Tobias Wenzel: Herr Biermann, vor zehn Jahren haben Sie gesagt, Sie hätten Angst davor, eine Autobiographie zu schreiben. Nun haben Sie es trotzdem getan. Warum?
Wolf Biermann: Weil meine Angst vor meiner Frau noch größer ist. Die hat mich gezottelt. Und sie hatte auch gute Argumente, weil sie sagte: "Du musst deine Geschichten aufschreiben! Nicht nur für die Menschheit - das ist nicht so wichtig -, aber für deine Kinder. Du hast zehn Kinder. Und die müssen diese Geschichten kennen."
Wenzel: Ihr Buch beginnt mit dem Satz "Weggerissen wurde der Vater mir, als ich vier Monate alt war." Was war Ihr Vater, Dagobert Biermann, für Sie?
"Also wuchs ich auf mit dem Auftrag, die Menschheit zu retten"
Biermann: Alles und nichts, da ich ihn dann ja nicht so oft sah, weil er dann ja umgebracht wurde nach sechs Jahren Gefängnis. Er war ja nun nebenbei nicht nur Kommunist und Widerstandskämpfer gegen die Nazis, sondern dann fiel den Nazis auf, dass er außerdem noch Jude war. Und dann wurde er leider 1943 entlassen aus dem Gefängnis in Bremen-Oslebshausen und in Auschwitz ermordet. Und meine Mutter Emma, die dann mit mir auch diesen Bombenangriff hier in Hamburg überlebte, und zwar nicht am Rande des großen Feuerorkans, in dem 40.000 Menschen verbrannt sind, sondern im Zentrum des Feuers, nahm mich auf die Schultern, schwamm durch den Mittelkanal, so heißt er, hier in Hamburg, aus dem Feuer raus. Und so sind wir am Leben geblieben. Na, da können Sie sich wohl vorstellen: Meine Mutter hatte was gegen Herrn Hitler und hatte den Ehrgeiz, ein Kind aufzuziehen, am Leben zu erhalten erstmal, das diesem Hitler zeigt, was er davon hat, wenn er so rummordet. Also wuchs ich auf mit dem Auftrag, die Menschheit zu retten, meinen Vater zu rächen und nebenbei den Kommunismus aufzubauen. Und weil ich meiner Mutter diesen kleinen Gefallen tun wollte, ging ich eben mit 16 Jahren 1953 nach Osten und wurde ein DDR-Bürger. Und das war das Beste, was ich in meinem ganzen Leben gemacht habe.
Jetzt müssen Sie als Journalist natürlich fragen: Warum denn Herr Biermann, wo doch in gleicher Zeit Millionen von Menschen von Ost nach West in die Freiheit flüchteten aus der Diktatur? Die hatten ihre guten Gründe und ich kann sie nur dazu beglückwünschen, dass Ihnen das gelungen ist, diese Leute, die alle abhauten nach Westen. Aber für mich, kleines Kommunisten- und Judenkind, war der umgekehrte Weg das einzig Wahre. Warum? Ich musste die Lektion lernen, im Vaterland aller Werktätigen, im Arbeiter- und Bauernparadies wirklich zu leben, und nicht nur als Revolutionstourist mal eben vorbeischnuppern. Und wenn ich das nicht gemacht hätte, wäre ich ja gar nicht der Biermann geworden.
Wenzel: Sie haben ja dann in Ostberlin zuerst einmal Politische Ökonomie studiert. Stimmt es, dass Sie, während Brecht seine letzten Proben machte, lieber Frauen abgeschleppt haben?
"Und dann kippte ich sozusagen auf die Gegenseite"
Biermann: Na ja. "Alles hat seine Zeit", steht in der Bibel. Das wissen Sie doch auch ohne mich. Und ich war gerade dabei zu bemerken … Das ist das, was Brecht übrigens nennt "das Spiel der Geschlechter". Und damit war ich voll beschäftigt. Und als ich diese Lektion auch gelernt hatte, kriegte ich eine Freikarte für das Berliner Ensemble, für den "Kaukasischen Kreidekreis" mit der Helene Weigel in der Hauptrolle und Ernst Busch, und sah mit eigenen Augen zum ersten Mal echt eine Brecht-Aufführung. Und weil ich doch so ein kluger Junge war, merkte ich sofort, dass die das alles verkehrt machten. Aber ich habe mich so intensiv geärgert, dass ich mir dann noch mal selbst eine Karte kaufte. Ich ging dann ein drittes, viertes und fünftes Mal und fraß mich rein in diesen Brecht. Und dann kippte ich sozusagen auf die Gegenseite.
Wenzel: Und Sie sind rotzfrech, würde ich sagen, zur Witwe von Brecht, Helene Weigel, gegangen, ins Berliner Ensemble, und haben ihr gesagt: Ich möchte Regisseur werden, Theaterregisseur. Und tatsächlich sind Sie sofort eingestellt worden. Und ein paar Jahre später hat Hanns Eisler Sie als Liedermacher entdeckt. Hatten Sie einfach sehr viel Glück?
Biermann: Natürlich muss man Glück haben. Aber man muss auch pfiffig sein und das Glück festhalten und erkennen und sich selber einmischen in seine eigenen Angelegenheiten. Sonst gähnt das Glück vor Langeweile und geht weiter. Und ich habe die Chance ergriffen. Die Weigel, also die Intendanten damals des Berliner Ensembles, hat sich gefreut über mich. Sie hat gemerkt, dass ich Interesse hatte, dass ich kein Langweiler war. Aber viel wichtiger als das war noch etwas ganz anderes - und das muss ich Ihnen auf Ihre jugendliche Westnase binden: Sie merkte im Gespräch, dass ich von Theater wirklich keine Ahnung hatte. Und das sprach aus ihrer Sicht für mich. Das klingt jetzt wie ein blöder Witz und ist die Wahrheit.
Wenzel: Sie haben Auftritts- und Veröffentlichungsverbot in der DDR bekommen, Sie sind ausgebürgert worden. Und in beiden Fällen hatten Sie mit der Stasi zu tun, auch, als Sie schon im Westen waren. Würden Sie sagen, die Stasi hat Ihnen nur geschadet oder Sie auch ein bisschen reicher gemacht?
"Die Akten der Staatssicherheit sind deutsche Wertarbeit"
Biermann: Na ja, wenn man witzig sein will und ironisch, dann kann man natürlich sagen: Ihr Schweinehunde, habt mir im Grunde zugearbeitet. Allein schon dadurch, dass ihr alles, was ich ja sonst vergessen hätte, Namen, Zusammentreffen … Da besucht mich Allen Ginsberg aus New York, der Dichter der Beat Generation, und mich besucht Joan Baez, die Folklore-Sängerin, die ich so liebe - und alles das steht ja haarklein und genau in meinen Akten. Die Akten der Staatssicherheit sind deutsche Wertarbeit. Und das ist natürlich ein unglaublicher Service. "Kostenlos" würde ich das nicht nennen. Denn bezahlt haben wir alle mit Ängsten, mit Seelengeld, mit Tränen, mit Wut, mit Verbitterung. Aber wenn das dann überstanden ist, dann freut man sich doch, dass diese Verbrecher so ordentlich gearbeitet haben.
Wenzel: Sie haben gesagt, Ihre Utopie Kommunismus ist verschwunden: "Die heile Heimat Utopie hab ich verloren." Was ist für Sie an die Stelle der Utopie getreten?
Biermann: Die hoffnungslose Hoffnung auf die Vernunft des Menschen. Wir haben ja eben leider kein höheres Wesen. Das habe ich schon von meiner Mutter gelernt und nachgeplappert. Und wir müssen es schaffen ohne fremde Hilfe von oben, uns zu retten vor der Selbstvernichtung auf der Erde. Heute verbraucht eine einzige Generation, wie meine zum Beispiel, mehrere Epochen. Stellen Sie sich das mal vor: Ein kleiner Mensch mit seiner kurzen Lebenszeit von lächerlichen 80 Jahren erlebt die erste Diktatur in Deutschland, in der Nazizeit, überlebt den Krieg, überlebt die zweite Diktatur in der DDR und überlebt auch den Wechsel in die Freiheit, auf die ich nicht gut vorbereitet war. Denn in der Diktatur lernt man sehr gut, wenn man intelligent ist, sich zu wehren gegen die Diktatoren. Aber Freiheit ist auch schwer! Denn "Freiheit" heißt in nacktes Deutsch übersetzt nichts anderes als verantwortlich sein für sich selber. Und das tut weh! Freiheit ist auch ganz schön schwer.
"Die Freiheit führt dazu, dass die Menschen die Freiheit aufs Spiel setzen"
Wenzel: Aber ist nicht genau diese Freiheit gerade in Deutschland, in Europa bedroht. Ich denke zum Beispiel an den erstarkten Rechtspopulismus, den Sie ja auch jetzt erlebt haben. Ich finde aber in Ihrem Buch abgesehen von einem Absatz kein einziges Wort dazu. Warum nicht?
Biermann: Weil ich keine Tageszeitung bin.
Wenzel: Sie meinen, das ist noch nicht geschichtswürdig oder man kann es noch nicht bewerten?
Biermann: Das ist nicht etwa nicht geschichtswürdig, sondern das ist alt wie die Menschheitsgeschichte. Der Plato hat das doch alles schon gewusst und geschrieben! Die Freiheit führt dazu, dass die Menschen die Freiheit aufs Spiel setzen, weil sie sie nicht mehr achten. Sie brauchen erstmal wieder was auf die Fresse! Sie brauchen wieder die Ketten. Sie brauchen die Leiden der Diktatur, damit sie sich nach der Freiheit sehnen. Und wenn sie sie dann haben, dann achten sie sie gering, bis sie dann wieder auf allen Vieren kriechen und jammern nach der Freiheit. Und wenn es stimmt, dass die Geschichte noch nicht ganz zu Ende ist, dann wird das immer so weiter gehen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Wolf Biermann: "Warte nicht auf bessre Zeiten! Die Autobiografie", Berlin, Propyläen 2016, 543 Seiten, 28 Euro