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Wohlfühl-Diktatur im fiktiven Land Novilla

Wie kann ein Kind in unserer auf Gleichheit ausgerichteten Sozialstaatsgesellschaft zu einem eigensinnigen Menschen heranreifen? Diese Frage verhandelt John Goetzees äußerst beunruhigend in seinem neuen Roman.

Von Marie-Luise Knott |
    Der Mann am Tor zeigt auf ein niedriges, langgestrecktes Gebäude in einiger Entfernung. Wenn ihr euch beeilt, sagt er, könnt ihr euch noch anmelden, bevor sie für heute schließen.
    Sie beeilen sich. "Centro de Reubicacion Novilla" steht auf dem Schild. Reubicacion, was bedeutet das? Das Wort hat er nicht gelernt.
    Das Büro ist groß und leer. Auch heiß – noch heißer als draußen. Ganz hinten nimmt ein hölzerner Schalter die gesamte Raumbreite ein, unterteilt durch Milchglasscheiben. An der Wand steht eine Reihe niedriger Aktenschränke aus lackiertem Holz.


    So beginnt der Roman "Die Kindheit Jesu" des Schriftstellers John Coetzee. Und sofort ist man eingestimmt - in Coetzees immerwährendes Präsenz, in das bis zum Stillstand verlangsamte Erzähltempo und vor allem: in dieses Gefühl von Fremdheit und Einsamkeit in der Welt, das uns den ganzen Roman über nicht verlassen wird.

    Die beiden so Angesprochenen sind ein Mann um die 50 - sowie ein etwa fünfjähriger Junge. Sie sind – das erfährt man bald – als Flüchtlinge in diesem Land gestrandet. Die Stadt, in der sie sich neu ansiedeln wollen, heißt Novilla – Neu-Stadt, Nicht-Stadt, wer weiss das schon?

    Simón, der Mann, hatte den Jungen, David, während der Überfahrt unter seine Fittiche genommen, da dieser im Laufe einer unbekannt bleibenden Havarie seine Mutter verloren hatte. Jetzt hat Simón es sich zur Aufgabe gemacht, dem Jungen die Mutter zu finden, doch zunächst brauchen sie eine Bleibe für die Nacht. Und weil in der Herberge - sprich: im Aufnahmezentrum - kein Platz ist, müssen sie bei Brot und Margarine im Freien schlafen, in einem unwirtlichen Hinterhof, den ihnen eine der Beamtinnen zuweist. Was diese stolz als eine Lösung und ein Nachtlager anpreist, kann Simón nur empören.

    "Warum behandeln Sie uns wie der letzte Dreck?"

    fragt er leise. Alles in diesem Roman kommt auf sanften Sohlen daher, und dennoch ist bereits in dieser Einstiegsszene ein zentraler Konflikt der Geschichte angelegt: Verstand und guter Wille, so gut meinend die Menschen sein mögen, sind vielleicht tatsächlich das Gegenteil von gut.
    John Maxwell Coetzee, der Schriftsteller und Nobelpreisträger, der ,1940 in Kapstadt geboren, heute in Australien lebt, hat an die 20 Romane veröffentlicht, von denen einige, - wie "Eiserne Zeit", "Leben und Zeit des Michael K." oder "Schande" – unmittelbar in der Apartheid-Wirklichkeit Südafrikas angesiedelt waren. "Die Kindheit Jesu" spielt ähnlich wie sein früher Roman "Warten auf die Barbaren" außerhalb unserer Wirklichkeit in einem fiktiven Land. Und anders, als in einer klassischen Parabel, hält Coetzee in "Der Kindheit Jesu" die Geschichte und auch den Ausgang in der Schwebe.

    Doch soviel ist klar: Alle Menschen in Novilla sind Flüchtlinge oder Immigranten. Und alle haben nach ihrer Ankunft zunächst in einem Aufnahmelager gelebt, Spanisch gelernt und sich, wie es im Roman heißt, "von ihren alten Bindungen reingewaschen". Als hätten sie auf dem Weg in dieses Land nicht irgendeinen Ozean, sondern tatsächlich den Fluss Lethe überquert. Das Land selbst - halb utopischer Sozialismus, halb Ort eines buddhistischen Nachlebens - nimmt die Neuankömmlinge zutiefst freundlich auf. Und schon bald bekommen auch die beiden - Simón und der Junge - eine Wohnung zugewiesen. Doch das Land der allseitigen Freundlichkeit erweist sich schnell als eine Wohlfühl-, und Gutwill-Diktatur, in der die Menschen sich ihren Eigensinn abgewöhnt haben. Sie leben erinnerungslos, vergangenheitslos und vor allem leidenschaftslos.

    Wie alle Werke Coetzees steht auch "Die Kindheit Jesu" in einem inneren Dialog mit anderen seiner Werke, etwa mit dem 2005 veröffentlichten Roman "Zeitlupe" – Slow man – in dem die Protagonistin dem Schriftsteller eine Standpauke hält:

    "Das Leben ist kein Austausch diplomatischer Noten. Au contraire. Das Leben bedeutet Drama, das Leben bedeutet Aktion, Aktion und Leidenschaft. Seien Sie höflich, wenn Sie wollen, aber nicht auf Kosten der Leidenschaft. Denken Sie daran, Paul, alles auf der Welt dreht sich um die Leidenschaft. Wenn es keine Leidenschaft gäbe, wäre die Welt immer noch leer und gestaltlos. Nehmen Sie zum Beispiel Don Quijote. Don Quijote handelt nicht von einem Mann, der im Schaukelstuhl sitzt und die Langeweile von La Mancha beklagt. Es handelt von einem Mann, der sich ein Barbierbecken auf den Kopf stülpt und auf den Rücken seines treuen, alten Ackergauls klettert und sich aufmacht, große Taten zu vollbringen."

    Wahrlich: Coetzees Novilla ist kein Ort für fantastische Liebes- und Ritterdramen. Hier entbrennt niemand für eine ferne, unbekannte Dulcinea von Toboso und niemand hier ist in Heilserwartung. In diesem Land, in dem die Straßenbahnen und Busse ebenso wie Kurse für Aktzeichnen oder Philosophieseminare kostenlos sind. Hier, wo es allen scheinbar gut geht, erscheinen Heldentaten als eine Idee von gestern. Alle preisen das durch und durch gemäßigte Leben von Novilla, sowohl der ewig hilfsbereite Arbeiterfreund Alvaro als auch Anna, die Mutter eines Spielkameraden, bei der Simón mitunter seine sexuellen Bedürfnisse abreagieren darf. Alles in diesem Paradies hat seine Ordnung, alles ist logisch, hat seinen vernunftgeleiteten Sinn. Nur Simón gelüstet es nach anderen Dingen. Bei einem Picknick im Park äußert er:

    "Wissen Sie, was mich an diesem Land am meisten verwundert?" Ein rücksichtsloser Ton schleicht sich in seine Stimme; es wäre klüger aufzuhören, doch er tut es nicht. "Dass es so blutleer ist. Jeder, den ich treffe, ist so anständig, so freundlich, so wohlmeinend. Niemand flucht oder wird zornig. Niemand betrinkt sich. Niemand erhebt auch nur die Stimme. Ihr lebt von Brot und Wasser und Bohnenpaste und behauptet, satt zu sein. Wie kann das sein, aus menschlicher Sicht? Lügt ihr, belügt sogar euch selbst?"

    Es folgt ein Dialog über die geschlechtliche Liebe:

    "Zwischen einem Mann und einer Frau", sagt er, "entsteht manchmal spontan eine natürliche Anziehungskraft, unvorhergesehen, unüberlegt. Die beiden finden einander attraktiv oder sogar schön, um das andere Wort zu benutzen. Die Frau meist schöner als der Mann. Warum das eine aus dem anderen folgen sollte, die Anziehungskraft und das Verlangen nach Umarmung aus der Schönheit, ist ein Geheimnis, das ich nicht erklären kann; ich kann nur sagen, dass mein Hingezogensein zu einer Frau der einzige Tribut ist, den ich, mein physisches Selbst, der Schönheit der Frau darzubringen weiß. Ich nenne es einen Tribut, weil ich es als Gabe empfinde, nicht als Beleidigung."
    Er hält inne.
    "Fahren Sie fort", sagt sie.
    "Das ist alles, was ich sagen möchte."
    "Das ist alles. Und als Tribut an mich – eine Gabe, keine Beleidigung – wollen Sie mich an sich drücken und einen Körperteil von sich in mich hineinstoßen."


    Man hört in Coetzees Dialogen prallen Welten unverbunden aufeinander. Der Leser findet keinen Halt, er verliert die Orientierung. Und das ist Absicht und äußerst gekonnt. Die Geschichte aber trägt den Leser weiter: Simón, der nicht der leibliche Vater ist, und mitunter als "goodfather", als Pate also, bezeichnet wird, arbeitet im Hafen als "Estibador", als Schauermann. David geht tagsüber mit und schaut ihm bei der Arbeit zu, wie ehedem wohl Jesus seinem Nicht-Vater Joseph. In seiner freien Zeit widmet sich Simón ganz dem Jungen. Er will das scheinbar Unmögliche: In dieser Welt, in der alle Erinnerungen gelöscht sind, dem Jungen eine, ja, seine Mutter finden.

    Coetzee lässt das Wunder geschehen. Und auf einem Ausflug in die Natur begegnen die beiden einer Frau, die er - ohne jeglichen Grund, aus nichts als einer Intuition heraus - als Davids Mutter anspricht. Die Verkündigung, wenn man so will, findet bei Sherry und Gurkenschnittchen statt und sofort ist klar, dass diese Maria, die bei Coetzee Inés heißt - also Agnes, die Geheiligte -, dass diese Inès-Maria aus einer anderen Welt stammt. Einem fernen Jahrhundert entsprungen, könnte man sagen. Sie lebt mit ihren Brüdern in einer Art Gegenwelt zu Novilla – inmitten von Genuss, Müßiggang und Gelächter. Inés, eine zeitverlorene Außenseiterin, nimmt die frohe Botschaft an. Einzige Voraussetzung: Simón muss ihr die Wohnung überlassen und aus dem Leben des Jungen verschwinden, damit die Mutterliebe und die Mutter-Kind-Beziehung sich ganz und gar entfalten kann.

    So kommt die Jungfrau zum Kinde. Und fortan verhätschelt die zur Mutter erklärte Inés den Jungen mit einer natürlichen Affenmutterliebe. Sie begluckt und behütet ihn, schottet ihn ab von allen Spielkameraden. Der bislang für sein Alter äußerst verständige Junge wird wieder zum Kleinkind und die Vergötterung tut langsam ihre Wirkung. Der Junge entwickelt den Eigensinn eines Don Quijote, dessen Abenteuer er vorgelesen bekommt. Er will aufbrechen, die Toten lebendig machen und die ganze Welt befreien. Da darf man gespannt sein. Doch: Wozu erzählt Coetzee das alles?

    "Ich werde ungeduldig mit Fiktion, die nicht etwas versucht, was noch niemand vorher versucht hat."

    notierte Coetzee vor einigen Jahren in einem Brief an Paul Auster. Damals saß er gerade an einem formalen Experiment besonderer Art. Er schrieb das "Tagebuch eines schlechten Jahres", in dem er die Auflösung des Autor-Ichs so weit trieb, dass auf jeder Buchseite drei separate Erzählungen untereinander angeordnet zu lesen waren. Eine Polyphonie der Perspektiven. In der "Kindheit Jesu" nun hat Coetzee diese Polyphonie wieder in eine durchgehenden Erzählung hinein zurückverlegt. Schreiben, hat er einmal gesagt, sei eine Form, die Gegenstimmen in einem Selbst wachzurufen und sich auf ein Gespräch mit ihnen einzulassen. In der Form des Dialogs verteidigte der Südafrikaner schon früh schreibend die Pluralität der Welten und Standpunkte gegen das Einheitsdenken der Apartheid. Denn das Subjekt, das zu wissen glaubt, wo es langgeht, ist eine Fiktion. Die Welt wird nicht von einem Menschen, sondern in der wägenden Differenz des Sprechens erkundet.

    "Woher weiß ich, dass ich die Wahrheit über mich herausgefunden habe",

    befragte Coetzee vor Jahren die Eindeutigkeit der Erzählstimme. Seine Romane stellen Fragen, die auf keine Antwort warten; jede Behauptung, jede Einsicht wird sofort wieder in den Zweifel und ins Fragen hineingeschrieben, dem Leser überantwortet.

    So sehr Simón bei Coetzee die Mutter verteidigt: Wer den Roman liest, hält es spontan mit den Einwohnern von Novilla, die Inés zunehmend schärfer angreifen: Man darf schließlich heutzutage ein Kind nicht derart für sich allein haben wollen, man darf Kindern nicht an sich ketten, wie Inés das tut. Man darf sein Kind nicht so vergöttern. Es muss sich anpassen, die Sozialtechniken lernen.

    Coetzees neuer Roman handelt also nicht allein von der Leere einer befriedeten, vernunftregierten Welt, das auch. Er handelt nicht nur von der Frage, wie zeitgemäß Mutterbindungen heute sind und wie tragfähig Patchworkfamilien. Er handelt nicht nur davon, dass dort, wo Glaube, Hoffnung und Liebe regieren, leibliche und nichtleibliche Eltern sich wohl wenig unterscheiden.

    Nein, zuallererst ist "Die Kindheit Jesu", wenn man so will, ein negativer Bildungsroman. Er verhandelt äußerst beunruhigend die Frage danach, wie in den auf Gleichheit ausgerichteten Sozialstaatsgesellschaften unserer Tage überhaupt noch ein Kind zu einer eigenartigen Erscheinung heranwachsen kann?

    Keine der Positionen und Personen im Roman ist dem Leser von Grund auf sympathisch. Am ehesten noch Simón. Gäbe es nicht den Titel des Buches, wären auch wir Leser im Laufe des Romans immer mehr geneigt, der Mutter, die ja noch nicht einmal die leibliche Mutter ist, das Kind abzunehmen, und es dem gemäßigteren Nicht-Vater Simón zurück zu überantworten.

    Jedes Kind braucht schließlich Freunde, einen Kindergarten, es muss in die Schule, es muss lesen lernen, wie alle. Es muss sich doch vorbereiten auf die Anforderungen der Gesellschaft.

    Warum nun der Titel "Die Kindheit Jesu"? Coetzee pflegt in allen seinen Werken den Dialog mit anderen Autoren, mit anderen Geschichten mit anderen Wirklichkeiten. Die inneren und formalen Bezüge zur Literatur Südafrikas sowie zu Kafka, Defoe, Dostojewski, Nabokov oder Cervantes sind zahllos und vielfach entschlüsselt. Dennoch setzt jeder seiner Romane ein Eigenreich in Szene und befragt in dringlichem Ton einen kleinen Ausschnitt aus unserer Wirklichkeit. So auch in "Die Kindheit Jesu".

    Natürlich kennt man die Geschichten über die Geburt und die Taufe Christi und über den Besuch des 12-Jährigen im Tempel bei den Schriftgelehrten. Doch wer kennt noch die apokryphen Texte über Jesu Kindheit, in denen beispielsweise Jesus seinem Spielkameraden den Tod wünscht, als dieser ihn schubst, wonach der Junge tatsächlich tot umfällt. Einer anderen Legende zufolge soll Jesus als Kind aus Lehm Sperlinge geformt haben, denen er alsdann Leben einhauchte, sodass die Tontiere sich in die Lüfte erhoben und davonflogen. Einen besonderen Akzent jedoch legen diese unbekannteren Schriften auf Jesu Trotz und auf die Verweigerung des Knaben, sich das damals übliche Wissen anzueignen und in den Konventionen einzurichten. So erzählen etwa mehrere Apokryphen, Jesus sei bei einem Gelehrten in die Schule gegangen. Doch schon nach wenigen Tagen habe dieser ihn empört zu Joseph zurückgebracht, da der Junge, statt folgsam das Alphabet zu lernen, die Einzigartigkeit jedes Geschöpfes und jedes Buchstaben pries.

    In Coetzees "Kindheit Jesu" geht es rein säkular zu. Gleich einem Palimpsest hat der Autor seine Geschichte den alten Texten überschrieben. David vollbringt keine Wunder, auch, wenn er sich vorstellt, dass er später, wenn er groß ist, Kranke heilen und Tote auferstehen lassen wird. Doch auch David kommt unweigerlich mit dem Bildungssystem in Konflikt: Einmal, als er schon droht, wegen seiner Andersartigkeit in ein Erziehungsheim eingewiesen zu werden, steht er vor dem Lehrer und soll addieren, wie viele Fische Juan und Pablo zusammen fangen, wenn Johannes fünf und Paulus drei Fische fängt. Der Leser, den wunderbaren Fischfang im Kopf, wartet gespannt. Der Junge müht sich und bringt dann langsam und leise den Satz heraus:

    "Diesmal, ... diesmal ... ist es acht."

    Der Lehrer versteht nichts. Er ist es zufrieden, dass der Junge, dieser Störenfried, zumindest dann, wenn er sich ein mal Mühe gibt, rechnen kann. So antwortet er:

    "Gut, zieh eine Linie unter die drei und schreibe acht. Jetzt zeig uns, wie du schreiben kannst. Schreib: Conviene que yo diga la verdad. Ich muss immer die Wahrheit sagen. Schreib: Conviene ..."
    Der Junge schreibt von links nach rechts die Buchstaben deutlich, wenn auch langsam malend: Yo soy la verdad, ich bin die Wahrheit."


    Das ist ungeheuer, eine Provokation, die auch im 21. Jahrhundert den Leser gegen den Jungen aufbringt. Im Roman geht die Szene weiter:

    "Da sehen Sie es", sagt Señor Leon, an Inés gewandt. "Damit musste ich mich Tag für Tag herumschlagen, als Ihr Sohn in meiner Klasse war. Wirklich, es kann nur eine Autorität im Klassenzimmer geben, es kann nicht zwei geben. Sehen Sie das anders?"
    "Er ist ein außergewöhnliches Kind", sagt Inés. "Was für eine Schule führen Sie, dass Sie nicht mit einem einzigen außergewöhnlichen Kind zurechtkommen?"


    Dieser Junge scheint in unseren säkularen Augen schlicht verzogen und verrückt. Die Mutter ebenso. Allein der Titel lockert unsere allzu festgefahrenen Vorstellungen. Er setzt den maßlosen mütterlichen Glauben, diese 150-prozentige Hege und Pflege, ins Recht. Wenn das Kind tatsächlich Jesus ist, dann darf es so verrückt sein. Doch wo kann die Geschichte heute enden?
    Coetzees an Becketts Enthaltsamkeit geschulte Sprache ist klar und einfach wie die Sprache des Alltags, nur gereinigt von Nachlässigkeit, Mundart oder Jargon. Jeder Stil-Wille, so der Eindruck, würde durch seinen eigenen Zauber ablenken von der Wahrheit, würde dem Roman und vor allem den darin aufgeworfenen Fragen, die verstörende Dringlichkeit nehmen. Seine Romane haben nämlich wie alle große Kunst die Fähigkeit, uns nervös zu machen, vielleicht, weil der Autor seine Geschichten wie Kafka auf Treibsand baut, weitab der von Urteilen und Vorurteilen befestigten Ufer seiner Zeitgenossen. Coetzee verteidigt die Literatur als den Ort der Ungewissheit. Er, der König des "Aber", wie er einmal Erasmus von Rotterdam nannte, wählt den herrlichen Spielraum der Fiktion, damit der Kampf um diese Welt – um dieses "großartige Leben" - in seiner größtmöglichen Tiefe in uns aufschlagen kann.

    Die meisten Personen in der "Kindheit Jesu" verströmen Sanftmut und Heiterkeit, zumal Coetzee um der Wahrhaftigkeit willen, die erzählte Welt in nebelhafte Ferne verlegt. Dort, verbannt in den Raum der Fiktion, können seine Geschöpfe freier agieren, als wir es können. Literatur ist nämlich für ihn keine Anleitung zum Handeln, sondern eine quijotische Anstiftung. Je mehr sein Personal die Argumente dreht und wendet, desto mehr verliert alles Alltägliche, alles für selbstverständlich Gehaltene seine Gewöhnlichkeit. Das Gespräch verwandelt das uns Selbstverständliche – die Schulpflicht etwa oder den herrschenden Arbeitsethos - zurück in das, was es einmal war - eine historische Entscheidung denkender und handelnder Individuen, die jederzeit revidiert werden kann.

    Keinem anderen Autor unserer Tage ist es derart gelungen, mit spannenden Geschichten uns die Welt als eine erneuerbare zu erhalten. Das 20. Jahrhundert war in Coetzees Romanen eine Zeit von Trauer, Tod, Rassismus und Gewaltherrschaft. Heute hat die Literatur offensichtlich neue Aufgaben zu übernehmen, um die Idee des Humanen zu retten, Coetzees Figuren jedenfalls reden und handeln sich um Kopf und Kragen dafür, dass der Mensch, der Einzelne und Einzigartige, auch im Einheitsdenken des 21. Jahrhunderts nicht aus der Welt verschwinden möge. Schließlich hieß es schon bei Augustinus:

    "Damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen."

    Buchinfos:
    J. M. Coetzee: "Die Kindheit Jesu", S. Fischer Verlag, Preis: 21,99 Euro