Einen akribischen Wahrheitssucher nannte ihn die "FAZ" einmal, denn er veröffentlichte Standardwerke, in denen er das empirisch erfassbare Ausmaß des Holocausts belegte, die Geschichte des Dritten Reiches und die persönliche Verantwortung vieler Deutscher darlegte oder das Wissen über sämtliche Konzentrationslager erfasste. Die Rede ist von Professor Dr. Wolfgang Benz, geboren 1941 im nordwürttembergischen Ellwangen, deutscher Historiker der Zeitgeschichte und international anerkannter Wissenschaftler unter anderem der Vorurteilsforschung. Benz studierte Geschichte, politische Wissenschaften und Kunstgeschichte. Ab 1969 war er zwei Jahrzehnte lang als wissenschaftlicher Mitarbeiter am renommierten Institut für Zeitgeschichte in München tätig. 1990 dann der Wechsel an die Technische Universität Berlin, wo er bis 2011 das Zentrum für Antisemitismusforschung leitete. Diese Einrichtung beschäftigt sich mit Vorurteilen und ihren Folgen, wie Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Benz initiierte Projekte, welche Vorurteile wie Minderheitenfeindlichkeit analysierten, daraus resultierende Fälle von Gewalt untersuchten, aber auch Lösungen zum Zusammenleben erarbeiteten. Aufsehen und teilweise heftigen Widerspruch erntete er kurz vor seiner Emeritierung mit der These, dass - Zitat - Antisemiten des 19. Jahrhunderts und manche Islamkritiker des 21. Jahrhunderts mit ähnlichen Mitteln an ihrem Feindbild arbeiten würden. Aktuell beschäftigt die Anti-Islam-Bewegung Pegida den Historiker.
Unsere Welt der Vorurteile. Wolfgang Benz im Streit um Vergleiche und Vergleichsverbote
Birgit Wentzien: Herr Benz, Sie sind Historiker, einer der wichtigsten Zeithistoriker dieses Landes. Und Ihr Stoff ist die Geschichte und das Vorurteil. Das hat ja bekanntlich mit Wissen und mit Intelligenz kaum etwas zu tun. Haben Sie selber am eigenen Leib Vorurteil mal erlebt in Ihrem Leben?
Wolfgang Benz: Na, ich denke, jeder von uns ist ständig und immer mit Vorurteilen konfrontiert, mit Zuschreibungen. Oder man hat aufgrund seines Aussehens, seines Dialektes, seiner Religion, seiner Herkunft ... Also, dass man über Vorurteile verortet wird, das, glaube ich, passiert jedem von uns, und zwar ganz regelmäßig.
Wentzien: Haben Sie was besonders prägnantes gerade im Sinn, wenn Sie sich erinnern?
Benz: Nein.
Wentzien: Ärger haben Sie bekommen, als Sie vor Jahren bereits den Hass gegen Muslime verglichen haben mit Antisemitismus, also mit dem Hass gegen Juden. Wie war das damals? Ziemlich wuchtig von der Kritik!
Benz: Das hat eine Schmähkampagne gegen mich ausgelöst, das hat ... Unter Wissenschaftlern, unter seriösen Menschen war das überhaupt nicht umstritten. Ich habe eine Tagung veranstaltet, um das Feindbild Jude mit dem Feindbild Muslim zu vergleichen, da haben dann Aufgeregte gleich geschrien, ich würde Juden und Muslime vergleichen. Was natürlich vollkommener Unsinn wäre, wenn man das versuchen wollte. Und Eifrige, Übereifrige, ganz Eifrige haben mir also unterstellt, ich würde da Unerlaubtes tun. Ganz klar, der Direktor des Zentrums für Antisemitismusforschung ...
Wentzien: Der Sie damals waren.
Benz: ... der ich damals war, der soll nicht vergleichende Ressentimentforschung treiben - nach der Meinung von Aktivisten -, sondern der soll dieses akademische wissenschaftliche Forschungs- und Lehrinstitut als Agentur zur Herstellung der Liebe zu den Juden führen. Das ist ein großes Missverständnis. Und ich habe deutlich gemacht, habe das dort auch noch in ein, zwei Büchern nachgeführt, worum es geht: nämlich um das Verhalten der Mehrheit gegenüber beliebigen Minderheiten. Und im Falle Antisemitismus und Muslimfeindschaft kann ich das auch mit allen Details beweisen, wie man eine Minderheit über ihre Religion im Falle der Juden einst diffamiert hat und im Falle der Muslime heute diffamiert.
"Ich sollte ja als Mensch, als Person vernichtet werden"
Wentzien: Lassen Sie mich es ein bisschen unterfüttern! Es war so um die Zeit 2010. Und lasse Sie mich sagen: Möglicherweise, Professor Benz, waren Sie auch damals Ihrer Zeit voraus. Es ging unter anderem um den Minarett-Streit auch in der Schweiz und Sie haben damals gesagt, Antisemiten des 19. Jahrhunderts und manche Islam-Kritiker des 21. Jahrhunderts arbeiten mit ähnlichen Mitteln an ihrem Feindbild, und wer sich zu recht über die Borniertheit der Judenfeinde entrüstet, muss aber auch das Feindbild Islam kritisch betrachten; es ist ein Gebot der Wissenschaft, die Erkenntnisse, die aus der Analyse des antisemitischen Ressentiments gewonnen wurden, paradigmatisch zu nutzen und anzuwenden. Damals kamen dann die Kritiker um die Ecke und sagten, Sie seien ahnungslos - ausgerechnet Sie - und Ihre Parallelen seien abwegig. Nicht unbedingt mit Vorurteilen kämpfend, aber mit diesem Ärger und dieser Ungerechtfertigtheit, wie geht man damit um?
Benz: Ja, Aufregung nützt dann gar nichts. Ich wusste ja, war auch von seriösen Kollegen bestärkt, ich wusste ja, das stimmt, was ich sage. Ich konnte mir auch den Ärger und die Wut von den Feinden, das konnte ich nachvollziehen. Aber jetzt den Gefallen, dass ich ebenfalls unter der Gürtellinie, wo das natürlich auch zum großen Teil ... Ich sollte ja als Mensch, als Person vernichtet werden, damit meine Thesen aus der Welt sind, auf dieses Niveau wollte ich mich natürlich nicht begeben. Das hat die Feinde möglicherweise auch noch einmal geärgert. Und so viel Zeit, um jetzt alle Frechheiten, alle Anwürfe, alle Insinuationen, die etwa von wütenden Internetbloggern gegen mich vorgebracht wurden, das alles zu verfolgen, so viel Zeit hatte ich einfach nicht, habe ich nicht, die investiere ich also dann lieber in seriöse Dinge.
Wentzien: Welche Eigenschaften hat Wolfgang Benz damals vor allen Dingen aktiviert, um ruhig zu bleiben, um gelassen zu bleiben und auch diesen Shitstorm damals schon zu überstehen? Geboren im schwäbischen Ellwangen, behütet aufgewachsen in einem katholischen Elternhaus ... Gibt es Muttergene, Vatereigenschaften, die Sie da haben einfach stehen lassen als Wissenschaftler?
Benz: Da habe ich nie drüber nachgedacht. Ich fühle mich eigentlich immer sehr wohl, wenn ich was zu tun habe, wenn ich etwas schreibe. Und ich habe einfach gearbeitet. Und es gab genug Arbeit zu tun und habe den Shitstorm dann da rechts und links vorbeifließen lassen und habe meine Arbeit getan. Und da ging es mir gar nicht so schrecklich schlecht dabei.
Probelauf im Journalismus, das Institut für Zeitgeschichte in München und die Berufung zum Historiker
Wentzien: Ich bleibe noch mal ein bisschen bei Ellwangen und möchte Sie fragen, warum aus dem 18-jährigen Volontär damals in Ellwangen bei der "Ipf- und Jagst-Zeitung" nicht der Journalist Wolfgang Benz geworden ist. Sie haben ja damals sogar freitags immer den Chef vertreten, der saß in der Kemenate und machte den Wochenkommentar, wie es sich gehört, und damals waren Sie der Chef vom Dienst. Warum sind Sie bei dem Gewerbe, in dieser Branche, in unserer Branche nicht geblieben?
Benz: Na ja, es gibt Zufälle, es gibt Unglücksfälle und man entgleist dann unter Umständen von den Schienen, auf denen man sich so Richtung Lebensziel wähnt. Das war schlicht und einfach so. Man hat mir nun geraten, Geschichte zu studieren, hat mich auch ziemlich stark interessiert. Interessiert hat mich nicht mittelalterliche Geschichte und auch der Antike konnte ich nicht so viel abgewinnen, es war natürlich Zeitgeschichte, die Geschichte des 20. Jahrhunderts, die mich interessiert hat. Und als ich dann im 5. Semester durch einen Zufall erfuhr, dass im Institut für Zeitgeschichte in München eine studentische Hilfskraft für ein Projekt gesucht wird, war mir natürlich klar, da musst du hin. Denn das hatte ich schon im ersten Semester in Frankfurt erfahren: Das Institut für Zeitgeschichte in München, das ist das Mekka für diese Disziplin, dort muss man hin. Also bin ich sofort hingeeilt, bekam einen extrem mäßig bezahlten Job für ein Archivprojekt und habe dann so mit der rechten Hand im Archiv im Institut für Zeitgeschichte gearbeitet, mit der linken Hand noch ein kleines bisschen studiert. Und für Journalismus, das war damit zu Ende. Ich ahnte das noch nicht, aber es hat sich dann so ergeben.
"Die Attitüde des Gelehrten steht mir nicht"
Wentzien: Ihre Wissenschaftskarriere, Ihr Wissenschaftsweg im Zeitraffer, Sie haben schon ein bisschen begonnen ihn zu erzählen, ich darf kurz ergänzen: Studium in Frankfurt, dann Kiel und München, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte in München, Gastdozent unter anderem in Australien, Mexiko, Bolivien und Österreich, der Lehrauftrag an der TU in München folgte, und dann von 1990 bis 2010 waren Sie Direktor des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU in Berlin. Herr Benz, Sie sagen, zeitlebens seither und kurz nach dem Volontariat, ich bin Historiker und ich wollte nie Gelehrter werden. Warum unterscheiden Sie zwischen diesen beiden Kategorien?
Benz: Die Attitüde des Gelehrten steht mir nicht. Die Attitüde des Gelehrten, der mit seinem Stoff aufs Innigste verwoben ist und eigentlich nichts anderes kennt, der dann auf einem wissenschaftlichen Kongress auftritt und sich drei engeren Fachkollegen gerade noch verständlich machen kann, könnte auch sagen, der im Elfenbeinturm sitzt und dort selbstzufrieden seiner Wissenschaft obliegt, das konnte ich mir nie vorstellen. Ich habe also Wissenschaft immer, oder meine Beschäftigung mit Wissenschaft immer als eine öffentliche Angelegenheit verstanden, ich habe mich immer als Dienstleister verstanden. Natürlich gegenüber den Studierenden ebenso wie ich das Bedürfnis dann hatte, Erkenntnisse wie über die Vergleichbarkeit des Antisemitismus mit der Muslimfeindschaft, die Austauschbarkeit der Reaktionen von der Mehrheit auf Minderheiten, das auch unmittelbar öffentlich zu machen und mich an den Diskursen der Gesellschaft zu beteiligen und die Erkenntnis, die ich gewonnen habe, jetzt nicht in der wissenschaftlichen Zelle zu begraben, sondern nutzbar zu machen.
Wentzien: Wie sind die anderen Zellengänger mit Ihnen umgegangen? Da waren ja viele um Sie herum, die eben schon mehr Gelehrte als öffentliche Historiker waren. Hat man das immer goutiert?
Benz: Ich habe zumindest nie etwas gespürt davon, ich habe mich also an der Technischen Universität in Berlin, wo ich von 1990 bis 2011 aktiv war, sehr wohlgefühlt, habe mich im Kollegenkreis sehr wohlgefühlt. Manchmal hatte ich natürlich auch ein bisschen Neidgefühle gegenüber also jetzt so einem großen Gelehrten, der jetzt alles über Bismarck weiß und da ein 12.000 Seiten starkes Buch darüber geschrieben hat und dafür dann auch die ... für den der Sockel dann hergerichtet wird als ... Ich bin eigentlich eher nur so ein kleiner Springinsfeld, der über dieses arbeitet und jenes und mit viel zu viel Themen, und gelegentlich hat man mir das natürlich schon auch ... Die Art, wie man mich dann irgendwo einführt bei einem Vortrag oder so, wie unendlich viele Bücher ich angeblich geschrieben habe, da schwingt dann natürlich schon ein bisschen mit: hirnloser Vielschreiber!
Wentzien: Norbert Frei, Ihr Historikerkollege, hat Sie einmal einen öffentlichen Aufklärer genannt, einen Volksaufklärer. Wollen wir den Titel akzeptieren?
"Öffentlicher Aufklärer, das ... Das schmeichelt mir"
Benz: Ja, ja. Also, Volksaufklärer klingt natürlich ein bisschen herablassend, das ist nicht beabsichtigt, aber öffentlicher Aufklärer, das ... Das schmeichelt mir.
Wentzien: Der Vorurteilsforscher ist zu Gast im Deutschlandfunk, Wolfgang Benz. Braucht eigentlich eine Gesellschaft Vorurteile und Feindbilder? Ich will Ihnen kurz sagen, wo ich hinmöchte, es ist etwas positiv, vielleicht zu positiv formuliert: Wer Vorurteile pflegt, will sich ja abgrenzen, will erst mal gucken, wo beginne ich und wo ist der andere, der sucht ja so etwas wie Identität. Also, wenn wir beide uns so gegenübersitzen, schier überlebensnotwendig, dass hier irgendwo eine Tischkante ist, die auch klar macht, wo Benz ist und die Interviewerin anfängt. Also, gibt es auch, wenn Sie über die lange Zeit hinwegschauen Ihrer Forschungen, auch irgendetwas Positives, was Sie einem Vorurteil abgewinnen können?
Benz: Ja, sicher. Wir haben ja auch und gehen ja auch mit positiven Vorurteilen um. Die schöne Jüdin, der edle Zigeuner, der martialische oder der heldische Magyar. Wir haben nicht nur Feindbilder, sondern wir haben auch überhöhte Bilder vom anderen, die uns lieb sind, die auch das Zusammenleben erleichtern.
Wentzien: Es ist auch so eine Identitätssuche, würden Sie sagen?
Benz: Unbedingt.
Wentzien: Integrationssuche vielleicht auch?
Benz: In der Regel funktioniert es ja eher, dass man ausgrenzt, dass sich die Mehrheitsgesellschaft darüber verständigt: Wir sind die Richtigen, wir sind die Guten. Und dann zeigt man mit den Fingern auf diejenigen, die unseren Ordnungssinn nicht teilen, die einen weniger ausgeprägten Arbeitsfleiß und Erwerbssinn haben, die unsere Reinlichkeitsgebote nicht so internalisiert haben. Aber das kann auch ... Aber in einem sehr viel geringeren Maße gibt es da auch die positive Seite.
Antisemitismus gestern und heute
Wentzien: Herr Benz, Sie sagen, es gibt keinen neuen Antisemitismus und es gibt auch nicht mehr Antisemitismus, sondern es gibt eine beständige Größe von Menschen, von Ressentiments, von Vorurteilen in diesem Land, die kontinuierlich zu beobachten ist und die sich jeweils wahrscheinlich auch immer andere Wege sucht der Artikulation des Ausdrucks. Wie messen Sie diese beiden Größen?Benz: Ich messe das gar nicht. Da ich Historiker bin und nicht Soziologe, ich verlasse mich auf die Ergebnisse der Demoskopie, die gerade im Falle Antisemitismus praktisch seit 1949 regelmäßig Befunde erhebt und im Gegensatz zu aufgeregten Aktivisten und Funktionären und welchen, die da von Berufs wegen warnend den Finger erheben müssen, zu dem Ergebnis immer wieder kommen: Es ist ein gleichbleibender Bodensatz von negativen Einstellungen gegenüber Juden, das muss noch nicht Antisemitismus sein, sondern das sind Ressentiments, die vorhanden sind, die aber jetzt weder in Gewaltbereitschaft münden noch in den Wunsch, es gäbe diese Gruppe nicht. Also, die Einstellung ist noch nicht der militante Antisemitismus, der jetzt zu gewaltsamen Exzessen neigen würde. Also, das ist über die Jahrzehnte gleich mit einer leicht abnehmenden Tendenz. Das ist Ergebnis der wissenschaftlichen Beobachtung des Phänomens. Das hat natürlich überhaupt nichts mit den Emotionen von in Deutschland lebenden Juden zu tun, in die ich mich sehr gut hineinversetzen kann, dass sie sagen, wir sitzen hier auf einem Pulverfass, und die ängstlich - was einmal passiert ist, kann immer wieder passieren -, die also ängstlich oder jedenfalls mit kritischer, mit sehr kritischer Aufmerksamkeit beobachten, ob das weiterhin gut geht.Wentzien: Das ist jetzt auch der Fall? Also, dass Juden in Deutschland sagen, wir sind uns eigentlich nicht sicher, ob wir hierbleiben wollen?Benz: Ja, das hat sich ja nun im vergangenen August, September sehr deutlich gezeigt, als im Rahmen von Anti-Israel-Demonstrationen in einigen deutschen Großstädten - es war vor allem in Berlin - Unanständiges von jungen Muslimen gerufen wurde, und nicht immer sind die auch von der Polizei so schnell zur Ordnung gerufen worden, wie sich das gehört hätte. Das hat natürlich zu Irritationen geführt. Da kam dann das Diktum vom neuen Antisemitismus auf, da hat der israelische Botschafter sich in das Jahr 1938 zurückversetzt gefühlt und von der Reichskristallnacht gesprochen; da hat der damalige Präsident des Zentralrats der Juden von einer ganz unglaublichen Explosion des Antisemitismus in Deutschland gesprochen. Davon kann aber keine Rede sein, also, professionelle Wissenschaft kann das unter gar keinen Umständen bestätigen, und dass der Vergleich - 1938, Reichskristallnacht - äußerst schief ist, dazu muss man auch kein professioneller Historiker oder Vorurteilsforscher sein."Es hat sich keine generelle Qualitätsveränderung ergeben"Wentzien: Ich erinnere mich sehr gut an den Sommer letzten Jahres. Sie haben damals gesagt, Herr Benz, diese antijüdischen Parolen meinen die Juden, und Sie haben damals zwischen den Zeilen für mich auch gesagt, sie treffen aber die deutsche Gesellschaft und auch so etwas wie einen Kerngedanken dieses Landes. Und Sie haben es noch mal ein bisschen numerisch aufgelistet: Das ist keine Lawine, waren Ihre Worte, sondern das ist eine unheilige Allianz aus Islamisten, Neonazis und extrem Linken. Wenn wir heute, das halbe Jahr später auch angesichts und vergegenwärtigt noch mal mit den Protesten in Sachsen und anderswo die Landschaft anschauen, bleiben Sie dabei? Also, es ist nicht mehr und keine andere Qualität? Also, sagen Sie das genauso nach Pegida, mit Pegida immer noch?Benz: Ja, ja. Es hat sich keine generelle Qualitätsveränderung ergeben. Es wäre ja ganz grässlich und es wäre ja ein Offenbarungseid, wenn wir mit den ganzen Bemühungen der letzten Jahrzehnte, vieler Jahrzehnte, der ganzen Bemühung politischer Bildung, Medien, Politik, Wissenschaft ... Wir alle zusammen haben ja erhebliche Anstrengungen unternommen, um Antisemitismus so klein zu halten, wie es nur irgend geht, um zu lernen aus dem, was geschehen ist. Das möchte ich deshalb nicht so einfach mit schnellfertigen Vergleichen und mit der kurzatmigen Aufregung weggewischt sehen. Deshalb beharre ich auch da mit einiger Stringenz darauf, dass das nicht beliebig ist. Habe natürlich gelernt, als Antisemitismusforscher, dass man von Experten in unglaublicher Zahl umzingelt ist, das wissen im Zweifelsfall alle dann besser, obwohl ein beträchtlicher Teil auch der Aktivisten eher ahnungslos ist, sondern nur mit dem guten Willen, das Gute jetzt nun brachial durchzusetzen, antritt.Wentzien: Aber das wäre ja eine ganz wichtige Botschaft in diesen sehr aufgeregten Shitstorm-Pegida-Zeiten. Auf das Phänomen nicht nur in Sachsen kommen wir bitte gleich noch, nämlich die Botschaft, die Sie jetzt gerade formuliert haben: Dass damals mit diesen antijüdischen Parolen auf den Straßen die Juden gemeint waren, aber nicht der Kern der deutschen Gesellschaft auch der Erinnerungskultur in diesem Land betroffen oder verletzt worden ist.Benz: Nein, die waren das ja nicht. Das waren ja ein paar lautstarke maulfreche Außenseiter, die jetzt im Gaza-Krieg diese Demonstrationen benutzt haben, um da ihre trübselige Suppe dran zu kochen. Das war nicht die deutsche Gesellschaft. Und das muss man ganz deutlich machen. Deshalb bin ich einerseits unfroh, dass die Polizei nicht sofort die Krakeeler gehindert hat zu krakeelen, und zum anderen, dass damit Raum gegeben wurde, dass die ewigen Alarmisten dann jetzt so den Eindruck erwecken können, alle Anstrengung war umsonst. Und es ist halt immer so wie mit diesem dummen Schlagwort: der ewige Antisemit in Deutschland.Muslime in Deutschland, Versäumnisse und Gebote im UmgangWentzien: Der Vorurteilsforscher Wolfgang Benz sagt, Antisemitismusforschung ist Dienstleistung gegenüber der Gesellschaft, gegenüber der Mehrheitsgesellschaft und den Minderheiten im Land. Ich würde Sie gerne fragen, wir haben es schon kurz angesprochen: Warum bekommen wir, sage ich jetzt mal, als Mehrheitsgesellschaft eigentlich so wenig mit, was innerhalb der muslimischen, der islamischen Teilgesellschaft stattfindet, und zwar auch an Streit zwischen liberalen und eher, sagen wir mal, fundamentalistischen Ausrichtungen? Wäre das nicht gut für uns, wenn wir da mehr Wissen hätten? Das ist Ihr Credo, Herr Benz, Sie haben immer gesagt, wir wissen zu wenig und Aufklärung hilft. Warum lässt man aber auch uns nicht blicken, würde ich jetzt mal behaupten?Benz: Na ja, ich würde sagen, man lässt schon blicken. Ich habe Einladungen in Moscheevereine, Einladungen zu einem islamischen Kulturzentrum, um dort mit Muslimen zu diskutieren. Man muss die Einladungen aber auch annehmen und man muss vielleicht noch eines mehr tun: Man muss von sich aus auf die Minderheit zugehen und sagen, ich interessiere mich, ich möchte mit euch ins Gespräch kommen. Denn wenn man das nicht tut, läuft man nebeneinander her, dann würde die zu Recht gefürchtete Parallelgesellschaft ja auch wirklich entstehen. Und je länger wir Zeit verstreichen lassen, je länger wir uns beim Nichtinteresse und der daraus folgenden Ausgrenzung ... damit begnügen, desto schwieriger wird die Kluft zwischen dem muslimischen Teil der deutschen Gesellschaft und dem autochthonen Teil der deutschen Gesellschaft.Wentzien: Wie erleben Sie das im Moment? Also, Sie sagen, es ist noch nicht so groß, die Kluft, aber sie droht, größer zu werden. Wir hören verschiedenste Stimmen von ja auch ganz verschiedenen Vertretern auch der Organisationen von muslimischen Verbänden, da gibt es eben nicht diese eine Papstfigur oben drüber und/oder einen EKD-Präsidenten wie bei der evangelischen Kirche, das ist ja eine eher diskursive, sehr aufgeteilte Gesellschaft. Ich habe jetzt jüngst gelesen von einer Muslima in Nordrhein-Westfalen, die Mitglied auch des Landtages ist, Mitglied im Bundesvorstand der CDU, sie heißt Serap Güler, und sie sagt beispielsweise sehr plakativ, meint ihren Glauben: Der Islam brauche einen Imagewechsel, die Muslime müssen die Deutungshoheit über ihre Religion wiedererlangen, sie müssen sich Auseinandersetzungen auch stellen, die Zeit, immer wieder genannt, sei reif für das Modell eines europäischen Islams. Anschließend an das, was Sie gesagt haben, Herr Benz: Erleben Sie eine Offenheit, wenn Sie auf muslimische Gemeinden und Einrichtungen zugehen und dort auch hinwollen?Benz: Ja, die ...Wentzien: Und lässt man Sie auch teilhaben an Auseinandersetzungen innerhalb der muslimischen Community?Benz: Nicht unbedingt. Also, das verlange ich auch nicht. Wenn ich ... Also, ich will auch ... Wenn ich Protestant wäre, würde ich also jetzt nicht unbedingt die inneren Auseinandersetzungen der katholischen Kirche mitverfolgen oder mich da beteiligen wollen. Mir stellt sich das Problem eher ein bisschen so: Man ist sehr schnell - von der Mehrheitsgesellschaft - bei der Hand, von den Muslimen zu verlangen, sie müssten sich aber jetzt positionieren, reformieren, revolutionieren, eine Aufklärung herbeizitieren und sie müssten sich also distanzieren von bösartigem Islamismus. Ja, sie tun das ja dauernd. Aber das wird offenbar ... Es genügt nicht. Es mutet an, als wolle man sie in der Bringschuld halten ... Vertreter der Muslime wollten auch gerne ihre Solidarität mit den Juden unter Beweis stellen am Brandenburger Tor bei der Veranstaltung ...Wentzien: Bei der Mahnwache ...Benz: ... im Herbst, als auf Einladung, auf Wunsch des Zentralrats der Juden ein katholischer Würdenträger, ein protestantischer Würdenträger sprach, aber ein Muslim war ausdrücklich unerwünscht. Das kontrastiert dann so ein bisschen mit der ewigen Aufforderung, ihr müsst euch aber jetzt positionieren und ihr müsst euch ganz eindeutig von den Terroristen, die den Islam missbrauchen, abgrenzen und den verurteilen."Das darf auch nicht jetzt eine einmalige Veranstaltung sein"Wentzien: Dann kann man aber jetzt zumindest in diesem Moment sagen, wiederum nach einem halben Jahr und nach den barbarischen Attentaten in Frankreich: Dann ist ja das Gedenken, sagen wir mal, am Brandenburger Tor diesmal gelungener aufgestellt worden. Eingeladen haben die muslimischen Verbände, Seit an Seit stand die Politik. Von daher könnte das ja bei aller gravierenden Situationslage im Moment dann noch eine Vorwärtsbewegung sein an der Stelle.Benz: Ja, unbedingt, unbedingt. Und das darf auch nicht jetzt eine einmalige Veranstaltung sein, sondern erwünscht, notwendig ist ja, dass jetzt auch der Zentralrat der Muslime genauso Gesprächspartner der Bundesregierung wird, wie es der Zentralrat der Juden in Deutschland schon ist. Und dasselbe gilt für den Zentralrat der Sinti und Roma, der aber wahrscheinlich schon ein bisschen dichter an der Regierung dran ist als der Zentralrat der Muslime. Aber die Muslime sind von allen Minderheiten die größte Gruppe in Deutschland. Ich sehe mit großer Zustimmung und Zuversicht jetzt auch das Agieren der Kanzlerin, die jetzt nach anfänglicher Reserve aber jetzt doch auch ganz deutlich sich positioniert: Die deutschen Muslime sind ein Teil der deutschen Gesellschaft, der Islam gehört zu Deutschland wie die katholische Kirche, wie die Protestanten.Das Phänomen Pegida in Sachsen und Versäumnisse der PolitikWentzien: Wir haben Sachsen schon kurz angesprochen, alles, was sich dort hinter den Buchstabenkombinationen Pegida verbirgt: Patriotische Anhänger nennen sie sich selber, gegen die Islamisierung des Abendlandes. Muslime unter Generalverdacht ist das Ziel. Was ist das, lieber Herr Benz mit Ihrer langen Expertise und tiefen Expertise, was ist das für ein Phänomen, das da von allen und vielen sehr aufgeregt und etwas nervös auf dem Radarschirm beobachtet wird?Benz: Ich sehe das in erster Linie als ein Phänomen der Ratlosigkeit. Hier kristallisieren sich Ängste in der Bevölkerung ganz offensichtlich mit einem ... regional ganz eng fokussiert. Denn der Erfolg dieser Bewegung ist ja Dresden und Umgebung und sonst nirgendwo so recht. Aber es sind Bürger, von denen ich auch gar nicht jetzt allen unterstellen will, dass sie rechts sind oder dass sie enragierte Muslimfeinde sind, dazu haben sie wahrscheinlich auch viel zu wenig Berührung mit dieser Minderheit, die kommt ja nun in Sachsen, in Dresden kaum vor. Aber es gibt auch einen Antisemitismus ohne Juden, der ganz hervorragend funktioniert. Es heißt also, es geht um Konstrukte, es geht um Überfremdung, es geht darum, Ängste zu artikulieren irgendwo, zu kanalisieren. Und das machen die Organisatoren dieser Bewegung mit relativ viel Zustimmung über solche Versatzstücke wie den Begriff Abendland. Das weiß ja niemand so genau, was das ist, ich habe das in der letzten Zeit häufig öffentlich erklären dürfen, aber es ist eigentlich nur eine Chiffre, die man beliebig mit Inhalt anfüllen kann. Es sind also in erster Linie frustrierte Bürger, die leider ihr Bürgerrecht nicht wahrnehmen, sondern anstatt zur Wahl zu gehen und über Wahlen die Lebensumstände zu beeinflussen, protestieren sie auf der Straße gegen die Schimäre Zuwanderung, gegen einen angeblich gefährlichen Islam, der Europa überwältigen will, und sie protestieren aber vor allem und in erster Linie gegen die Obrigkeit, die sie nicht ... und gegen Zustände, die zu komplex sind, als dass man sie ohne Weiteres verstehen könnte."Die Pegida-Leute fühlen sich ja doch von der Politik ganz offensichtlich im Stich gelassen"Wentzien: Historiker können klarer sehen, das kann man sagen, nämlich die Gegenwart. Historiker aber, das haben Sie immer gesagt, geben keine Handlungsanweisung für eine bessere Zukunft. Nun klopft heute, nein, gleich nach unserem Gespräch die Kanzlerin an, die Obrigkeit, und sagt: Professor Benz, was sollen wir tun, was sollen wir mit diesen Menschen machen, die wir ja zum Teil auch nicht erreichen, die sich ja auch verweigern und die möglicherweise ja für Informationen, für Aufklärung auch gar nicht mehr zugänglich sind, weil sie sich längst abgekehrt haben? Was würden Sie Angela Merkel antworten?Benz: Ich würde mir von der Politik mehr Bürgernähe als Selbstzufriedenheit erwarten und erhoffen. Die Pegida-Leute fühlen sich ja doch von der Politik ganz offensichtlich im Stich gelassen. Wo sind die Abgeordneten vom Bundestag, die Abgeordneten vom Sächsischen Landtag vor Ort? Wie stark kümmern die sich? Ich habe das in Mecklenburg-Vorpommern bei anderer Gelegenheit erlebt, wo dann der Landrat, der Landtagsabgeordnete, die Bürgermeisterin vereint nur gejammert und geklagt haben, dass es so viele Rechte gibt, dass es gar keinen Sinn mehr hat, auf die Dörfer zu gehen, um mit den Leuten zu reden. Denen habe ich gesagt, ja, deshalb müsst ihr ja doch gerade, ihr müsst vor den Rechten in den Dörfern sein und euch positionieren und das Ohr für die Bürger haben, ehe die kommen, weil ihr nicht erscheint, weil ihr so viel in euren Büros zu tun habt und die dann in dieses Vakuum stoßen und sagen, wir helfen euch und wir zeigen euch, wie man aus der Krise kommt! Das können die zwar nicht, aber sie können doch intensiv Politik, das demokratische System desavouieren. Und das halte ich für ganz gefährlich.Die Vergangenheitsbewältigung, deutsche Erinnerungspolitik als Staatsräson und ein Blick in die ZukunftWentzien: Herr Benz, wir hatten ein Erinnerungsjahr, 1914 im vergangenen Jahr 2014, wir haben in diesem Jahr viele wichtige Daten, ein paar seien genannt, 100 Jahre Erster Weltkrieg, 25 Jahre Mauerfall, 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges. Die Deutschen habe einige Komplimente bekommen von außen, und zwar ob ihrer Art und Weise, sich zu erinnern. Manche - beispielsweise, es gibt britische Stimmen auch anlässlich einer großen Ausstellung dort im Britischen Museum -, sprechen davon, vielleicht liegt hierin das wahre deutsche Wunder nach dem Zweiten Weltkrieg, wie das Land sich täglich dazu zwingt, sich zu erinnern. Haben wir was gelernt aus der Geschichte?Benz: Ich denke schon. Also einfach, dass Antisemitismus in diesem Lande geächtet ist wie in keinem anderen und auf entsprechend niedrigem Niveau ist, das ist ein Ergebnis des Lernens, also ein Ergebnis politischer Bildung, ein Ergebnis politischer und medialer Arbeit, Schule, Universitäten eingeschlossen. Dass wir so einigermaßen ... Spät genug, das darf man nicht vergessen, und für viele Opfer zu spät, die hätten das gerne noch, unsere schöne Erinnerungskultur, noch gerne erlebt. Wir feiern jetzt zehn Jahre Denkmal für die ermordeten Juden, zwei Jahre Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma, das ist ein bisschen spät, aber auch Erinnerung braucht seine Zeit. Deshalb ist das jetzt nicht die Schelte des Historikers, dass die Leute sich zu spät erinnern. Ich denke, es ist auch kein Grund, dass wir uns jetzt auf die Schulter klopfen und sagen, wir sind die Weltmeister im Erinnern oder in der Selbstbeschuldigung, wie das nun ewig Gestrige und unangenehme Patrioten oder Superpatrioten sagen. Aber es ist gut so, dass das ein Teil der politischen Kultur ist, die Erinnerung an die Verbrechen, die von Deutschen im Namen Deutschlands im 20. Jahrhundert begangen sind, und zu Stolz oder zu übertriebenem Selbstbewusstsein ist überhaupt gar kein Anlass. Denn die Katastrophe des Nationalsozialismus für Deutschland und die Welt war in einer so riesigen Dimension, dass es durchaus angebracht ist, dem auch in der öffentlichen Erinnerung, in der politischen Kultur des Landes großen Raum zu geben.Wentzien: Die nachkommenden Generationen werden das halten können?Benz: Vermutlich nicht. Das kann man auch nicht verlangen, dass das über die siebte oder achte oder neunte Generation hinaus verewigt wird. Einen angemessenen Platz, den kann man, glaube ich, nicht mehr ausradieren aus der weiteren Zukunft, aber man kann auch nicht verlangen, dass meine Enkel oder Urenkel noch in derselben emotionalen Herangehensweise sich mit deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert auseinandersetzen, wie ich das zwangsläufig als im Jahre 1941 Geborener und nach dem Zweiten Weltkrieg Aufgewachsener getan habe.Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.