Er war Landesvater, und das fast ein Jahrzehnt lang: Wolfgang Böhmer prägte von 2002 bis 2011 maßgeblich die Geschicke von Sachsen-Anhalt. Dabei war der gebürtige Sachse erst mit Mitte 50 in die Politik gegangen, und auch das zunächst zögernd. Wolfgang Böhmer, Jahrgang 1936, schätzte seinen Beruf als Chefarzt im Krankenhaus Paul-Gerhardt-Stift in Wittenberg. Für die CDU trat er 1990 auf Bitten von Bekannten bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt an. Die geplante Rückkehr in die Medizin wurde ihm von Parteifreunden ausgeredet.
Als Finanz- und Arbeitsminister, später dann als Ministerpräsident, wollte er sein Bundesland nach vorne bringen. Eine große Aufgabe, war doch Sachsen-Anhalt vor allem in sozialer Hinsicht lange Schlusslicht der Bundesrepublik. Böhmers Rezept: ein äußerst wirtschaftsfreundlicher Kurs, mit dem er Erfolg hatte. Die öffentlichen Schulden und die Arbeitslosenquote gingen über die Jahre deutlich zurück. Birgit Wentzien hat Wolfgang Böhmer in seinem Zuhause besucht.
Vom parteilosen Chefarzt zum CDU-Minister
Wolfgang Böhmer: Wenn man den Eindruck erweckt, dass man selber schwimmt, da ist man ganz schnell weg vom Fenster.
Birgit Wentzien: Herr Böhmer, kann man Politik lernen?
Wolfgang Böhmer: Man kann Einiges lernen, was zur Politik gehört, aber das Lehrfach Politik halte ich für ein sehr deskriptives Fach, was man eigentlich nicht aktiv lernen kann.
Wentzien: Aber Sie mussten Politik lernen.
Böhmer: Ich musste die Einzelheiten lernen, die für die Politik notwendig sind.
Wentzien: 1990 aufwärts?
Böhmer: Ich war ja aber nicht mehr ganz jung. Ich war zu diesem Zeitpunkt schon 17 Jahre Chefarzt im Krankenhaus gewesen, und da hat man auch schon einiges mitbekommen, was Menschenführung, Organisation oder Betriebswirtschaft betrifft, sodass nicht alles für mich neu war.
Wentzien: Es gibt eine kleine Geschichte, die wird erzählt: Es heißt, Reiner Haseloff unter anderem habe Sie angesprochen, ob Sie nicht mitmachen wollten, und Sie hätten damals gesagt, Haseloff habe Ihre Dummheit ausgenutzt. Was stimmt?
Böhmer: Also es war nicht Doktor Haseloff allein, sondern es waren zwei Vertreter der CDU, die mich im Krankenhaus besucht haben – ich kannte beide nicht so richtig –, und die mich gefragt haben, ob ich denn nicht für die CDU für ein Landtagsmandat kandidieren möchte. Ich gebe zu, ich wusste nicht, was das bedeuten solle und habe gefragt, was soll ich denn da machen, und da hat einer von den beiden gesagt, Landtag, das ist so wie bei uns in der DDR-Bezirkstage. Von denen hatte ich schon gehört. Die tagten so etwa einmal im Quartal nachmittags, und da habe ich mir gedacht, das kannst du einplanen, das ist organisierbar, das kannst du mal machen. Ich hatte das Bedürfnis, nachdem ich nun jahrelang aus Überzeugung parteilos war und immer nur mitgemeckert hatte, dass man jetzt irgendwie sich engagieren muss, wenn die Welt sich verändert. Da habe ich in dieser guten Absicht, mich einzubringen, gesagt, okay, wenn ihr meint, dass ich euch nutzen kann, dann macht mal schön.
Wentzien: Und warum haben Sie nachher gesagt, da sei Ihre Dummheit ausgenutzt worden?
Böhmer: Weil ich gar nicht wusste, was ein Landtagsmandat bedeutet.
Wentzien: Und Sie haben gedacht, Sie machen das auf der halben Pobacke.
Böhmer: Ich habe gedacht, ich mache das alle Vierteljahre mal nachmittags bei einer Sitzung.
Wentzien: Hätte auch die SPD vorbeikommen können, –
Böhmer: Ja.
Wentzien: – und Sie fragen?
Böhmer: Ich hatte damals weder was für die CDU noch für die SPD. CDU hat mir allerdings, die Ost-CDU, in einer persönlichen Angelegenheit, als mein Sohn aus politischen Gründen exmatrikuliert worden war, mal geholfen. Das war meine einzige Beziehung zu dieser Partei, aber ich hatte auch viel Sympathie für Leute wie Willy Brandt oder auch für Helmut Schmidt.
"Das war ein Sturz ins kalte Wasser"
Wentzien: Sie waren damals bis dahin aus Überzeugung parteilos.
Böhmer: Ja.
Wentzien: Sie waren – Sie haben es angedeutet – erfolgreicher Mediziner, Chefarzt und 30.000 Kinder ungefähr?
Böhmer: Diese Zahl, die hat mir jemand mal vorgerechnet, aber es könnte zusammenkommen. Ich war viele Jahre lang in der Geburtshilfe tätig, auch als Oberarzt schon früher in Görlitz, und dort hatten wir pro Jahr ungefähr 1.800 bis 2.000 Entbindungen. In Wittenberg waren es dann weniger, aber im Durchschnitt, so auf 1.000 im Jahr bin ich gekommen.
Wentzien: Wie muss ich mir das vorstellen? Also: Der Mediziner, der Chefarzt, wird von jetzt auf nachher Politiker. Wie geht das?
Böhmer: So war das auch nicht. Ich habe meinen Job gemacht und bin in den Landtag gewählt worden. Nicht, weil ich so doll Wahlkampf gemacht hatte – da war ich völlig ungeschickt dazu –, aber die Leute kannten mich in Wittenberg, und dann saß ich im Landtag, und dann wurde das für mich fast zur Belastung. Die wollten dauernd was, und ich musste dauernd erzählen, ich kann nicht kommen, ich habe einen schweren Fall in der Klinik, ich kann nicht weg, und in der Klinik musste ich sagen, dringende Sache in Magdeburg, ich muss schon wieder weg, bitte vertretet meine Sprechstunde oder sonst was. Ich habe zu keiner Zeit in meinem Leben so viel lügen müssen wie in dieser Zeit und wusste, das ist nicht durchzuhalten, und dann wollte ich aussteigen aus dem Landtag.
Da ist mir dann gesagt worden, um Gottes Willen, Sie haben ein Direktmandat. Das ist so einfach nicht. Jetzt haben wir wichtigere Sachen zu tun als solche Querelen, warten Sie wenigstens bis zur ersten Parlamentspause im nächsten Sommer, dann können wir drüber reden. Da habe ich gesagt, dann muss ich mich eben bis dahin noch durchschlagen. Da kam dann schon der erste Regierungswechsel in Sachsen-Anhalt. Da hatten wir ja auch Probleme. Der neugewählte Ministerpräsident, Professor Münch, bat mich dann mal zu sich und hat in einem Gespräch, was fast vier Stunden gedauert hat, mir deutlich gemacht, dass ich mich jetzt einbringen müsste. Er hat mir gesagt, was sicherlich auch richtig war, er kenne genügend Leute, die er in das Ministeramt berufen könne, aber er kann den Menschen hier, weil er aus Niedersachsen kam, nicht zumuten, dass die den Eindruck haben, sie werden fremdregiert. Das heißt, einige von euch müssen mitmachen, und nach etwa vier Stunden habe ich mich dann bereit erklärt, das Sozialministerium zu übernehmen. Das war zu diesem Zeitpunkt schon besetzt, aber das war besetzt mit jemanden, Herrn Werner Schreiber aus dem Saarland, der auch hätte Innenminister machen können, und Herr Münch hat gesagt, den setze ich ins Innenministerium und machen Sie Sozialminister.
Es ging ums Gesundheitswesen, da hatte ich ein bisschen Ahnung davon, das hätte ich mir auch zugetraut. Nachdem wir uns geeinigt hatten, bin ich dann zum Geschäftsführer im Krankenhaus gegangen und habe drum gebeten, bis zum Ende der Legislaturperiode beurlaubt zu werden. Die fanden das war merkwürdig, aber sagten, die Dinge sind nun einmal so, die Welt ist in Bewegung gekommen, und wir kriegen das auch hin. Ich hatte eine versierte Oberärztin, die den Laden dann übernommen hat, und da habe ich mich beurlauben lassen. Nachdem ich das unterschrieben hatte und beurlaubt worden war, erzählte mir Herr Münch, Werner Schreiber tauscht nicht mit, aber ich habe immer noch keinen Finanzminister, machen Sie das mal, und da war ich dann ziemlich schnell Finanzminister geworden. Das war natürlich ein Sturz ins kalte Wasser.
Vorteil des Seiteneinsteigers: weniger verstrickt
Wentzien: Sie haben damals gesagt, ich habe von der ganzen Sache keine Ahnung, als Sie in das Haus gingen, aber wenn Sie hier versuchen, mich hier über den Tisch zu ziehen, dann gibt es Ärger. Gab es Ärger?
Böhmer: Nein. Also, ich war da ganz offen. Es hätte auch gar keinen Zweck gehabt, sich was vorzugaukeln. Ich habe gesagt, Sie wissen, dass ich kein Finanzwissenschaftler bin und nicht studiert habe in diesem Bereich, ich weiß, dass Sie besser Bescheid wissen in Sachfragen als ich, aber die politische Verantwortung, die habe ich jetzt übernommen, und die will ich auch wahrnehmen, und da müssen wir ganz ehrlich sein zueinander, und das hat wunderbar geklappt.
Wentzien: Und der Chefarzt war in dem Moment dann Vergangenheit.
Böhmer: Der Chefarzt war noch nicht ganz Vergangenheit. Es gab einige Operationen, die ich persönlich immer selbst gemacht hatte, und ich habe auch angeboten, das dann auch weiterzumachen. Ich habe noch bis Weihnachten dieses Jahres Sonntagvormittag operiert. Das ging. Sonntag in der Politik ist da nicht so furchtbar viel los.
Wentzien: Waren Sie Teilzeitmediziner?
Böhmer: Na ja, gut, ich komme ja aus einem Fach, also ich war Teilzeitmediziner, das ist richtig, aber es war nur eine kleine Nebenbeschäftigung noch.
Wentzien: Ich wage mal eine These, Professor Böhmer, und Sie dürfen widersprechen: Seiteneinsteiger sind stark, weil sie ein Leben vor der Politik haben.
Böhmer: Seiteneinsteiger haben ihre Stärke, weil sie nicht unbedingt abhängig sind vom Wohlwollen aller anderen in der Politik, denn das ist etwas, was für die Politik typisch ist: Sie müssen möglichst viele Leute kennen, möglichst vernetzt sein und niemanden so auf die Füße getreten sein, dass der mit Ihnen etwas anderes vorhat, als Sie möchten. Das ist so, und als Seiteneinsteiger sagen Sie, wenn die mich nicht mehr haben wollen, dann gehe ich, ich verhungere nicht, ich habe ja meinen Beruf. Das gibt gelegentlich Sicherheit.
Wentzien: Und Kraft?
Böhmer: Na ja, die Kraft, da muss man schon veranlagt dazu sein, sich kräftig durchzusetzen.
"Man braucht eine gewisse Hornhaut auf der Seele"
Wentzien: Es gibt viele andere – nicht so ganz viele, aber schon ein paar andere – Quereinsteiger, beispielsweise Rita Süssmuth ist eine. Sie war Professorin für Erziehungswissenschaften in Bochum, und Helmut Kohl holte sie dann ins Kabinett als Ministerin für Jugend, Familie und Gesundheit. Sie hat einmal gesagt, der Quereinsteiger muss viel eher damit rechnen, dass er so schnell wieder draußen ist, in der Politik, wie er eingestiegen ist, weil er das Innenleben nicht kennt, weil er sich nicht auf festgefügte Seilschaften verlassen kann und weil er einem stärkeren Druck ausgesetzt ist. Der Seiteneinsteiger, Quereinsteiger bleibt sehr leicht der Fremde in den eigenen Reihen. Das kann ja auch eine Luxusposition sein.
Böhmer: Also, die Situation war nicht völlig vergleichbar. Was Frau Süssmuth hier meint, das ist der übliche, ich sage mal: gewöhnliche Politikbetrieb, wenn da jemand von außen einsteigt. Da ist es mit Sicherheit so. Wir hatten ja hier den innenpolitischen Umbruch mit einem völligen Neuaufbau der Verwaltung und so weiter. Da waren die Verhältnisse schon ein wenig anders, aber im Prinzip gibt es viele Gemeinsamkeiten, und wenn man sich nicht so recht kennt und nicht auch deutlich artikuliert und den Eindruck erweckt, dass man selber schwimmt, da ist man ganz schnell weg vom Fenster.
Wentzien: Max Weber hat einmal den Beruf Politik beschrieben, und er hat mehrere Ideale genannt. Er sagt, Politik als Beruf, dafür brauche es sachliche Leidenschaft, Verantwortungsgefühl, distanziertes Augenmaß und keine Eitelkeit. Wenn Sie auf Ihr politisches und medizinisches Leben schauen, würden Sie sagen, Sie haben inzwischen auch Respekt vor Politik als Beruf oder ist es immer noch für Sie der zweite, der dazugekommen ist aufgrund der historischen Entwicklung?
Böhmer: Es ist nach wie vor der zweite, aber ich habe Respekt gewonnen vor dem Beruf und auch vor den Leuten, die sich in diesem Beruf durchgesetzt haben, denn das ist für niemanden einfach gewesen, und man braucht eine gewisse Hornhaut auf der Seele, um sich auch in der Politik durchsetzen zu können.
Wentzien: Würden Sie es wieder machen?
Böhmer: Ja. Das sage ich ganz ehrlich. Das hätte ich vielleicht in den ersten Jahren nicht so formuliert, aber ich gebe jetzt zu, wenn Sie Ihr ganzes Leben lang nur in fremden Bäuchen zu tun haben, geht Ihnen auch vieles verloren. Für mich hat das eine totale Erweiterung meines Blickfeldes bedeutet. Ich bin mit Sachen zusammengekommen, von denen ich früher nie Berührung vermuten konnte.
Wentzien: Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen beiden Disziplinen?
Böhmer: Meiner Ansicht nach ja. Die einzige Gemeinsamkeit, die man ganz schnell benennen kann, ist: Erst kommt die Diagnose und dann die Therapie. Und wenn man sich daran hält, hat man auch in der Politik Erfolg.
Wentzien: Das ist aber nicht immer der Fall.
Böhmer: Na, das ist wohl wahr. In der Politik gibt es mehr als anderswo Wunschdenken.
Selbstfindungsprozess in der Mitte Deutschlands
Böhmer: Es gibt Gegenden in meinem Gebiet, wo man schon froh ist, wenn man zwischen Sachsen und Sachsen-Anhalt einen Unterschied machen kann.
Wentzien: Meine Quelle, Herr Böhmer, ist Stanislaw Tillich – ich will das nur noch mal klarmachen, das ist einer von vielen, die in einer Festschrift, Ihnen gewidmet, Sie beschrieben hat, und Herr Herr Tillich, der frühere Ministerpräsident der CDU von Sachsen, sagt, Sie seien wie er, ein Oberlausitzer Granitschädel: verlässlich, beständig, kaum zu erschüttern, hart im Nehmen, nur mühevoll aus dem Fels zu brechen. Volkskundlich richtig und auch im wahren Leben zutreffend?
Böhmer: Also ich habe mich mit dieser Beschreibung auf alle Fälle ein bisschen wiedererkannt, das will ich gerne zugeben! Ich schätze Herrn Tillich übrigens sehr, und als er noch im Dienst war und im Amt war, waren wir schon ein bisschen befreundet und haben uns auch gelegentlich beraten oder konsultiert. Er stammt auch aus der Oberlausitz, also er weiß, wovon die Rede ist.
Wentzien: Sie sind geboren in Dürrhennersdorf in der Oberlausitz und zwar auf einem Bauernhof im Januar 1936.
Böhmer: Ja.
Wentzien: Ihr Vater war im Krieg, Sie waren der Älteste, und Sie mussten arbeiten.
Böhmer: Ja.
Wentzien: Wenn Sie mir heute beschreiben, bitte, was das für ein Leben und was das für eine Arbeit war, für alle Nachgeborenen, wie würden Sie das…?
Böhmer: Die Arbeit, die man als Kind auf einem Bauernhof leisten kann. Das heißt, ich musste mich um Futter für die Kühe kümmern, ich habe ziemlich zeitig gelernt, Klee mit der Sense zu hauen,(...) und wir haben die Ernte reingefahren. Also, ich erzähle gelegentlich von meinem ersten Schultag, der fing um elf an, und so gegen zehn sagte meine Mutter, da kommen aber dicke Gewitterwolken, wir müssen erst noch eine Fuhre Weizen einfahren, damit der nicht nass wird. Das haben wir gemacht, und da kamen wir fast eine halbe Stunde zu spät. Der Lehrer hat das nicht lustig gefunden und uns kritisiert. Die Kinder bekamen alle eine Zuckertüte und ich nicht. Das war mir nicht recht! Ich wusste nicht, was ich…, ob ich gucken, weinen oder heulen sollte, bis er am Ende gesagt hat, du bist zuletzt gekommen, du kriegst auch noch eine. Also das war so, und das war auch für mich mein Leben.
Wentzien: War das hart, ein hartes Leben?
Böhmer: Ich muss mal sagen, ich habe es ja nicht anders kennengelernt, und die Generation damals, die war auch anders. Wissen Sie, als ich 1960 angefangen habe, in dem Krankenhaus zu arbeiten als junger Arzt, da hatte ich einen Chef, der noch selbst im Krieg war, der andere Zeiten erlebt hatte, der die Härten des Lebens ganz anders kennengelernt hatte, und der hat mich freundlich begrüßt mit den Worten: Herr Böhmer, wir fangen um sieben an, Schluss ist, wenn die Patienten versorgt sind und die Arbeit erledigt ist, und wenn Sie vorher anfangen, auf die Uhr zu gucken, fliegen Sie bei mir raus. Das können Sie sich heute nicht mehr leisten, einem jungen Arzt zu sagen. Da stehen Sie nächsten Tag in der Zeitung. Das Leben hat sich in vielen Bereichen einfach geändert, und deswegen, die damaligen Verhältnisse mit den heutigen zu messen, ist genauso falsch wie umgedreht.
"Sachsen-Anhalt ist kein homogen gewachsenes Bundesland"
Wentzien: Was ist das für ein Bundesland, dem Sie vorstehen, von dem wir wissen, dass er in Sachsen geboren ist und jetzt in diesem Sachsen-Anhalt schon lange lebt? Kein bisschen Preußen oder vielleicht doch ein bisschen, etwas Sachsen, ganz und gar Anhalt, jedenfalls überhaupt nicht homogen und auch in keiner Art und Weise gewachsen.
Böhmer: Also Sachsen-Anhalt ist kein homogen gewachsenes Bundesland. Sachsen-Anhalt ist nicht ethnologisch einheitlich. Sachsen-Anhalt besteht aus den Resten, die übrig geblieben sind in der Mitte Deutschlands nach Auflösung von Preußen, und die Altmark zum Beispiel, die hat lange Zeit zu Brandenburg gehört. Die Gegend Wittenberg, Bitterfeld hat bis 1815 zu Sachsen gehört. Im Süden das Unstrut-Tal und die Gegend hat teilweise zu Thüringen gehört. Das heißt, wir sind ein bisschen zusammengewürfelt worden und müssen jetzt erst lernen, zusammenzuwachsen. Da ist natürlich die gemeinsame Aufbauleistung der letzten Jahren eine Gelegenheit, die auch dazu geführt hat, dass die Sachsen-Anhalter langsam sich finden und zusammenwachsen und verstehen, dass es eine gemeinsame Schicksalsgemeinschaft wird.
Aber es gibt eben auch noch Probleme, die andere Länder nicht haben wie die Sachsen oder die Bayern, die lange Zeit einen gemeinsamen König hatten und die schon zusammengewachsen waren. Das kann man nicht leugnen. Wir haben auch noch ein paar andere Probleme, fast in allen Vergleichsstatistiken. Ob das die Zahl der Schulabbrecher ist oder die Zahl der übergewichtigen Kinder oder was auch immer. Da liegen wir auf dem letzten oder vorletzten Platz. Das ist ein Problem, was auch dazu führt, dass ein Selbstwertgefühl noch nicht so richtig gewachsen ist, und in der Zeit, in der ich aktiv tätig war, habe ich mir auch Mühe gegeben, diese Probleme zu bedenken und immer wieder daran zu erinnern, dass wir gemeinsame Erfolge haben, die zwar noch nicht dazu ausreichen, die Besten zu sein, auch jetzt noch nicht, aber die uns helfen sollen, zusammenzuwachsen und besser zu werden. Ich denke, dass jeder, der in Sachsen-Anhalt Politik aktiv betreibt, diese Dinge mit beachten muss.
Wentzien: Als Sie nach Zielen für Ihre Regierungszeit gefragt worden sind, haben Sie drei genannt: für alle Menschen im Land einen Arbeitsplatz organisieren; es schaffen, dass so viele Menschen nach Sachsen-Anhalt kommen wie gehen; und – Sie haben es gerade erwähnt – einen Ruf für dieses Bundesland erreichen, hier leben Menschen, die sich nicht unterkriegen lassen. Welches Ziel haben Sie erreicht?
Böhmer: Na gut, also die Wanderungsbilanz ist in den letzten Jahren fast ausgeglichen gewesen. Die Zahl der Arbeitslosen ist deutlich zurückgegangen, aber ich kann auch nicht leugnen, dass wir noch mehr Langzeitarbeitslose haben, obwohl wir jetzt zwischendurch mehr freie Stellen haben, dass es Langzeitarbeitslose gibt, mit denen kein Arbeitgeber etwas anfangen kann. Auch das ist Fakt. Der letzte Punkt…
Wentzien: Dass hier Menschen leben in diesem Land, die sich nicht unterkriegen lassen.
Böhmer: Ich hoffe, dass davon immer mehr werden. Das ist ja nun auch etwas, was mit menschlichen Eigenschaften zusammenhängt, da haben wir schon immer welche gehabt, aber wir haben auch viele gehabt, die gejammert haben und die gedacht haben, sie müssten von anderen beschenkt werden.
Die Integration in ein völlig anderes Wirtschaftssystem
Wentzien: Sie haben die Arbeitslosigkeit halbiert in diesem Bundesland. Sie haben dafür gesorgt, dass fast so viele Menschen kommen wie gehen, und Sie sind dabei – das haben Sie gerade gesagt –, es muss wachsen, dass die Sachsen-Anhalter sich nicht unterkriegen lassen. Wie viel Wissen und wie viel Wertschätzung ist im Westen gegenüber Sachsen-Anhalt, diese Erfahrung und diese Geschichte bedenkend, vorhanden?
Böhmer: Das ist nicht einheitlich, sondern sicherlich sehr unterschiedlich, hängt davon ab, je weiter man von der ehemaligen Zone wegkommt, aber es gibt Gegenden in meinem Gebiet, wo man schon froh ist, wenn man zwischen Sachsen und Sachsen-Anhalt einen Unterschied machen kann.
Wentzien: Im Westen?
Böhmer: Im Westen. Ja, das ist so. Ich erlebe immer wieder, dass Sachsen-Anhalt mit Sachsen verwechselt wird. Ich nehme das niemandem übel, aber es hat sich eben manches noch nicht so richtig herumgesprochen oder es wird alles etwas verundeutlicht. Wissen Sie, ich habe auch in Westdeutschland viele Sachen erlebt, die mir die Augen geöffnet haben. Ich kann mich an viele Veranstaltungen erinnern, IHK-Konferenzen, Handwerkskammern und so weiter, wo es um die wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Bundesländern ging. Da habe ich viel Trost erfahren. Da haben mir viele Menschen gesagt, das wird schon werden, wir im Westen, wir mussten nach dem letzten Weltkrieg auch unsere Wirtschaft neu aufbauen, da haben wir unsere Ärmel hochgekrempelt und haben reingeklotzt, und wir haben es gepackt, und wenn Sie Ihre eigenen Ärmel auch noch hochkrempeln, dann wird es auch klappen.
Wentzien: Was haben Sie dann gesagt?
Böhmer: Da habe ich immer gedacht, mein Gott, das ist ein Trost. Er nützt bloß nichts, denn es ist ein riesengroßer Unterschied, ob Sie die Wirtschaft gegen eine leeren Markt aufbauen müssen, wo man nur fleißig sein muss, weil man selber was kaufen will, und wo alles, was produziert wird, auch gekauft wird, weil es gebraucht wird, oder ob Sie die Wirtschaft gegen einen [....] Gesättigten aufbauen müssen, wo es ohne Sie auch ginge und wo Sie Marktnischen suchen müssen, um Ihr eigenes Zeug erst mal verkaufen zu können.
Das war eine völlig andere Situation, die auch andere Bewertungsmaßstäbe notwendig macht, und wir haben es uns ja – das muss man da auch bei sagen – selber auch nicht immer leicht gemacht. Also nach der Wende, da musste die Butter eben aus Schleswig-Holstein sein oder aus Irland. Die eigene Butter war nicht schlecht, aber die war bloß schlechter verpackt und so weiter. Also wir haben schon auch psychologische Probleme gehabt, die uns das Leben am Anfang schwergemacht haben.
"Ohne die Hansel aus den neuen Bundesländern geht es auch"
Böhmer: Wir kannten uns gegenseitig aus dem Fernsehen. Wir dachten, das Leben im Westen ist so wie im Werbefernsehen, und die dachten, das Leben im Osten ist so wie in den Gefängnisdarstellungen – "Kennzeichen D" und so weiter.
Wentzien: Martin Dulig, der Ostbeauftragte der SPD, aus Sachsen sagt, seine Partei sei immer noch westdeutsch, über die Sozialdemokratie, und er sagt, diese Wertschätzung und Erfahrung betrachtend, Ost und West seien schon mal weiter gewesen als jetzt faktisch 2018. Teilen Sie das? Waren wir in der Annäherung oder in dem Wissen umeinander schon mal weiter?
Böhmer: Also das kann man schlecht messen. Wir waren auf alle Fälle in der Aufmerksamkeit füreinander schon mal weiter. Wir waren am Anfang wie so neue Tiere im Zoo. Da kommt einer aus dem Osten! Mir haben Leute an den Anzug gefasst und gesagt, das ist auch kein schlechter Stoff und so weiter. Also wir sind ja mit Vorurteilen empfangen worden, und die Westdeutschen hatten von der DDR nicht mehr Ahnung als wir vom Westen. Wir kannten uns gegenseitig aus dem Fernsehen. Wir dachten, das Leben im Westen ist so wie im Werbefernsehen, und die dachten, das Leben im Osten ist so wie in den Gefängnisdarstellungen – "Kennzeichen D" und so weiter. Also wir waren übereinander nur fernsehinformiert, und das war nicht das wirkliche Leben, und das haben wir am Ende gespürt, als wir wieder zusammen sprechen konnten. Das habe ich aber als eine normale Entwicklungsphase empfunden. Das habe ich nicht mit Vorwürfen verbinden wollen, aber wahr ist, wir hatten uns mehr auseinandergelebt, als wir gedacht haben.
Wentzien: Und die Neugier aufeinander, ist die jetzt schon ein bisschen abgeebbt nach…?
Böhmer: Ja, nun, nach 25 Jahren ist das wie in der Ehe! Das ist dann so!
Wentzien: Wenn Sie auf das Bundeskabinett schauen und auf die Regierungsbildung, die aktuelle, und wenn Sie wissen und sehen, das einzige SPD-Mitglied, das einzige Mitglied in der Bundesregierung eine Familienministerin von der SPD ist, die von sich selber sagt, sie hätte eine Ostmigrationshintergrund, warum, Herr Böhmer, gelingt den östlichen Ländern nicht so etwas wie eine selbstverständliche Repräsentanz, wie es Bayern längst, möglichweise auch manchmal überzogen, wie es jetzt das Saarland, wie es anderen Bundesländern gelingt, warum ist das auch immer so ein bisschen ein Lamento, wenn man das hört, statt einem Fakt, der einfach aufgrund der Numerik in diesem Land vorhanden sein sollte?
Böhmer: Also, das wird mit Methoden und Algebra nicht lösen können. Die Länder haben starken Einfluss, die selbst stark sind und große Landesverbände in den Parteien haben. Gegen den Landesverband Nordrhein-Westfalen kriegen Sie kaum die Mehrheit in der CDU hin. Gegen den Koalitionspartner – das war der große Trick von Strauß – CSU können Sie keine Politik in der CDU alleine machen. Das heißt, die werden gebraucht. Die paar Hansel aus den neuen Bundesländern, ohne die geht es auch. Das muss man ganz nüchtern sagen. Das sind die Mengenverhältnisse in den politischen Entscheidungsgremien, die Macht bedeuten in den Parteien, und wenn Sie die nicht haben, dann müssen Sie betteln gehen. Also ich könnte Ihnen erzählen, aber das gehört vielleicht nicht hierher, wie ich gebettelt habe, dass jemand aus Sachsen-Anhalt mal in den Bundesvorstand der CDU gewählt wird. Das war nicht einfach. Da muss man sagen, braucht ihr noch Stimmen für euren Mann, wir können euch helfen mit 15 Leuten, mehr sind wir nicht und so weiter, damit auch aus dem eigenen Land mal jemand gewählt wird und Mehrheiten findet.
Das ist normal in der Demokratie, wo es nach Mehrheiten geht. Da muss man sich eben damit abfinden. Das hat keinen Zweck, darüber zu jammern, aber es ist trotzdem ein Fakt, und je weiter Osten berücksichtigt worden ist, wissen Sie, die Erfahrungen mit den Ostleuten aus dem Osten, die waren ja auch nicht immer so, dass sie zufrieden gewesen wären. Man muss sich in der Politik durchsetzen können. Wer fleißig ist und gutmütig ist an sich, aber sich nicht durchsetzen kann, der wird überspielt, und deswegen hat man den Eindruck gehabt, die anderen, die können es besser.
Aus Protest eine Partei ohne Programm wählen
Wentzien: Gab es denn mehr von diesen Besseren im Westen, und gibt es da mehr, oder sind die Ostdeutschen an der Stelle einfach noch nicht auf der Höhe der Qualitäten, die Sie gerade beschrieben haben?
Böhmer: Das können Sie nicht sagen. Sie können nicht sagen, dass die Bundeskanzlerin nicht auf der Höhe der Qualität wäre. Der Bundespräsident, den wir früher hatten – Gauck, jawoll –, der war auch ein guter Bundespräsident. Man muss erst die Chance bekommen, um gut sein zu können. Wenn man die aber nicht bekommt, wenn man nicht vorher auf sich aufmerksam gemacht hat und nicht ein Netzwerk organisiert hat, dann schaut man zu, wie die anderen durchmarschieren.
Wentzien: Ich würde jetzt widersprechen, wenn Sie gestatten: Angela Merkel hat immer gesagt, sie sei eine Gesamtdeutsche, und Joachim Gauck kam in einer Lücke, wo das Amt schier bös ramponiert war.
Böhmer: Beides ist richtig, und Frau Merkel will von allen gewählt werden, deswegen wird sie sich nicht auf eine Karte setzen lassen wollen.
Wentzien: Es gibt immer wieder die Idee, Mitteldeutschland zu bilden. Es gibt immer wieder die Idee, Bundesländer im Osten zusammenzufassen. Jetzt sagten Sie gerade, Politik ist mehr als Mathematik, aber wäre das nicht ein, sagen wir mal: politisches Gewicht, das dann auch andere Kräfte freisetzen könnte?
Böhmer: Es ist eine theoretische Überlegung, die insofern lebensfremd ist, weil im Grundgesetz steht, dass die betroffene Bevölkerung das selbst durch Wahl entscheiden muss, und das wird es nicht geben. Wissen Sie, schon ein Bundesland, das bis an die Neiße führt, immer noch Mitteldeutschland zu nennen, ist ja nicht ganz unproblematisch, und die Thüringer, die sowas von stolz sind, ein Freistaat zu sein – bedeutet zwar nix, aber der Name gibt es her –, die werden doch nicht Mitteldeutsche sein wollen. Noch schlimmer die Sachsen, die haben einen eigenen König gehabt. Was die für ein Selbstbewusstsein haben schon aus gewachsener ethnischer Identität, die werden doch nicht Mitteldeutsche sein wollen. Das heißt, in Sachsen-Anhalt, wo es noch keine gewachsene Identität gibt, da würden Sie möglicherweise für diese Idee die Mehrheit bekommen. Niemals in Sachsen, niemals in Thüringen, hat keinen Zweck, das weiter zu verfolgen.
Wentzien: Die aus DDR-Zeiten übernommene Fixierung auf den Staat führt zur Aufgabe von individueller Verantwortung, haben Sie gesagt.
Böhmer: Ja.
Wentzien: Wenn Sie heute von mir gefragt werden, ob Sie enttäuscht sind darüber, wie wenig Vertrauen in Demokratie im Osten verwurzelt ist, würden Sie immer noch davon sprechen, dass es eine geringe Menge ist oder hat sich das inzwischen etwas verändert?
Böhmer: Also, das hat sich wahrscheinlich nicht verändert, denn die Tatsache, dass so viele in den östlichen Bundesländern die AfD gewählt haben, ist für mich ein Zeichen dafür, dass sie mit den anderen demokratisch etablierten Parteien einfach unzufrieden waren. Die Wählerei der AfD ist eine reine Protestbewegung, die ist in Sachsen-Anhalt gewählt worden, als die Partei selbst noch kein Programm hatte und selbst noch nicht in der Lage war, zu definieren, was sie eigentlich wollen, aber sie haben nur gesagt, wir sind gegen die Etablierten, und das hat genügt für über 20 Prozent, diese Partei zu wählen, weil sie denen da oben mal eins auswischen wollten. Das ist natürlich Symptom einer noch nicht gefestigten Demokratie. Das muss man ganz nüchtern sagen. Auch Symptom einer Enttäuschung.
Wentzien: Können Sie das Ostdeutschen sagen?
Böhmer: Ja.
Wentzien: Was entgegnen die dann?
Böhmer: Die hören zu und sagen nix! Das ist blöd!
Wentzien: Widerspricht keiner, wenn Sie das sagen?
Böhmer: Ich kann das sagen, aber man kann mit Argumenten natürlich auch versuchen, dagegen zu sein, aber das ist das Leben. Ich kenne viele Leute aus der Oberlausitz, wo ich herkomme, die sagen mir, ich habe die diesmal gewählt, mir klauen sie das Auto vor der Haustür, und die Polizei ist nächsten Tag erst mal da und macht ein Protokoll und kümmert sich nicht drum, so kann es nicht weitergehen, also müssen wir was dagegen tun. Das sind individuelle Entscheidungen, das hängt nicht mit der großen Politik zusammen, aber es ist eine Frustration vor Ort, weil viele sich die Demokratie, die sie erhofft haben, eben ein bisschen anders vorgestellt haben.
Demokratie geht nicht ohne Eigenverantwortung
Wentzien: Würde dann zutreffen, auch jetzt, 2018, Professor Böhmer, dass man sagt, Demokratie ist immer eine selbstempfundene individuelle Schönwetterveranstaltung, und wenn das nicht der Fall ist, macht man sein Kreuz bei der AfD, oder ist das zu schlicht?
Böhmer: Na ja, die Demokratie nur als Schönwetterveranstaltung zu bezeichnen, da würde ich nicht mitgehen wollen. Demokratie kann auch in schlechten Zeiten funktionieren, wenn man zusammenhält und wenn sie gelebt wird. Demokratie ist darauf angewiesen, gelebt zu werden. Wenn sich niemand kümmert, kaum jemand zur Wahl geht, dann funktioniert Demokratie einfach nicht, und wer sich drauf beschränkt zu meckern, ohne sich selbst zu bewegen und mitzumachen, der wird kein aktives Element in der Demokratie sein können. Das heißt, wir müssen einfach wissen, dass Demokratie eine Form des Mitmachens bedeutet, die von jedem einzelnen, der sie wünscht und will, auch Aktivitäten verlangt.
Wentzien: Dann würden Sie sagen, der Mann oder die Frau in der Oberlausitz, wenn die feststellt, dass die Autos nicht mehr geklaut werden, macht sie das Kreuz auch nicht mehr bei der AfD?
Böhmer: Ob es nun speziell um die Diebstahlhäufigkeit geht, das war jetzt nur ein Beispiel, das würde ich nicht so verallgemeinern wollen, aber auf alle Fälle, wenn ihre persönlichen Lebenswünsche erfüllbar wären, dann haben Sie keinen Grund mehr, eine Partei zu wählen, die dagegen ist.
Wentzien: Aber ist das Politik? Ich werfe oben einen Euro in den Automaten hinein, und unten kommt das heraus, was ich mir wünsche?
Böhmer: Ich denke, wir können nicht davon ausgehen, dass jeder Wähler aktiver Politiker sein will und in den Kategorien der Politik denkt. Die Menschen sind so veranlagt, dass sie zunächst mal ans eigene Überleben denken müssen. Das halte ich für normal. Wir müssen nur versuchen, das so zu organisieren, dass möglichst jeder Einzelne damit zurechtkommt, aber es setzt auch voraus eine gewisse Eigenverantwortung und Eigeninitiative, und was uns zu DDR-Zeiten hier verlorengegangen ist – das sage ich immer wieder –, ist die Eigenverantwortung: Der Staat hat sich zu kümmern um uns, warum sollen wir das machen. Die Eigeninitiative, mitmachen lohnt sich nur, wenn ich eine Aufgabe bekomme, die ich erfüllen soll. Das reicht nicht für Demokratie, und das reicht auch nicht für eine freiheitlich orientierte Gesellschaft. Wissen Sie, wir wollten alle leben wie im Westen, da dachten wir, das wird alles ein großer Intershop hier, aber dass das auch mit Verpflichtung verbunden ist, dass Demokratie eben auch Eigenverantwortung verlangt, das muss man alles erst mal lernen.
Wentzien: Wenn Sie, Herr Böhmer, auf Ihre Geschichte schauen und auf dieses kleine Land mitten in Europa, um uns herum bewegen sich Populisten, Nationalisten, Extremisten, Autoritäre leben auch woanders, nicht weit von Europa entfernt, in Amerika gibt es eine schwierige Gemengelage eines demokratisch gewählten Präsidenten, der sehr viele geopolitische Herausforderungen gerade meistens verbalisiert – Demokratie, so betrachtet, gerät unter Druck, und Autorität von Demokratie ist mit einem Fragezeichen versehen. Wolfgang Schäuble hat jetzt dazu etwas gesagt aus seinem Amt als Bundestagspräsident heraus, und er meinte, da sind noch nicht alle überzeugt davon, dass unser freiheitliches demokratisches System in Europa ein Modell ist, und die Messe – das waren seine Worte – ist noch nicht gelesen, die Messe der Bewährung von Demokratie. Teilen Sie diese Position und diese Skepsis?
Böhmer: Ausdrücklich! Demokratie kann nur mit Demokraten, mit engagierten Demokraten funktionieren. Je mehr Menschen sich zurückziehen und sagen, die werden das da schon machen, desto weniger kann Demokratie funktionieren, und da haben wir ein sehr grundsätzliches Problem, was ich auch nicht lösen könnte, aber was man wenigstens als Problem benennen soll: Wir sind überzeugt davon, dass unser Wahlsystem, in dem wir im Grunde genommen Repräsentanten wählen, dass das die beste Form der Demokratie sei. Ich weiß nichts Besseres. Alles mit Direktwahlen zu machen und mit Volksentscheidungen lösen zu wollen, wird noch weniger klappen. Das geht einfach nicht. Wir müssen Repräsentanten wählen.
Dieses System ist nicht einfach zu verstehen und hat auch dazu geführt, dass es viele Leute gibt, die meinen, eigentlich müsste Demokratie was anderes sein, so am besten wie Schweiz, wo alle 14 Tage mal eine Volksbefragung ist. So ein kleines Land kann sich diese Sachen leisten. Das wird hier nicht gehen, aber die Verbundenheit zwischen denen, die wir wählen, und denen, die wählen, die darf in der ganzen Legislaturperiode nicht verlorengehen, und das müssen wir besser organisieren. Für mich sind das gute Abgeordnete, die auch während der Legislaturperiode immer wieder mal Veranstaltungen anbieten, Diskussionsforen machen und so weiter, da gibt es auch viele gute Beispiele, aber das hat noch nicht dazu geführt, dass das zu einem, ich sage mal: festen Bestandteil der demokratischen Kultur wird.
Eine gewisse Eigenständigkeit im kirchlichen Krankenhaus
Böhmer: Im Krankenhaus, was ich einmal gesagt habe, galt, ich musste das nicht jeden Tag sieben Mal sagen. In der Politik, erst nach der zwanzigsten Wiederholung können Sie davon ausgehen, dass die Leute das kapiert haben oder hören wollten – kapiert haben sie es schon.
Wentzien: Zukunft der Stasi-Unterlagenbehörde und der Stasi-Unterlagengesetzes, eine Sonderbehörde, eine Besonderheit auch dieses Landes. Sie haben sich in einer eingesetzten Kommission darum gekümmert, und Sie kamen zu dem Schluss, die Sonderbehörde als Behörde hat ihren Auftrag erfüllt, die Akten sollten ins Bundesarchiv überführt werden, weiter zugänglich bleiben, und das Konzept der Außenstellen der Sonderbehörde in allen Bundesländern muss überdacht werden. Das war ein Job quasi nach allen offiziellen Ämtern, den Sie jetzt noch hatten. Wie geht dieses Land damit um, und kann man an dem Umgang mit dieser Vergangenheit und mit dieser Behörde beispielsweise ablesen, wie viel wert auch die ostdeutsche Geschichte ist?
Böhmer: Wir wollen die ostdeutsche Geschichte als einen Teil der gesamtdeutschen Geschichte betrachten, das heißt, die Archivalien aus dieser Zeit genau so behandeln. Wir haben ja nur als einzigen konkreten Vorschlag gemacht, die Organisation der Akten in das Bundesarchiv zu integrieren. Sie sollen weiterhin zugänglich sein, sie sollen weiterhin bearbeitet werden können.
Das alles möchten wir behalten, aber die Organisation in einer eigenen Behörde, die halten wir für nicht mehr notwendig nach 25 Jahren, weil das einfach Aufgaben verlangt, die von dem übrigen Archivwesen kaum zu unterscheiden sind und die auch Geld verlangt. Die meisten Unterlagenbehörden in den Bundesländern sind zwingend renovierungsbedürftig, es muss entschieden werden, brauchen wir in Sachsen-Anhalt zwei oder kommen wir mit einer aus. Sachsen hat drei. Das sind Entscheidungen, die wir nicht getroffen haben, weil die hochbrisant sind, aber die werden getroffen werden müssen, wenn es ums Geld geht. Diese organisatorischen Sachen, die haben wir versucht zu diskutieren und dafür Lösungsvorschläge zu machen. Auf alle Fälle aber sollte die Tatsache, dass mit dieser friedlichen Revolution die Opfer das Recht bekommen, ihre eigenen Akten einzusehen, nicht verloren gehen.
Wentzien: Was verbinden Sie selber, Herr Böhmer, mit dem Thema Staatssicherheit? Ist das Ministerium für Staatssicherheit auf Sie in der Zeit der DDR zugekommen? Hatten Sie Kontakt, mussten Sie Kontakt haben?
Böhmer: Also, auf mich zugekommen sind die eigentlich nicht, aber die haben sich um mich gekümmert, und die Staatssicherheit von Wittenberg, die saß hier gegenüber in den Gebäuden. Die haben sich schon um mich besorgt gemacht. Es gab hier eine Arbeitsgruppe, die sich mit mir beschäftigt hat. Dazu gehörten sieben IM, die zwischendurch, nicht alle, aber fünf davon identifizieren konnte, und die berichtet haben, was der Böhmer so macht.
Wentzien: Haben Sie Ihre Akten gelesen?
Böhmer: Ja. Stehen auch Sachen drin, so Arzt-mit-Schwester-Verhältnisse – soll ja auch mal manchmal vorkommen. Das hat die Stasi auch gekümmert, aber auch alle anderen Sachen. Wenn mal ein Westauto hier vor meinem Haus gehalten hat, da war die Nummer festgehalten worden und so weiter. Also die haben mich sorgfältig beobachtet.
Wentzien: Wie haben Sie damals widerstehen können in der Position, in der Sie waren? Sie waren herausgehoben, Sie waren verantwortlich für viele Menschen.
Böhmer: Wissen Sie, ich war in meinem kirchlichen Krankenhaus. Das heißt, ich unterstand disziplinarisch nicht dem Kreisarzt und nicht den Funktionären im staatlichen Gesundheitswesen. Wer von mir was wollte, musste sich an die Kirchenleitung wenden.
Wentzien: Das hat sich auch geschützt.
Böhmer: Hat uns sehr geschützt, ja, aber wir sind dadurch immer darauf hingewiesen worden, nicht gegen den Staat auffällig zu stänkern, damit dieser Schutzstatus erhalten bleiben kann.
In der Politik denkt man eher anwaltschaftlich
Wentzien: Herr Böhmer, es gibt Menschen, die Sie aus beiden Leben kennen, die Sie als Mediziner kennen und als Politiker, und die sagen, eigentlich sind Sie immer Chefarzt geblieben, auch als Regierungschef: klare Regeln, wenig Worte, Analysebefund und dann Operation. Was haben Sie, wenn Sie diese beiden Leben betrachten, jetzt und damals, für eine Beziehung zu Ihrer Partei gehabt, der CDU?
Böhmer: Als Chefarzt war ich parteilos, aber ich hatte auch junge Ärzte, die gelegentlich dachten, sie wären Chef. Denen musste ich sagen, wo es langgeht. Als ich dann Minister oder Ministerpräsident war, war ich natürlich Mitglied einer Partei, und da gab es auch gelegentlich Minister, die dachten, sie wären selber Ministerpräsident. Denen musste ich sagen, dass das Land nur einen hat, der diesen Job macht, und das war ich, und da waren die Verhältnisse klar.
Wentzien: Wenn Sie nach Gemeinsamkeiten gefragt werden beider Disziplinen, Medizin und Politik, haben Sie ja vorhin gerade, glaube ich, auch noch mal so eine ordnungspolitische Sicht angeführt, gibt es auch etwas, was diese beiden ganz und gar trennt, Medizin auf der einen und Politik auf der anderen Seite?
Böhmer: Na ja, es gibt schon totale Unterschiede. Medizin ist ein naturwissenschaftlich orientiertes Fach. Da gelten die Regeln der Naturwissenschaften. Politik ist eher ein Fach, wo es anwaltschaftliche Denkweisen gibt. Da muss ich Gründe suchen, weshalb ich Recht habe und der andere Unrecht hat und so weiter. Da geht es nicht um eine naturwissenschaftlich exakte Erklärung. Das ist auch gar nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden identifizierbar. Das anwaltschaftliche Denken ist was völlig anderes wie naturwissenschaftliches Denken, und das muss man mitbekommen. Das ist klar. Wissen Sie, ich habe immer gedacht, im Krankenhaus, was ich einmal gesagt habe, galt, ich musste das nicht jeden Tag sieben Mal sagen. In der Politik, erst nach der zwanzigsten Wiederholung können Sie davon ausgehen, dass die Leute das dann kapiert haben oder hören wollten – kapiert haben sie es schon, aber hören wollten.
Wentzien: Was wäre aus Ihnen geworden, Herr Böhmer, hätten Sie als junger Arzt die DDR verlassen dürfen? Sie haben damals Albert Schweitzer geschrieben.
Böhmer: Ja.
Wentzien: Der war damals in Gabun.
Böhmer: Gabun, ja.
Wentzien: Und Albert Schweitzer hat Ihnen geantwortet. Was wäre aus Ihnen geworden, wären Sie in Lambaréné gewesen?
Böhmer: Das weiß ich nicht. Da muss ich immer sagen, ich weiß nicht, ob es mir dort gefallen hätte oder nicht. Ich gehe aber davon aus, in die DDR wäre nicht zurückgekommen, das kann ich sagen, aber den Rest muss ich offen lassen.
Wentzien: Herzlichen Dank!
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