Der 54-jährige Li Shufu, dessen Einstieg beim Autobauer Daimler erst vor Kurzem Schlagzeilen machte, hat vor vielen Jahren seine Unternehmerkarriere mit dem Bau von Kühlschränken begonnen. Später stieg er auf Motorräder, dann auf Autos um, kaufte schließlich den schwedischen Autobauer Volvo und managt ihn bis heute mit Erfolg.
Ein anderer, der Unternehmer Guo Guangchang, machte seine ersten Geschäfte als Student:
"Spätabends - meist nach 23 Uhr - ging er von Tür zu Tür im Studentenwohnheim und verkaufte Teigtaschen. 5 Yuan das Stück. 1992 fing er dann mit dem Verkauf von Medikamenten an, dann Versicherungen. Jetzt ist Fosun ein Konglomerat, das seit ein paar Jahren in aller Welt Unternehmen aus den unterschiedlichsten Branchen aufkauft."
Und Guo, der Chef, praktiziert heute Tai-Chi, ernährt sich meist vegetarisch und besitzt ein Vermögen von geschätzt rund sieben Milliarden Euro.
Neue High-Tech statt Markenkopie
Vom Tellerwäscher zum Millionär oder Milliardär. In seinem Buch "Chinas Bosse" beschreibt der Journalist Wolfgang Hirn eine ganze Reihe solcher Karrieren. Der Chef von Wanda gehört dazu, dem mittlerweile die größte Kinokette in den USA gehört. Und Jack Ma, der einstige Englischlehrer, der mit Alibaba einen der mächtigsten Internetkonzerne Chinas schuf.
Hirn nennt diese Pioniere der China AG die alte Garde, die in den 90er Jahren den Grundstein legte für ihren Erfolg und den ihres Landes. Lange Zeit hat man sie im Westen ein bisschen belächelt - als Emporkömmlinge aus dem Land der Kopierer und Nachahmer. Völlig falsch, sagt Hirn: "Wer so denkt, dass die Chinesen nur die billigen Produkte und die Fabrik der Welt ist, die Zeiten sind längst vorbei. Sie produzieren das zwar auch noch, aber sie produzieren das eben nicht nur. Sie produzieren mittlerweile genug technologisch anspruchsvolle Produkte und wir sollten China deswegen nicht unterschätzen."
Neben der "alte Garde" ist bereits eine andere Generation herangewachsen, die sich anschickt, die Welt zu erobern: Sie ist jung, internet-affin, im Westen ausgebildet und risikofreudig. Token Hu von Niu gehört dazu, der mit seinen Elektrorollern auch den deutschen Markt erobern will. Firmengründer wie er fühlen sich im Silicon Valley genauso zuhause wie in Zhongguancun, dem Startup-Viertel von Peking oder in Shenzhen, der Millionenstadt im Perlflussdelta und Heimat vieler Internetfirmen.
Die Interessen des Staates
Was dort entsteht, wird erst langsam sichtbar: Internet-Riesen wie Tencent oder Baidu, die es mit Facebook oder Google aufnehmen können. Die im Bereich der Künstlichen Intelligenz, der Gesichtserkennung, dem autonomen Fahren, der E-Mobilität ganz weit vorn mitmischen. Und zwar mit massiver Unterstützung des Staates.
"Also die chinesische Regierung will gerade im Bereich der Mobilität den großen technologischen Sprung schaffen, von der herkömmlichen Antriebstechnologie in die E-Mobilität oder in die alternativen Antriebstechnologien. Das ist das große Ziel der Regierung da einen Sprung hinzukriegen und den Westen und vor allem die deutsche Automobilindustrie abzuhängen. Und deshalb powert der China wahnsinnig, was die E-Mobilität angeht, da werden viele Milliarden von staatlicher Seite investiert, auch in Infrastruktur und da ist ein Unternehmen wie Geely, die auch in E-Mobilität unterwegs sind, sogar sehr gut unterwegs sind, ein wichtiger Faktor in dieser Strategie."
Ein privater Autokonzern wie Geely, der jetzt eben auch bei Daimler mitmischt, das ist die eine Seite der chinesischen Industriestrategie. Daneben gibt es die alten Staatskonzerne, die ebenfalls längst auf dem Weltmarkt angekommen sind. Und undurchsichtige private Konglomerate wie HNA, der Aktionär bei der Deutschen Bank.
Die Ereignisse überholen den Inhalt
Auch Wolfgang Hirn kommt den Verflechtungen hinter HNA nicht wirklich auf die Spur. Wie auch die Chefs der großen Staatskonzerne blass bleiben - sie geben ausländischen Journalisten grundsätzlich keine Interviews. Spitzenpolitiker wiederum, die Infrastrukturentscheidungen treffen, müssen in China keiner kritischen Presse Rede und Antwort stehen.
Angesichts solcher Hindernisse ist es umso bemerkenswerter, was Hirn an Geschichten und Hintergründen über Chinas Bosse zusammengetragen hat. Er schreibt zudem gut lesbar, faktenreich und sehr aktuell. Ein bisschen merkt man dem Buch den Zeitdruck an, unter dem es entstanden ist. Und die Aktualität wird schon Wochen nach Erscheinen von neuen Entwicklungen eingeholt. Geely und Daimler ist ein Beispiel. Der Versicherungskonzern Anbang ein anderes. Das Unternehmen, das in den letzten Jahren noch auf weltweiter Einkaufstour war, wurde gerade im Handstreich unter staatliche Verwaltung gestellt.
Trotzdem gelingt es Hirn gut, die aktuellen Trends zu beschreiben und die Zusammenhänge zwischen staatlicher Kontrolle und privatwirtschaftlichem Engagement sichtbar zu machen. Kein privates Unternehmen in China kann ohne den politischen Segen von oben aufsteigen oder im Ausland investieren. Aber private Firmen sind andererseits nicht nur die willfährigen Erfüllungsgehilfen der Kommunistischen Partei. Die KP braucht den Erfolg der privaten Unternehmen als Garant für Wachstum und Beschäftigung.
Und noch etwas zeichnet das Buch aus: Hirn beschreibt die Entwicklungen in China ohne in unkritische Lobeshymnen oder hysterische Warnrufe vor der Übermacht aus Fernost abzudriften. Sein Buch ist eher ein Weckruf, genauer hinzuschauen und sich in Deutschland und Europa nicht in selbstzufriedener technologischer Überlegenheit zu wiegen. Die Konkurrenz aus China muss ernstgenommen werden. Denn was dort derzeit entsteht, geht weit über einzelne Unternehmen hinaus. Worum es geht, ist die Gestaltung der digitalen Zukunft, und China wird dabei ein entscheidendes Wort mitreden.
Wolfgang Hirn: "Chinas Bosse. Unsere unbekannten Konkurrenten",
Campus-Verlag, 284 Seiten, 26 Euro.
Campus-Verlag, 284 Seiten, 26 Euro.