Michael Kiefer ist Islamwissenschaftler an der islamischen Fakultät der Universität Osnabrück. Zusammen mit Rauf Ceylan hat er ein Buch geschrieben mit dem Titel "Muslimische Wohlfahrtspflege in Deutschland".
"In den großen urbanen Siedlungsräumen, also im Ruhrgebiet und in Berlin leben immer mehr junge Muslime, die da sagen, wir hätten durchaus auch Interesse an einem muslimischen Kindergarten. Wenn es so etwas gäbe, würden wir unsere Tochter und unseren Sohn hinschicken. Aber da es das nicht gibt, gut, dann schicken wir sie halt zur AWO, zur Caritas, zur Diakonie. Kurzum, es liegt auf der Hand, dass wir hier in naher Zukunft Angebote bereitstellen sollen und müssen, um den Anliegen der muslimischen Menschen, die inzwischen in großer Anzahl in Deutschland leben, gerecht zu werden."
Was Michael Kiefer mit Blick auf muslimische Kindergärten skizziert, gilt auch für muslimische Altenpflege. In Deutschland leben rund vier Millionen Muslime und die erste sogenannte Gastarbeiter-Generation aus den islamischen Herkunftsländern hat längst das Rentenalter erreicht. Viele beschließen, ihren Lebensabend in Deutschlandland zu verbringen. Die traditionellen Familienstrukturen brechen nach und nach weg: Ältere Menschen werden nicht mehr selbstverständlich von der eigenen Familie aufgefangen, somit wird der Pflegebedarf in Deutschland zunehmen. Gibt es erste Ansätze einer professionell-konfessionellen Wohlfahrtsarbeit für Muslime – also sozusagen eine islamische Diakonie oder Caritas?
"Nein, so etwas gibt es nicht. Wir müssen sehen, dass die Caritas und die Diakonie über eine weit 100jährige Geschichte zurückblicken können. Man ist hervorragend organisiert im Bereich der kirchlichen Wohlfahrtspflege. Das ist im Bereich der Moscheegemeinden nicht der Fall. Es gibt dort Wohlfahrtsarbeit – Kinderarbeit, Jugendarbeit, Seniorenarbeit, die aber nahezu ausschließlich von ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern durchgeführt wird."
Die Wohlfahrtsorganisationen in Deutschland setzen zunehmend auch auf muslimische Mitarbeiter, um so auf kulturelle und religiöse Besonderheiten etwa bei der Pflege eingehen zu können. Dennoch ist der Wunsch der Muslime nach einem eigenen professionellen islamischen Wohlfahrtsverband groß. Private Initiativen – sprich muslimische Firmen und Vereine, die nicht nur im Bereich der Pflege ihre Dienste anbieten, gibt es in Deutschland inzwischen viele. Ein gutes Beispiel dafür ist die muslimische Telefonseelsorge in Berlin. Aber all das sei nicht zu vergleichen mit einem großen, konfessionellen Wohlfahrtsverband, so Michael Kiefer. Denn der würde neben sozialen und seelsorgerischen Diensten auch integrative Aufgaben wahrnehmen. Allerdings wird es nach derzeitigem Stand wohl keinen einheitlichen großen islamischen Wohlfahrtsverband geben, bei dem mehrere muslimische Dachverbände in Deutschland gemeinsam als Träger auftreten. Der Islamwissenschaftler Michael Kiefer:
"Wir können hier eine sehr große Heterogenität im Bereich der Verbandslandschaft beobachten. Ich würde auch sagen, ein einheitlicher muslimischer Wohlfahrtsverband ist nicht zu erwarten, sondern wir werden es vermutlich mit mehreren Organisationen in der Zukunft zu tun haben. Denn die Unterschiede zwischen den Organisationen sind zu groß."
Kiefer verweist etwa auf die Differenzen zum Beispiel zwischen Aleviten und dem Verband DITIB. Die würden sich kaum zusammentun.
"Vielmehr wird es so sein, dass diese Organisationen eher eigene Vereine und eigene gemeinnützige Firmen gründen, um im Bereich der Wohlfahrtspflege tätig zu werden. Das ist aber kein Schaden, denn ein Verein ist ein Verein. Und Vereine arbeiten in Regel ja gemeinde- und sozialraumbezogen. Jeder wird es dann für seine Gruppe, für seine Gemeindemitglieder aufbauen."
Die großen Kirchen in Deutschland befürworten den Wunsch der Muslime, in Deutschland einen eigenen islamischen Wohlfahrtsverband zu gründen – zumal sich dies auch theologisch und historisch begründen lässt.
"Wir haben ja im Islam in der Tat ein geregeltes Abgabewesen. Es gibt Zakat, das gehört zu den fünf Säulen des Islams, also einen gewissen Teil des Einkommens müssen Muslime zur Verfügung stellen. Und es gibt ergänzend dazu Zadaka, also die freiwillige Spende, die gleichfalls eine schon eine Bedeutung hat bei den Muslimen. Und wir haben ja eine Vielzahl von Koranversen, zum Beispiel den Vers 77, Sure 28, der die Muslime ganz klar dazu anhält Gutes zu tun, so wie Gott ihnen Gutes getan hat."
Kiefer plädiert dafür, dass Staat und Muslime diese islamische Wohlfahrtspflege gemischt finanzieren sollten, denn die Kirchen erhalten überwiegend ja auch staatliche Gelder zur Durchführung ihrer Leistungen.
Sure 28, Vers 77
"Suche statt dessen durch das, was Gott dir gewährt hat, das Gute des kommenden Lebens, ohne dabei deinen eigenen rechtmäßigen Anteil in dieser Welt zu vergessen; und tue anderen Gutes, wie Gott Dir Gutes getan hat; und suche nicht Verderbnis auf Erden zu verbreiten: denn, wahrlich, Gott liebt nicht die Verbreiter von Verderbnis."
"Suche statt dessen durch das, was Gott dir gewährt hat, das Gute des kommenden Lebens, ohne dabei deinen eigenen rechtmäßigen Anteil in dieser Welt zu vergessen; und tue anderen Gutes, wie Gott Dir Gutes getan hat; und suche nicht Verderbnis auf Erden zu verbreiten: denn, wahrlich, Gott liebt nicht die Verbreiter von Verderbnis."
Michael Kiefer: "Diese Sure besagt, dass die Muslime im Diesseits, in unserer Gesellschaft, in diesem Leben Verantwortung tragen müssen, dass es nicht ausreicht, einfach ein gutes Leben zu leben, sondern man muss Verantwortung zeigen und solidarisch sein mit den Mitgliedern in der Gemeinde. Wenn sie in Not sind, dass man Hilfe bringen muss, dass man gute Worte hat für die Menschen, die sich in Not befinden und vieles mehr."
Die religiöse Pflicht, sich für sozial Benachteiligte einzusetzen, wird in mehreren Suren angeführt. Nicht nur die Suren im Koran, sondern auch andere historisch-theologische Quellen zeigen den Muslimen Leitlinien auf, an denen sie sich als Helfer und Hilfesuchender orientieren können. Jeder Gläubige wird in die Pflicht genommen.
Sure 2, Vers 262 und 263
"Diejenigen, die ihre Besitztümer ausgeben um Gottes willen und danach ihre Ausgaben nicht beeinträchtigen durch Betonen ihrer eignen Wohltätigkeit, werden ihren Lohn bei ihrem Erhalter haben."
"Diejenigen, die ihre Besitztümer ausgeben um Gottes willen und danach ihre Ausgaben nicht beeinträchtigen durch Betonen ihrer eignen Wohltätigkeit, werden ihren Lohn bei ihrem Erhalter haben."
Michael Kiefer:
"Wenn man diese Suren liest, kann man schon die Notwendigkeit sehen, dass auch in theologischer Hinsicht die Gründung einer muslimischen Wohlfahrtspflege geboten ist – oder längst überfällig ist."
"Wenn man diese Suren liest, kann man schon die Notwendigkeit sehen, dass auch in theologischer Hinsicht die Gründung einer muslimischen Wohlfahrtspflege geboten ist – oder längst überfällig ist."