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Wole Soyinka: Die Last des Erinnerns. Was Europa Afrika schuldet, und was Afrika sich selbst schuldet

Erinnern hat hierzulande gerade Hochkonjunktur; Erinnerungsdiskurse, wie man heute gerne so geschwollen sagt, geistern in nicht endenwollenden Spalten durch die einschlägigen Feuilletons. Die Auswahl ist, wie könnte es anders sein, recht selektiv. Bevorzugte Objekte sind die Massenvernichtung der europäischen Juden und der reale Sozialismus unter besonderer Berücksichtigung der DDR, weniger beliebt auf der Vergangenheits-Hitliste sind der westliche Anteil am Kalten Krieg, der europäische Kolonialismus und die imperialen Verheerungen des enthemmten Marktes in der sog. Dritten Welt. Wenn Erinnerung etwas mit der Annäherung an geschichtliche Wahrheit zu tun hat, ist die eigene Schmerzgrenze bald erreicht, und sie wird schnell zur Last. Und so heißt das neue Buch des nigerianischen Literatur-Nobelpreisträgers Wole Soyinka nicht zufällig "Die Last des Erinnerns". Sein Gegenstand sind die afrikanischen Katastrophen und ihre Ursachen. Ihm geht es um den Zusammenhang von kolonialen und nachkolonialen Verbrechen und die Frage, wie beide gesühnt werden können: Entschädigungen, wie für jüdische Opfer und Zwangsarbeiter, oder Versöhnungskommissionen wie in Südafrika? Soyinka greift für die Antworten auf ganz moderne Fragen auf afrikanische Traditionen zurück:

Leo Kreutzer | 27.08.2001
    Erinnern hat hierzulande gerade Hochkonjunktur; Erinnerungsdiskurse, wie man heute gerne so geschwollen sagt, geistern in nicht endenwollenden Spalten durch die einschlägigen Feuilletons. Die Auswahl ist, wie könnte es anders sein, recht selektiv. Bevorzugte Objekte sind die Massenvernichtung der europäischen Juden und der reale Sozialismus unter besonderer Berücksichtigung der DDR, weniger beliebt auf der Vergangenheits-Hitliste sind der westliche Anteil am Kalten Krieg, der europäische Kolonialismus und die imperialen Verheerungen des enthemmten Marktes in der sog. Dritten Welt. Wenn Erinnerung etwas mit der Annäherung an geschichtliche Wahrheit zu tun hat, ist die eigene Schmerzgrenze bald erreicht, und sie wird schnell zur Last. Und so heißt das neue Buch des nigerianischen Literatur-Nobelpreisträgers Wole Soyinka nicht zufällig "Die Last des Erinnerns". Sein Gegenstand sind die afrikanischen Katastrophen und ihre Ursachen. Ihm geht es um den Zusammenhang von kolonialen und nachkolonialen Verbrechen und die Frage, wie beide gesühnt werden können: Entschädigungen, wie für jüdische Opfer und Zwangsarbeiter, oder Versöhnungskommissionen wie in Südafrika? Soyinka greift für die Antworten auf ganz moderne Fragen auf afrikanische Traditionen zurück:

    Natürlich ist ( ...) jede Konfliktsituation und jede Zufügung gesellschaftlicher Wunden auf ihre Art einmalig, und deshalb muss jede Situation in Kenntnisnahme der jeweiligen Besonderheiten angegangen werden. Wenn wir aber nach dem gemeinsamen Nenner suchen, dann nach einem Attribut, das möglicherweise als eine Grundlage für das allgemeingültige Prinzip der Versöhnung dienen kann, worauf wir dann in Beachtung seiner vielfältigen Besonderheiten aufbauen. Selbst die Mythologien der Gesellschaft können unerwartete Hinweise liefern, obwohl wir uns stets auch bewusst sein müssen, dass mythologische Konstrukte Schöpfungen des menschlichen Geistes und Widerspiegelungen menschlicher Neigungen - und somit Projektionen - sind. Nichtsdestoweniger ist die Mythologie das bevorzugte Feld meiner Streifzüge auf der Suche nach "Futter", und ich gebe gerne zu, dass ich, wenn ich mich mit ethischen Problemen konfrontiert sehe, die an die Grundlagen von Gerechtigkeit und Gleichgewicht in der Gesellschaft rühren, dazu neige, Paradigmen in meinem eigenen mythologischen Reservoir zu suchen, eben jene Archetypen - Götter, Weltenschöpfer, Wirklichkeit gewordene Wesenheiten und historische Protagonisten -, die in ihrer eigenen Geschichte und in ihren Persönlichkeiten einige der edelsten, zugleich aber auch einige der abscheulichsten Attribute menschlichen Verhaltens und Strebens repräsentieren.

    Sein liebster Gott, schrieb Woyinka einmal, sei Ogun.

    Mein eigener persönlicher Gott ist Ogun... Man hat Ihnen vielleicht gesagt, dass der Gott Ogun ein vielseitiger Gott ist: Da ist der Ogun der Lyrik, der Ogun des Liedes, Ogun der Bauer, Ogun der Heiler, ja auch Ogun der Kriegsherr, Ogun der Kreativität.

    Wenn von einer weltweiten Übertragung von Wissen, von einem globalen Technologietransfer die Rede ist, dann wird darunter wie selbstverständlich allein der Transfer eines naturwissenschaftlich-technischen know how in Entwicklungsländer verstanden.

    Bei dem schmalen Buch von Wole Soyinka handelt es sich um ein Stück Wissens- und Technologietransfer in einem ganz anderen Sinne und in umgekehrter Richtung. Soyinka stellt in seinem Essay über die "Last des Erinnerns" Überlegungen zu Mechanismen der Entschädigung von Opfern und der Buße von Tätern an. Dabei knüpft er an ein dialektisch hochentwickeltes mythologisches Reservoir seines Volkes, der Yoruba, an, für den nigerianischen Literatur-Nobelpreisträger ein beherzigenswertes Beispiel dafür, was er die verleugnete und verachtete "Spiritualität des schwarzen Kontinents" nennt.

    Soyinka geht in seinem Essay Zusammenhängen zwischen Schuld und einer Wiedergutmachung als Versöhnung mit der Vergangenheit nach. Er besteht darauf, dass das Erinnern, bei aller Verweigerung des Gedächtnisverlustes, stets für ein Abschließen zugänglich bleibe. Die Menschheit, sagt er, bedürfe des "Abschlusses", ihr "Hunger nach Abschluss" verlange nach sozialen Strategien einer Heilung der Wunden der Vergangenheit.

    Ein Erinnerungs-Diskurs, der jeglichem Eingeständnis eines Bedürfnisses nach Abschluss leichtfertiges Verdrängen oder heimtückisches Vergessenwollen unterstellt, hat bei uns vor nicht allzu langer Zeit die sogenannte "Walser-Bubis-Debatte" ausgelöst. An sie fühlt man sich bei der Lektüre von Soyinkas Essay ständig erinnert. Hat Martin Walser mit seiner Frankfurter Friedenspreis-Rede nicht genau darum geworben, öffentlich bekunden zu dürfen, was sein afrikanischer Kollege "Hunger nach Abschluss" nennt? Und war es dann richtig, dem protestantisch vereinsamten Gewissen, auf das Walser sich dabei berief, zu unterstellen, es wolle einfach einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen? Aber auch das lässt sich im Lichte der Überlegungen von Wole Soyinka deutlich sehen: Von der emphatischen Selbstbehauptung eines persönlichen Gewissens führt kein Weg zu einer sozialen Strategie der Heilung, zu einer "nationalen Katharsis", wie der Dramatiker Soyinka das sehr schön und erhellend nennt.

    Soyinka selbst stellt einen Zusammenhang her zwischen dem Holocaust und dem, was Afrika von Europa angetan wurde. Aus seiner Sicht erscheint jeder Historiker-Streit, der um die Frage einer Einzigartigkeit des Holocaust geführt wird, als eurozentristisch. Unverdächtig, ihn verharmlosen zu wollen, stellt Soyinka in seinem jüngsten Beitrag zu einer Psychologie der Schuld zum wiederholten Male in Zweifel, der Holocaust habe "das erste Fragezeichen hinter alle Ansprüche eines europäischen Humanismus gesetzt".

    (Der Transatlantische Sklavenhandel) war ... ein Unternehmen, das den Kontinent - nach glaubwürdigen Schätzungen - um mehr als 20 Millionen Menschen entleerte und sie unter Umständen der Brutalität über den Atlantik transportierte, die erst noch von irgendeinem Zusammentreffen der Rassen überboten werden müssen. Entschädigungen als Basis des Erinnerns und der Kritik müssen deshalb angesehen werden als eine notwendige Grundvoraussetzung für die Glaubwürdigkeit der eurozentristischen Geschichtsschreibung und als Korrektiv für Europas ausschließende Weltsicht.

    Die historische Mitschuld am Sklavenhandel und die Versklavung Afrikas durch den Kolonialismus stellen für Soyinka ein frühes Versagen von Humanismus und Aufklärung dar. Dafür fordert Soyinka von Europa Wiedergutmachung. Denn dadurch sei es zu einem Bruch der organischen wirtschaftlichen Systeme Afrikas gekommen, zu einer "Verwerfung", die für die geradezu unüberwindlichen wirtschaftlichen Probleme dieses Kontinents heutzutage mitverantwortlich gemacht werden müsse. Diese historische Schuld werde auch durch das, was Afrika sich selbst schulde, nicht annulliert. Im Gegenteil, das Ausmaß der Verbrechen, die der Kontinent "gegen seine eigene Art" begehe, rufe ständig das Erinnern wach an jene historischen Verbrechen, die Afrika von anderen zugefügt worden seien.

    Es gibt Momente, in denen es fast so scheinen will, als ob es eine teuflische Kontinuität (und Unvermeidlichkeit?) in all dem gäbe - man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, als stelle das Verhalten der heutigen (internen) Sklavenhändler lediglich das hartnäckige Auf-uns-Einstürzen einer noch ungesühnten Vergangenheit dar. Die alten Sklaven-Gehege scheinen nie verschwunden zu sein; sie scheinen sich eher ausgeweitet zu haben, scheinen wahllos riesige Räume zu okkupieren, die nur allzu oft mit nationalen Grenzen überein zu stimmen scheinen.

    Zeitliche Nähe oder Ferne eines Verbrechens, das sich bis in die Gegenwart auswirke, sind für Soyinka kein Argument für oder gegen die Rechtmäßigkeit der Forderung nach Wiedergutmachung. Als afrikanischer Fachmann für kathartische, für heilende Szenarien möchte Soyinka Wiedergutmachung aber nicht auf ihre materielle Seite reduziert sehen. In einer "heilenden Trilogie" von Wahrheit, Wiedergutmachung und Versöhnung müsse die Wiedergutmachung vor allem einfallsreich sein. Dies lesend, wird einem bewusst, eine wie untergeordnete Rolle einfallsreiche Gesten bei einer Wiedergutmachung der Verbrechen des Nationalsozialismus gespielt haben. Haben wir da überhaupt mehr als den Warschauer Kniefall von Willy Brandt vorzuweisen? Wie aber Wiedergutmachung als Schacher betrieben wird, hat sich noch jüngst bei dem unsäglichen Hin und Her über eine Entschädigung der Zwangsarbeiter gezeigt. Eine Debatte darüber hat es nicht gegeben.

    So können wir Soyinkas Zuversicht, Wiedergutmachung sei in jedem Falle ein "starkes Hemmnis gegen Wiederholung", kaum teilen. Um in unserem Land der Gefahr einer Wiederholung entgegenzutreten, müssen wir wohl den "Hunger nach Abschluss" unterdrücken und weiterhin die Last des Erinnerns tragen. Denn für den Transfer einer Technologie der Wiedergutmachung nach Art der von Soyinka beschriebenen "Buße der Götter" in der Mythologie der Yoruba sind wir offenbar allzu unterentwickelt.