224 Wahlmänner für Biden, 213 für Donald Trump – das ist der von CNN aktuell vermeldete Zwischenstand. Auch Fox News sieht Trumps Herausforderer Biden bei der Präsidentschaftswahl derzeit vorn. Doch die Auszählung wird noch dauern – die Unsicherheit über das Wahlergebnis bleibt.
Dennoch erklärte sich Donald Trump bereits zum Wahlsieger. Bidens Team bezeichnete Trumps Äußerungen als skandalös und sieht sich für eine juristische Auseinandersetzung gerüstet.
Ebenfalls vorgeprescht ist der slowenische Ministerpräsident Jansa. Es sei ziemlich klar, dass das amerikanische Volk Trump und Pence für weitere vier Jahre gewählt habe, schrieb er auf Twitter. In den Augen von Wolfgang Ischinger, Chef der Münchner Sicherheitskonferenz und zuvor viele Jahre deutscher Botschafter in den USA, ist das beschämend. Die Europäische Union dürfe sich nicht auseinanderdividieren lassen, sagte er. Solange die Lage unklar sei, müsse man gemeinsam so lange warten, bis ein klares Ergebnis vorliege.
Dirk Müller: Herr Ischinger, was sagt Ihnen Ihr Bauch?
Wolfgang Ischinger: Sie haben ja gerade darauf angespielt, dass der Präsident – und wir haben ihn in der Vorberichterstattung ja auch gehört -, dass Donald Trump sich zumindest indirekt, informell bereits zum Wahlsieger erklärt hat. Das ist für sich genommen für die amerikanische Demokratie sicherlich eher beschämend und ein schlechtes Signal.
Was für mich aber noch viel beschämender ist, das ist, dass die Europäische Union in dieser Stunde sich in einer wirklich grotesken Lage auseinanderdividieren lässt. Sie können auf Twitter eine Mitteilung des slowenischen Ministerpräsidenten sehen, der Donald Trump jetzt bereits zum Wahlsieg gratuliert.
"Ich finde das außerordentlich peinlich"
Ich fürchte, dass wir hier einen Vorgeschmack bekommen, wie auch künftig Europa regelmäßig auseinanderfällt, wenn es es mit Großmächten zu tun hat. Ich würde also hoffen, dass die Führung der Europäischen Union, der Präsident des Europäischen Rats, die Präsidentin der EU-Kommission umgehend einen Sonderrat der Staats- und Regierungschefs einberufen, damit die Europäische Union in dieser noch unklaren Lage zumindest gemeinsam reagiert oder gemeinsam so lange wartet, bis man auf ein klares Ergebnis auch gemeinsam in welcher Weise auch immer reagieren kann. Ich finde das außerordentlich peinlich, dass an diesem Vormittag die Europäische Union bereits wieder auseinanderfällt.
Müller: Wenn ich hier mal reingehen darf, Herr Ischinger. Sie sagen, das ist so gravierend, das ist so ungeheuerlich, das ist so ein Bruch mit der demokratischen Tradition gerade auch Amerikas, dass sofort nach diesem Satz, nach dieser Ansprache von Donald Trump ein klares einheitliches Signal der Europäischen Union dringend vonnöten ist?
Ischinger: Verstehen Sie mich nicht falsch! Ich bin der Meinung, die Europäische Union sollte auf dieses Wahlergebnis, das wir noch nicht kennen, gemeinsam und nicht einzeln unterschiedlich reagieren und man sollte sich da abstimmen. Man sollte sich zumindest über die Frage abstimmen, ab wann sind wir der Meinung, dass wir uns zu dem Ergebnis der amerikanischen Wahl äußern können, ganz formal betrachtet.
Müller: Aber wir können ja kein Redeverbot gegenüber den osteuropäischen Staaten aussprechen.
Ischinger: Nein, natürlich nicht! Aber man kann sich doch konsultieren und wir konsultieren doch im Europäischen Rat uns ständig über alles, einschließlich der Pandemie.
Müller: Hat meistens aber kein Ergebnis zur Folge.
Ischinger: Man kann es zumindest versuchen.
Müller: Reden wir, Herr Ischinger, bitte über die internen Prozesse. Reden wir über das, was wir bisher zumindest faktisch annehmen können. 224 zu 213, 224 meldet CNN zu Gunsten von Joe Biden, 213 zu Gunsten von Donald Trump. Wisconsin soll in Richtung Biden gelaufen sein, melden jetzt auch einige Networks, einige Sender. Wir haben Ohio, Texas, Arizona beobachtet während der ganzen Nacht. Florida ist an Donald Trump gegangen, Ohio und Texas, Arizona mit großer Wahrscheinlichkeit an Joe Biden. Immer wieder wird über Pennsylvania gesprochen, weil dort die vielen, vielen Stimmen, die vielen, vielen Briefstimmen noch ausgezählt werden müssen. Da ist die Rede davon, dass Joe Biden noch auf 1,3 Millionen dieser Stimmen kommen muss. Wenn Pennsylvania zu Gunsten von Joe Biden fällt, ist das dann die Entscheidung?
Polarisierung in den USA könnte sich noch weiter akzentuieren
Ischinger: Lassen Sie mich, wenn ich darf, noch einen Schritt zurückgehen. Erstens mal können wir auch eine positive Nachricht zunächst einmal zur Kenntnis nehmen. Der Wahlvorgang, der ja jetzt abgeschlossen ist – die Wahlkabinen sind jetzt zu überall in den USA -, der Wahlvorgang ist ohne größere Zwischenfälle über die Bühne gegangen. Da gab es ja auch Befürchtungen, dass vielleicht es zu Schießereien oder Unruhen hier und da kommen könnte. – Punkt eins.
Punkt zwei: Wir wissen jetzt eins. Wir wissen zwar noch nicht, wer der Präsident wird, aber wir wissen: wer immer Präsident wird, wird diese Wahl nur knapp gewonnen haben. Es ist immer noch möglich, dass Joe Biden die Wahl gewinnt. Es ist aber auch möglich, dass Donald Trump seine Wiederwahl gewinnt.
Das heißt Folgendes: Das heißt, dass die Polarisierung in der amerikanischen Politik und in der amerikanischen Gesellschaft durch diesen Wahlvorgang leider nicht etwa abgemildert oder reduziert werden wird, sondern dass sie möglicherweise nur noch weiter akzentuiert wird.
Und das heißt drittens, dass wir leider auch damit rechnen müssen, dass das Wahlergebnis in den verschiedenen Einzelstaaten – das hat Donald Trump ja bereits angekündigt – womöglich vor Gericht landet und dass wir mit einer längeren Phase von Unsicherheit werden leben müssen – die amerikanischen Wähler vor allen Dingen, aber natürlich wir als Partner der USA auch -, bis es endgültig auch durch die Gerichte geklärt ist, welches Wahlergebnis nun amtlich festgestellt wird.
Müller: Sie kennen sich da sehr gut aus, Herr Ischinger, auch durch Ihre Zeit als Botschafter in den Vereinigten Staaten. Die Bundesstaaten sind aber, wenn wir das richtig verstanden haben, sehr souverän und autonom in der Festlegung des Wahlergebnisses – auch die Gerichte. Das heißt, wenn wir das jetzt weiter interpretieren – korrigieren Sie mich bitte -, dass der Bundesstaat und der Präsident sehr, sehr wenig Einfluss auf diesen Ausgang hat.
Ischinger: Na ja. Der Präsident kann natürlich, sagen wir mal, in Pennsylvania, wenn das Ergebnis anscheinend für Biden ausgeht, in Pennsylvania Klagen vorbringen. Die würden dann aber in der Tat nicht vor Bundesgerichten, sondern zunächst mal vor einem Gericht in Pennsylvania oder möglicherweise auch vor dem Kongress des Staates Pennsylvania ausgetragen werden. Erst am Schluss des Verfahrens gibt es dann theoretisch zumindest die Möglichkeit, das zum Supreme Court zu tragen. Das hatten wir ja alles, wenn Sie sich erinnern wollen, im Jahr 2000 schon mal, als zwischen Al Gore und George W. Bush der Wahlausgang in Florida auch vor Gericht ausgetragen wurde und schließlich sogar vor dem Supreme Court landete. Es hat leider Wochen gedauert und dieses Spektakel kann man leider jetzt, angesichts dieser Knappheit, mit der wir es im Augenblick zu tun haben, nicht ganz ausschließen, dass sich das wieder hinziehen könnte.
"Hätte mir gewünscht, dass Ergebnis jetzt schon feststeht"
Müller: Dann reden wir noch einmal über die prozentuale Verteilung. Sie haben das gerade als Stichwort genannt. Die Polarisierung ist nicht weg; ganz im Gegenteil. Jetzt werden sich aber viele Hörerinnen und Hörer auch fragen: Auf der anderen Seite wollen wir ja Kopf an Kopf Rennen haben in der Demokratie. Was ist gegen ein Wahlergebnis 51 zu 49 einzuwenden? Warum wird das jetzt so interpretiert, dass die Spaltung weiter voranschreitet, "nur" weil es ein denkbar knappes Ergebnis gibt?
Ischinger: Na ja, weil angesichts der Stimmung in den USA die Wahrscheinlichkeit ein bisschen geringer wäre, dass der Verlierer mit Erfolg behaupten kann, dass ihm die Wahl geklaut worden sei, wenn das Wahlergebnis, sagen wir mal, zwei Drittel zu einem Drittel wäre. Aber wenn das Wahlergebnis, so wie Sie gerade sagen, bei 51 zu 49 liegt in dem einen oder anderen Einzelstaat, dann ist dieser Verdacht, dass es da vielleicht durch Manipulation zu Unklarheiten gekommen sein könnte, größer.
Ich persönlich hätte mich gefreut, wenn das Wahlergebnis jetzt schon feststehen würde. Wenn beispielsweise Joe Biden Florida gewonnen hätte und jetzt noch einen der Staaten im mittleren Westen gewinnen würde, dann wäre es klar, dass der Präsident wäre. Umgekehrt wäre es auch klar, wenn der Präsident den Staat Arizona und einen dieser Staaten im mittleren Westen gewonnen hätte. Dann wäre er auch nicht mehr zu schlagen. Das wird ganz knapp ausgehen.
Ich persönlich denke auch, dass in der Vorberichterstattung angedeutet wurde, dass Joe Biden noch einen leichten Vorteil hat zur Stunde. Diese Einschätzung teile ich. Ich glaube, dass die Chancen, dass er gewinnt, im Augenblick doch noch ein kleines bisschen größer sind als die, dass der Präsident wieder gewinnt.
Lassen Sie mich noch eins hinzufügen.
"Trump konnte Amtsbonus nicht voll ausspielen"
Müller: Ich habe auch noch einen Punkt, Herr Ischinger.
Ischinger: Das geht ja gelegentlich in unseren Erörterungen unter. Normalerweise ist es und in den letzten zahlreichen Präsidentschaftswahlkämpfen in den USA war es in den meisten Fällen so, dass der Amtsinhaber seinen Amtsinhaber-Bonus ausspielen konnte. Wir haben in den letzten 30 Jahren nur einen einzigen Fall gehabt, wo einer, der gewählter Präsident war, seine Wiederwahl vermasselt hat. Diesen Amtsbonus konnte Donald Trump offenbar jedenfalls nicht voll ausspielen. Wenn er gewinnt, dann gewinnt er ganz, ganz knapp oder eben doch mit großen Schwierigkeiten.
Müller: 2016 hat es dieses Fiasko gegeben. Bei der Einschätzung bei den Wahlforschern jetzt 2020 wird diese Frage wieder gestellt. Bis gestern, 24 Uhr, wie auch immer definiert, waren die meisten davon ausgegangen, dass die Wahl eindeutiger ausfällt zu Gunsten von Joe Biden. War das jetzt wieder ein Versagen der Auguren?
Ischinger: Na ja. Ich bin kein professioneller Meinungsforscher. Aber wir stellen doch fest, Sie als Journalist, ich als früherer Diplomat, wir stellen doch fest, dass die Wahlprognosen überall, übrigens auch bei uns hier in Deutschland, in Europa unsicherer geworden sind, weil es einfach nicht mehr so ist, dass der John Smith, der vielleicht ein Demokrat war, einen Sohn hat, der Jack Smith heißt, und der wählt dann automatisch, weil sein Vater Demokrat war, auch demokratisch. So ist es ja bei uns auch nicht mehr. Nicht jedes Kind eines Sozialdemokraten wählt unbedingt sozialdemokratisch. Die Wähler entscheiden später. Sie legen sich manchmal erst Stunden oder Tage vorher fest, oder gar nicht, und entscheiden vielleicht spontan.
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