dem die geologische Entsorgung mittel- und hoch radioaktiven Mülls in Tongestein untersucht wird. Und nicht nur das. In dieser Gegend soll demnächst auch ein atomares Endlager entstehen. Was hier eingelagert werden soll, entspricht zwar lediglich drei Prozent der gesamten französischen Atomabfallmenge, aber dieser Müll enthält 99 Prozent der gesamten Radioaktivität.

    Cigéo wurde die geplante Anlage getauft. Cigéo steht für: umkehrbares geologisches Endlager für radioaktiven Abfall in den Départements Meuse und Haute-Marne.

    Bevor der Bauherr und Betreiber, die staatliche Agentur für Atomabfall ANDRA, den Genehmigungsantrag stellen kann, muss, so ist es gesetzlich vorgeschrieben, das Projekt öffentlich diskutiert werden. Bis Mitte Oktober sind dazu landesweit vierzehn Veranstaltungen geplant. Die Durchführung unterliegt der sogenannten "nationalen Kommission der nationalen Debatte".

    Als Kommissionsleiter Claude Bernet pünktlich um sieben Uhr die Veranstaltung in Bure eröffnet, drängen sich 200 Menschen im überfüllten Saal. Für die Diskussion sind drei Stunden anberaumt. Bürgermeister Gérard Antoine begrüßt die Anwesenden zu dieser Auftaktveranstaltung.

    "Ich wünsche, dass jeder seine Meinung frei äußern kann, dass umfassend und friedlich diskutiert wird."

    Ein Wunsch, den einige im Saal hörbar nicht teilen. Ein Teilnehmer nennt die Gründe für seinen Unmut:

    "Eine Schande ist das, hier sind alle gegen das Endlager."

    "Wir leben in dieser Region, und die in Paris maßen sich an für uns zu entscheiden!"

    "Mit Demokratie hat das nichts zu tun!"

    "Wir haben die Nase voll. Seit Jahren bringen wir all unsere Argumente vor und keiner reagiert darauf. Jetzt wollen Sie uns heute das Wort erteilen. Schön und gut, wir können noch einmal erzählen, was wir alles auf dem Herzen haben. Aber ein Mitspracherecht bei den Entscheidungen haben wir nicht."

    Um Viertel nach sieben erklärt der Kommissionsleiter die Veranstaltung für beendet. Die Stimmung im Saal ist gereizt. Ein Besucher, Ingenieur im Werk eines deutschen Autobauers in der Region, kann die Wut der Demonstranten gut verstehen.

    "Erst war das ein Labor zum Testen, irgendwann ist das kein Labor mehr gewesen, ohne dass wir das klar erfahren haben. Und jetzt sprechen sie nicht mehr von Müll, was man in die Erde eingraben will, sondern auch Müll, der auch auf der Oberfläche bleibt."

    Früher, erzählt der Mittvierziger, sei er keineswegs gegen Atomkraft gewesen. Mittlerweile schon.

    "Das ist keine Demokratie, und nur deswegen bin ich dagegen. Ich habe anfangs nichts gegen Atomkraft gehabt, aber wie sie das machen und wie das in Frankreich behandelt wird, klar, das ist keine Demokratie."

    Der Tumult vergangene Woche in Bure erinnert an die heftigen Protestaktionen in anderen französischen Regionen vor nunmehr 25 Jahren. Bereits Ende der 1980er-Jahre begann man mit der Suche nach einem Atommülllager. ANDRA, die für die atomare Entsorgung zuständige staatliche Einrichtung, setzte auf eine unterirdische Deponie. Doch wo immer man einen Standort als geeignet ansah, legte sich landauf, landab die Bevölkerung quer, kippten Landwirte den Präfekten Gülle vor ihren Amtssitz.

    Anfang 1990 beschloss der damalige Premierminister Michel Rocard ein Moratorium und beauftragte den Abgeordneten Christian Bataille, einen Gesetzentwurf zur atomaren Entsorgungsstrategie auszuarbeiten. Ende Dezember 1991 wurde dann im französischen Parlament die sogenannte "Loi Bataille" verabschiedet.

    Corinne Lepage ist das Thema vertraut: 1995 war sie Umweltministerin in der konservativen Juppé-Regierung. Lepage, heute Europa-Abgeordnete, ist bekannt für ihren kritischen Blick auf die einheimische Atompolitik.

    "Es dürfte Ihnen nicht entgangen sein, dass Frankreich, was das Thema Atomkraft anbelangt, kein demokratisches System aufweist. Das Parlament hatte beim Nuklearprogramm von Anfang an kein Mitspracherecht."

    Denn die zivile Kernkraftnutzung in Frankreich, die zu Beginn der 1970er-Jahre startete, entspringt dem militärischen Atomprogramm. Und das war von jeher Chefsache. In der Hand des Staatspräsidenten.

    "Die "Loi Bataille" bot 1991 den Politikern die allererste Gelegenheit, sich einzubringen. Ausgerechnet zum Thema Entsorgung. Denn natürlich möchte niemand für die nächsten Jahrhunderte eine Atommüllkippe vor der Haustür haben. Da musste also eine Lösung her, gewissermaßen auferlegt werden. Und das bedarf einer Art demokratischer Salbung."

    Das Entsorgungsgesetz von 1991 schreibt 15 Jahre Forschung vor, um konkret Entsorgungslösungen zu bestimmen. Drei Optionen sollen untersucht werden:

    Die geologische Entsorgung, also ein unterirdisches Endlager. Eine oberirdische Atommüll-Anlage. Die Volumenverringerung stark radioaktiven Materials, dank der Verfeuerung in künftigen Reaktoren.

    ""Dabei dachte man an den Schnellen Brüter in Creys-Malville. Doch der wurde zwischenzeitlich glücklicherweise dichtgemacht. Was nun die Oberflächenlagerung anbelangt – da hat die französische Atomlobby nie mitgespielt. Und so wurde diese Option nie untersucht. Also blieb nur die unterirdische Lagerung. Da sah das Gesetz vor, drei unterschiedliche Gesteinsformationen auf ihre Tauglichkeit zu testen."

    Beispielsweise im lothringischen Tongestein. Die Verantwortlichen der dortigen Departements Meuse und Haute-Marne erklärten sich 1994 mit der Ansiedlung eines Forschungslabors einverstanden.

    "Vergeblich suchte die grüne Umweltministerin Dominique Voynet 1998 andere potenzielle Standorte. Die Abgeordneten, die für Bure stimmten, waren dieselben, die sich in ihrer Region gegen jegliche Atommüllkippe aussprachen."

    Von den im Gesetz postulierten drei technischen Optionen und den drei möglichen Standorten für eine unterirdische Lagerung, sagt Corinne Lepage, ist also nur eine einzige Lösung, ein einziger Standort übrig geblieben.

    "Das ist nicht tragbar, denn es entspricht nicht der gesetzlichen Vorlage."

    2004, vier Jahre nach dem ersten Spatenstich nahe Bure, sind die Grubenarbeiter in 490 Meter Tiefe angelangt, mitten in einer breiten Tonschicht. Hier entsteht das unterirdische Forschungslabor von ANDRA. Eine Milliarde Euro hat es bislang verschlungen; die Gelder kommen von den drei Säulen der französischen Atomlobby: dem Stromproduzenten EDF, dem Kommissariat für Atomenergie CEA und dem Nuklearindustrie-Multi AREVA, dem Atommüll-Produzenten.

    Sarah Dewonck leitet den wissenschaftlichen Betrieb der ANDRA-Anlage bei Bure.

    "Wir haben das Glück, mit allen französischen Universitäten und unzähligen Experten-Teams aus den unterschiedlichsten Bereichen im In- und Ausland zusammenarbeiten zu können. Es stimmt, wir verfügen hier über ein Labor, um das uns viele beneiden, auch im Ausland."

    Ende 2005 organisierte die "nationale Kommission für die nationale Debatte" erstmals öffentliche Veranstaltungen zum Thema atomare Entsorgung. Als Vorbereitung für ein Gesetz zur Standortbestimmung. Mangels Alternativen kam da nur die Gegend rund um Bure infrage.

    Corinne Lepage sprach sich schon damals dagegen aus, den Atommüll zu verbuddeln. Ob nun in Bure oder andernorts.

    "Ich weiß noch, wie ich vor sieben, acht Jahren in der Meuse mit der dortigen Bevölkerung demonstriert habe: Sie verlangte ein Referendum zur Standortwahl. Aber das wurde ihr nie bewilligt."

    Eine entsprechende Petition in den dünn besiedelten und strukturschwachen Départements sammelte rund 55.000 Unterschriften. In Paris interessierte das jedoch niemanden.

    Im Juni 2006 schrieb das französische Parlament gesetzlich fest, hoch radioaktiven Müll in einem "umkehrbaren geologischen Endlager" zu entsorgen. Gleichzeitig wurden neue Mittel zur Strukturförderung der wirtschaftlich benachteiligten Départements Meuse und Haute-Marne bewilligt. Mittlerweile beläuft sich das Volumen auf 30 Millionen Euro, pro Jahr, pro Département.

    Jean Pierre Remmele ist Bürgermeister von Bonnet, einem Dorf nahe Bure. Tief unter dem Land der Gemeinde könnten mal vierzig Prozent des Endlagers liegen. Remmele ist erklärter Cigéo-Gegner.

    "Ich habe keine Probleme damit zuzugeben, dass meine Gemeinde mit ihren knapp 220 Einwohnern seit drei, vier Jahren pro Kopf jährlich 500 Euro erhält, ohne dass ich irgendetwas beglaubigen müsste. Da kommt einmal jährlich ein Schreiben von der Staatskasse; ich glaube, meine Sekretärin vermerkt das im Computer. Ich erinnere mich nicht einmal daran, ob ich den Erhalt quittieren muss. Und bumm, landet das Geld einfach so auf dem Gemeinde-Konto."

    Manch einer in der Gegend spricht davon, mit solchen Methoden würde das Gewissen der lokalen Volksvertreter erkauft. Ein Vorwurf, den Marie-Claude Dupuis, Generaldirektorin der Atommüll-Agentur ANDRA weit von sich weist.

    "Bei der aktuellen öffentlichen Debatte geht es vor allem um eins: Sind die hiesigen Bewohner bereit, in ihrer Gegend das Endlager anzunehmen - eine Einrichtung, die unerlässlich ist für den französischen Atomzweig und in gewissem Sinne auch für die französische Gesellschaft? Und zu welchen Bedingungen sind sie dazu bereit? Und wenn jemand behauptet, wir würden Gewissenskauf betreiben, sagte ich entschieden: nein. Die Strukturförderung gehört zum Projekt. Ein Teil des Projekts dreht sich um die industrielle Seite, um das Endlagerproblem zu lösen. Der zweite Teil betrifft die regionale Strukturförderung. Damit das Endlager, das allen Franzosen nützlich ist, auch der hiesigen Bevölkerung Vorteile bringt. Das ist doch das Mindeste."

    Bürgermeister Remmele hat solche Argumente auch schon vom hiesigen Präfekten gehört.

    "Als der Präfekt für das Département Meuse sich im Januar 2010 mit den vier Bürgermeistern traf, deren Gemeindegebiete für das Endlager damals in Frage kamen, habe ich ihm gesagt: Herr Präfekt, das ist nun wirklich das allererste Mal, dass ich registriere, dass ein Industriebetrieb vor seiner Ansiedlung den Geldkoffer auf den Tisch stellt. Normalerweise muss die Gemeinde erst einmal eine Straße zum geplanten Standort bauen, den Baugrund stellen, auf Gemeindekosten das Gebäude errichten, das der Industriebetrieb anfangs nur mieten kann. Und zudem zahlt der Betrieb die ersten fünf Jahre keine Steuern. Bei Cigéo hingegen läuft das völlig anders. Dabei ist bislang vom Atommüll weit und breit noch nichts zu sehen."

    Die Atommüll-Agentur ANDRA betont, sie setze seit Jahren auf den Dialog mit der Bevölkerung. Und auf Transparenz.

    2009 weihte sie in unmittelbarer Nähe zum unterirdischen Forschungslabor eine schicke Empfangshalle ein als Informations-Anlaufstelle für die Bevölkerung. Zudem sind die Forschungsberichte im Internet einsehbar. 4000 Seiten Dokumente, die Bernard Thuillier aufmerksam studierte. Thuillier lebt 120 Kilometer von Bure entfernt. Und er ist nicht nur Ingenieur, sondern verfügt gleichfalls über eine wissenschaftliche Ausbildung. Beim Studium der ANDRA-Akten stieß Thuillier auf die potenziellen Risiken beim Anlagenbetrieb. Gefahren, die viele Industriebetriebe kennen, die aber angesichts des speziellen radioaktiven Umfelds zu katastrophalen Folgen führen können. Über diese Risiken hatte der Betreiber bis dato die Bevölkerung nicht aufgeklärt.

    So besteht eine nicht unerhebliche Brandgefahr in der unterirdischen Anlage. Aus den Atommüll-Containern könnten gefährliche Gase austreten; Wasserstoff kann zu Explosionen führen. Die wissenschaftlichen Enthüllungen sorgten 2012 für Schlagzeilen. Seither versichert ANDRA öffentlich, an Lösungen zu arbeiten. Bernard Thuillier:

    "Ich bin sehr unbefangen daran gegangen, die ANDRA-Unterlagen zu studieren. Aber mittlerweile ist mir eines klar geworden, dank anderer Probleme, die derzeit Frankreich erschüttern. Ich denke da an den Prozess bezüglich des Medikaments Mediator, das zu Hunderten von Todesfällen führte. Die Experten, die da vernommen werden, gehören häufig zum geschlossenen Kreis dieser wissenschaftlichen Welt. Sie verfügen zweifelsohne über viel Sachkenntnis. Aber ob sie sich kritisch äußern können, ist fraglich. Ich gehöre nicht zu der Atomlobby. Das erlaubt mir, einen kritischen Blick auf das Ganze zu werfen."

    Bis zum ersten Spatenstich für das Endlager Cigéo, derzeit geplant für das Jahr 2019, hat ANDRA noch einige bürokratische Hürden zu nehmen.

    2015 soll ANDRA den Antrag auf Baugenehmigung einreichen. Vor dessen Erteilung muss der Betreiber 2018 noch eine öffentliche Anhörung durchführen. Im Parlament wird derzeit ein Gesetz zur Umkehrbarkeit der Endlagerung vorbereitet.

    Derzeit ist die Rede von einer 100-jährigen Rückholbarkeit der Atommüll-Container. Für den Fall, dass kommende Generationen bessere Methoden des Umgangs mit mittel- und hoch radioaktivem Abfall entwickeln.

    Der strahlenaktivste Müll wird mit Glas verschmolzen. Die Atomaufsichtsbehörde ASN erklärte 2006, diese Entsorgungsmethode sei, aus Gründen der Sicherheit und der Kosten, als endgültig zu betrachten.

    Mit der kürzlich gestarteten öffentlichen Debatte zu Cigéo soll ein Stimmungsbild ermittelt werden. Bürger und Experten sollen ihre Meinung zu Themen wie dem exakten Standort oder dem Transportsystem für die Atommüll-Anlieferung beisteuern. Beiträge dazu werden auch aus dem Ausland kommen.

    Auch wenn der Standort Bure über 120 Kilometer von unseren Landesgrenzen entfernt liegt, berührt ein solches Projekt doch die vitalen Interessen unserer Bürgerinnen und Bürger.

    Verkünden Mitte Mai in einem gemeinsamen Communiqué die Umweltministerinnen aus Rheinland-Pfalz, dem Saarland und Luxemburg. Sie haben das Öko-Institut in Darmstadt mit einem Gutachten beauftragt, das sie der "nationalen Kommission für die öffentliche Debatte" in Frankreich übergeben werden.

    Bei einer Stippvisite im unterirdischen Forschungslabor vor einigen Monaten, teilte Umweltministerin Delphine Batho den anwesenden Journalisten mit, die atomare Endlagerstätte in Bure sei politisch gewollt. Zwar hat Francois Hollande vor einem Jahr angekündigt, den Anteil des Atomstroms an der Elektrizitätsproduktion im Land bis 2025 um ein Drittel zu senken. Damit ist er der erste Staatspräsident, der mit der traditionellen Atomdoktrin des "tout-nucléaire" bricht. Beim Thema Endlagerung jedoch folgt er dem Kurs seiner Vorgänger, sagt die EU-Abgeordnete Corinne Lepage.

    "Kürzlich hatte ich Gelegenheit, mit dem Verantwortlichen der deutschen Atomsicherheitsbehörde zu diskutieren. Ich war baff zu sehen, wie unterschiedlich die Wahrnehmungen und die Strategien im Bereich atomare Entsorgung sind. In Deutschland bemüht man sich heute um eine wahrheitsgetreue Darstellung der Lage. In meiner Heimat hingegen hat die Atomlobby alle Macht an sich gerissen und drängt den Politikern auf, was sie selbst entschieden hat. Fessenheim ist da ein gutes Beispiel. Ich gehöre zu denen, die stark anzweifeln, dass es Hollande gelingen wird, seine Ankündigung, das Atomkraftwerk Fessenheim 2016 zu schließen, umzusetzen. Im Moment sieht es nicht danach aus."

    Kommenden Donnerstag wird in Lothringen der zweite Diskussionsabend zum Cigéo-Endlager stattfinden. Insofern die Gegner die Veranstaltung nicht erneut sprengen. Bürgermeister Jean-Pierre Remmele wird die Debatte aufmerksam verfolgen.

    "Cigéo steht noch längst nicht! Bislang haben die Arbeiten noch nicht begonnen. Ich gebe die Hoffnung nicht auf."