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Wohlgenährten Lügen das Genick brechen

Der in Dänemark 1842 geborene politische Publizist Georg Brandes befasste sich nach der Reichsgründung mit deutscher Politik und deutscher Mentalität. Hanns Grössel hat in "Der Wahrheitshass" eine großartige Auswahl von Texten von Brandes zusammengetragen, die ein ganzes Panorama seines Denkens und Wirkens eröffnet.

Von Walter van Rossum | 25.06.2007
    Aller Wahrscheinlichkeit werden die wenigsten Georg Brandes kennen - den dänischen Schriftsteller und Denker, 1842 geboren und 1927 gestorben. Er war ein jüdischer Kosmopolit, der in Frankreich, Deutschland, England, Italien gelebt hat und der über den Völkermord an den Armeniern mit ebenso viel Engagement schreiben konnte wie er das Werk des damals noch unbekannten Friedrich Nietzsche zu propagieren verstand. Zu seiner Zeit galt Brandes als einer der führenden Köpfe Europas und er firmierte lange auf der Kandidatenliste für den Literaturnobelpreis. Voilà, un homme de lettres, wie es in Deutschland kaum je einen gab.

    Man kann eine beliebige Seite in "Der Wahrheitshass" aufschlagen und man versteht auf Anhieb, warum es noch heute lohnt, ihn zu lesen.

    "Ohne Servilität und Pianospiel gedeiht in Deutschland zur Zeit nichts. Ersteres ist kein vergängliches, letzteres ein bleibendes Übel. Man kann sich in dieser Hinsicht nichts Schrecklicheres vorstellen als ein Haus in Berlin; von außen sieht es noch gut aus, hat einen kleinen Garten vorm Eingang, ein stattliches Treppenhaus, schöne hohe Räume mit gebohnerten Böden, prächtige Porzellanöfen und elektrische Klingeln in allen Zimmern - aber tritt über die Schwelle und du wirst fühlen, dass dieses schöne Gebäude, weit entfernt, ein Hort des Friedens zu sein, eine Heimstatt abscheulichsten Spektakels ist, verursacht mit Hilfe des empörendsten Marterinstruments, das die neuere Zeit, soweit die genannte Zivilisation reicht, vervollkommnet und in Anwendung gebracht hat - ich meine das Klavier. Selbst der Keller eines solchen Hauses ist ein Abgrund von Pianospiel. (...) Servilität und Pianoforte, sagte ich. Das ist identisch. Unter beider Blüte bilden die Betreffenden sich ein, Gefühle zu haben, die sie nicht haben. Die allermeisten Menschen leben leider in einem gewohnheitsmäßigen Gespinst erlogener Empfindungen. So spielen sie sechs Stunden am Tag Klavier und glauben, sie fänden darin Unterhaltung und verkehrten derweil mit einer Muse, und so verehren andere mit hysterischer Leidenschaftlichkeit den Kaiser, Bismarck, die kleinen und großen Prinzen und glauben, sie fühlten gewaltige Begeisterung. Es ist Klimperei, mechanische Nachahmung, falscher Anschlag, schlechte Musik im einen wie im anderen Fall."

    Darauf muss man kommen: die deutsche Bürgerseele jener so genannten Gründerzeit als Mischung aus Servilität und gefälschter Hingabe ans Klavierspiel zu beschreiben. 1880 lebte Brandes in Berlin, der Hauptstadt des jungen deutschen Kaiserreichs und er litt gleichermaßen am pausenlosen Traktieren des Pianoforte auf allen Stockwerken wie am grenzenlosen Obrigkeitswahn der Deutschen. Brandes war dem Ruf des deutschen Geistesleben gefolgt und er stieß auf nichts als Bismarckverehrung, Hofsänger des Kaisers, Ästhetik der Marschmusik und öden Professorengeist. Kurz, das Gegenteil seiner eigenen vitalen Intelligenz und Bildung, die ihm erlaubten, im Anekdotischen Strukturen seiner Zeit zu entdecken und plastisch zu schildern. Ein Mann des Geistes, der sich nicht scheute, am Schlesischen Bahnhof arme und gehetzte jüdische Flüchtlinge zu begrüßen, die mit Müh und Not den antisemitischen Pogromen in Russland entkommen waren, um mithilfe eines Komitees, dem Brandes angehörte, nach Amerika weiterzureisen.

    Der säkularisierte Jude Brandes, der nie eine Synagoge betreten hat und 1910 aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten war, entdeckte auch im verdeckten Antisemitismus des neuen Deutschen Reiches die Zeichen eines militanten Freiheitshasses:

    "Freiheitsliebe im englische Sinne existiert im gegenwärtigen Deutschland nur bei der Generation, die in zehn Jahren ausgestorben ist. Dann wird Deutschland einsam isoliert und bei seinen Nachbarn verhasst in der Mitte Europas ein Bollwerk des Konservatismus sein. (...) Deutschland wird alt und verblüht daliegen, bis zu den Zähnen bewaffnet, gepanzert und gerüstet mit allen Mord- und Verteidigungswaffen der Wissenschaft. Große Auseinandersetzungen und Kriege werden folgen."

    Jahrzehnte bevor der Erste Weltkrieg ausbrach, zeichnete Brandes den Weg Deutschlands vor. Doch Brandes schreibt als Zeitgenosse und nicht als Historiker. Niemals gelingen den Rekonstruktion der Historiker jene furchterregenden Einsichten in den Lauf der Dinge wie sie dem gleichermaßen klug distanzierten wie leidenschaftlich empörten Brandes gelingen. Während heute allerorten ein dünner, dümmlicher Wir-haben-Deutschland-so-lieb-Gesang anhebt, erinnert uns Brandes an ein unheimliches Land, dass durch die Moderne stolperte und dabei aus jeder Pore den Schweiß der Gewalt absonderte. Man möchte diese Aufsätze über Deutschland all denen dringend anempfehlen, die so tun, als habe es gerade mal zwölf Jahre sonderbarer Verirrung gegeben, doch eigentlich sei Voltaire ein Deutscher gewesen und geistreiche Lebensart von Preußen erfunden worden. Durch die Brandeslektüre spürt man ganz deutlich, wie dünn der Firnis der Moderne in Deutschland ist. Wenn Brandes die berüchtigte Hunnenrede von Kaiser Wilhelm II analysiert, in der er seinen fundamentalistischen Kreuzrittern auf dem Weg nach China den christlichen Segen erteilt, empfiehlt keine Gefangenen zu machen und die Erbarmungslosigkeit einer höheren Kultur proklamiert, dann begreift man, dass Hitler vor allem ein gelehriger Schüler war - und man spürt auch noch die Gefahr, die von den mühsam moderierten Kreuzrittern unserer Tage ausgeht.

    Hanns Grössel hat in 'Der Wahrheitshass' eine großartige Auswahl von Texten von Georg Brandes zusammengetragen, die ein ganzes Panorama seines Denkens und Wirkens eröffnet. Und man könnte bei der Lektüre fast ins Träumen geraten: was wäre, wenn die Kultur des Bürgertums - denn Brandes war Bürger durch und durch - von solchen Geistern wie ihm getragen worden wäre? Es hätte vielleicht ein echtes bürgerliches Geistesleben gegeben und nicht bloß einen trägen Kunst- und Kulturbetrieb. Eine bürgerliche Weltanschauung wäre möglich geworden, die auf einem Kanon höchst achtbarer Werte beruht hätte. Politiker dürften nicht so ungestraft das Erbe von Liberté Egalité Fraternité für sich reklamieren und die Intelligenz würde sich weigern, sich einem erstickenden intellektuellen Klima anzupassen. Georg Brandes Arbeiten über Deutschland und Europa führen nicht nur an die eigenen historischen Abgründe zurück, sondern sie gemahnen an ein kühnes, wahrscheinlich erst noch zu gründendes Projekt: die Wahrheitsliebe.