In diesen Tagen erschien in der Hamburger Edition, dem gedruckten Arm des Hamburger Instituts für Sozialforschung, ein Bändchen, auf dessen rotem Titel Rudi Dutschke und Andreas Baader, nicht einmal mehr durch ein Komma getrennt, zusammengerückt werden. Damit wird demonstrativ eine Neuinterpretation der Zeitgeschichte angekündigt. In einer Anzeige wird zudem - für diesen Verlag ungewöhnlich reißerisch - behauptet, was Dutschke propagiert habe, sei von Baader praktiziert worden. Rudi Dutschke als geistiger Brandstifter der RAF? Weder von Wolfgang Kraushaar, dem früher oft gelobten Chronisten der Protestbewegung, noch von dem Tabakkonzernerben Reemtsma, der sich mit dem von ihm finanzierten Institut schon in der Namensgebung in die großen Fußstapfen der Kritischen Theorie gestellt hat, hätte man wohl bisher derartiges erwartet. Das Buch, passend zur Berliner RAF-Ausstellung auf den Markt gebracht, enthält drei Beiträge. Kraushaar befasst sich mit dem Verhältnis Dutschkes zum bewaffneten Kampf, Karin Wieland malt ein Porträt von Baader, und Jan Philipp Reemtsma geht der Frage nach, was es heiße, die Geschichte der RAF zu verstehen. Klaus Meschkat hat "Rudi Dutschke Andreas Baader und die RAF" gelesen:
Jan Philipp Reemtsma weiß zunächst einmal genau, wie man sich dem Verständnis der Geschichte der RAF auf keinen Fall nähern sollte: indem man überlebende RAF-Mitglieder als Gesprächspartner bemüht und sich so in ihre Gedanken- und Gefühlswelt hineinversetzt. Der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter wird für einen solchen Versuch des Dialogs mit der früheren RAF-Angehörigen Birgit Hogefeld mit beißender Polemik bestraft, auch mit der Unterstellung, er übernehme billigend die menschenverachtende Terminologie seiner Partnerin und lasse es gleich ihr an Mitgefühl für die Opfer fehlen. Reemtsma entdeckt gewiss Schwächen in der Argumentation Richters, aber sein anklagender Ton gegen einen, der sich um besseres Verstehen bemüht, weckt unangenehme Erinnerungen an das Jahr 1977.
Reemtsma muss nicht mehr nach Wegen suchen, das Phänomen RAF zu deuten, er hat bereits alle Antworten. Er weiß: Die RAF kann nur verstehen, wer sie vollständig aus ihren Zeitbezügen herauslöst. Sie ist eine Gruppe, die ganz unabhängig von ihrer historischen Umwelt die Bedingungen ihres Handelns selbst schafft. Die RAF ist eine "attraktive Lebensform" zum Ausleben von Machtgelüsten. Solche Gruppen hat es immer wieder in der Geschichte gegeben, schon bei Dostojewski finden wir sie als "Böse Geister" verewigt.
So weit nun Jan Philip Reemtsma die innere Logik der Entwicklung einer Gruppe aufdeckt, die selbstherrlich ein Recht zum Töten für sich in Anspruch nimmt, kann er tatsächlich einiges erklären. Der Weg zu Morden und Selbstmorden scheint vorgezeichnet. Und nicht nur die eskalierenden Gewalttaten, sondern auch die erschreckenden Zitate aus den Gefängniskassibern, die Reemtsma zusammenstellt, stellen eine abstoßende Brutalität zur Schau. Aber ist das wirklich alles? Wie ist denn zu erklären, dass sich bestimmte Menschen in einem bestimmten Moment der westdeutschen Nachkriegsgeschichte zu einer Terrorgruppe dieser Art zusammengeschlossen haben? Unter ihnen eine Frau, deren journalistische Arbeiten in den 60er Jahren den Gedanken und Gefühlen vieler Menschen eine Sprache verliehen hatte, auch dem Mitleiden mit den Unterdrückten und Geschundenen? Könnte nicht irgendein Zusammenhang bestehen zwischen vorgängigen Exzessen staatlicher Gewaltausübung und der Gewaltbereitschaft der RAF-Gründer? Sehr konsequent vermeidet es Reemtsma, über die Zeit zu schreiben, in der die RAF in Erscheinung trat. Es geht ihm eher um Überzeitliches:
"Manche Menschen sind gern gewalttätig, manche sind es nicht."
Und es geht ihm auch um das Verkünden überzeitlicher Weisheiten und Warnungen.
"Man versteht nichts von der Geschichte der RAF, wenn man nicht insbesondere die Gewaltlockung erkennt, die in der Idee eines nichtentfremdeten, authentischen Lebens liegt."
Heißt das, jeder Wunsch nach einer anderen, besseren Ordnung, jede Vorstellung von möglicher Abschaffung entfremdeter Arbeit ist schon verdächtig, weil der Wunsch nach tiefgehender Gesellschaftsveränderung zwangsläufig zur Gewalt führe? Gegen Ende seines Artikels lässt Reemtsma keinen Zweifel daran, dass eben dies seine Überzeugung ist. Die tieferen Wurzeln der RAF seien in der Geisteshaltung von Individuen zu suchen, die
"das bürgerliche Leben nicht aushalten, weil es sie überfordert."
Der Druck der Differenziertheit und der Druck der Vereinzelung würden zu groß, deshalb suchten sie die solidarische Gemeinschaft – und fänden sie am besten in einer Gruppe von der Art der RAF. Aber eine solche Argumentation, die immer zur Standardausstattung konservativer Abwehr von "Systemveränderern" gehört hat, trifft augenscheinlich nicht nur Terrorgruppen. Implizit richtet sie sich auch gegen die große unbewaffnete Bewegung der 60er Jahre, die in erster Linie gegen imperialistische Gewaltausübung in Vietnam aufstand, dann aber auch gegen eine gesellschaftliche Ordnung, die solche Gewalt erst hervorbringt. Rudi Dutschke war eine Schlüsselfigur dieses Protests, und mit ihm beschäftigt sich der erste Beitrag des kleinen Bandes von Wolfgang Kraushaar.
Die von Reemtsma als gewaltfördernd angeprangerte Denkweise verkörperte Rudi Dutschke auf geradezu exemplarische Weise. Solidarität war für ihn der bestimmende Grundwert, Aufhebung von Entfremdung eine Zielvorstellung, an der auch die Realität des als real firmierenden Sozialismus zu messen war. Michaela Karl hat den Zusammenhang der politischen Ideen und strategischen Vorstellungen von Rudi Dutschke in einer großen Monographie (2003) mustergültig dargestellt. Kraushaar aber greift Rudi Dutschke nicht wegen dessen utopischen Denkens an. Er macht nun Anstrengungen, das Opfer eines Mordanschlags direkt in die Nähe des aktiven Terrorismus zu rücken: einmal als dessen Vordenker, dann aber auch, weil Dutschke selbst schon in terroristische Aktivitäten verwickelt gewesen sei oder sie heimlich geplant habe.
Mit der Beweisführung ist es nicht weit her. Der angebliche Vordenker soll mit dem bloßen Erstgebrauch von Wörtern überführt werden: Dutschke habe schon 1966 von Stadtguerilla gesprochen, noch vor dem berühmt-berüchtigten Handbuch der Stadtguerilla des Carlos Marighela! Dabei hat Kraushaar selbst bereits 1987 in einer Studie gezeigt, dass "Stadtguerilla" im Organisationskonzept von Rudi Dutschke etwas vollkommen anderes hieß als die Anleitung zum Waffengebrauch im städtischen Kampf gegen die blutige Militärdiktatur in Brasilien. Damals schrieb er:
"Dennoch wäre es verfehlt, hier im nachhinein von einer intellektuellen Vorwegnahme der Roten Armee Fraktion (RAF) zu sprechen. Nicht nur weil es in einem konkret historischen Sinn falsch wäre, sondern auch, weil es zwischen dem Aufruf vom Herbst 1967 und der Praxis der RAF eine unübersehbare qualitative Differenz gibt. Stadtguerilla wird von Dutschke und Krahl noch als Element einer Bewusstseinsstrategie definiert. Der Stellenwert der Militanz ergibt sich aus ihrer propagandistischen Funktion, nicht umgekehrt."
Wenn Kraushaar nun detailreich berichtet, wie Rudi Dutschke Sprengstoff transportiert hat, so stammen seine "Enthüllungen" aus längst veröffentlichten Büchern von Gretchen Dutschke und Bahman Nirumand, der Witwe und einem alten Freund Dutschkes. Der Sprengstoff ist nicht zum Einsatz gekommen – vermutlich deshalb, weil nicht auszuschließen war, dass die Grenze zwischen der Gewalt gegen Sachen und der Gewalt gegen Menschen überschritten werden könnte. Leichtfertig hat Rudi Dutschke damals gewiss gehandelt, nicht zuletzt im Hinblick auf die Herkunft des Sprengstoffs: Er stammte nämlich von einem eingeschleusten Spitzel des Verfassungsschutzes namens Peter Urbach. Der Staat selbst hat also Waffen geliefert, um Teile der außerparlamentarischen Opposition auf neue Bahnen zu bringen, damit man sie anschließend besser kriminalisieren kann.
Das Gewalt-Klima im Westberlin der 60er Jahre vernachlässigt Kraushaar ebenso wie den internationalen Zusammenhang: Rudi Dutschke und seine Freunde hatten diese Frontstadt des Kalten Kriegs tatsächlich zu einem Zentrum europäischer Proteste gegen den barbarischen Vietnamkrieg des USA gemacht. Auf den großen Vietnam-Kongress im Februar 1968 folgte eine von der Stadtobrigkeit geförderte Kundgebung von Berliner Bürgern gegen die protestierenden Studenten. Ein junger Mann wurde dort fast gelyncht, weil man ihn für Rudi Dutschke hielt. An einen Schutz der in dem aufgehetzten Klima häufig bedrohten APO-Führer durch staatliche Instanzen war nicht zu denken. Ist es da verwunderlich, dass Dutschke in seinen Aufzeichnungen Gedanken über eine parallele illegale Organisation zu Papier brachte? Wäre es nicht die Pflicht eines gewissenhaften Zeithistorikers, dem Leser zu erklären, in welchem Kontext solche Dokumente aus dem bisher unveröffentlichten Nachlass entstanden sind?
Unangenehm ist in Kraushaars Beitrag der Gestus der Enthüllung, des überfälligen Sturzes eines Säulenheiligen, so unangenehm wie seine Andeutungen, da sei bei weiterem Stöbern im Archiv womöglich noch mehr zu erwarten. Vernachlässigt wird der Bedeutungswandel von Wörtern: Nennt Kraushaar Dutschke plakativ den "Begründer der Stadtguerilla in Deutschland", so denkt natürlich jeder an die Stadtguerilla der RAF und ihre mörderische Praxis, und wenn er gezeigt haben will, wie nahe Dutschke dem Projekt des bewaffneten Kampfes bereits vor 1968 gekommen war, dann heißt das "Projekt" natürlich die RAF. Und dieser Effekt ist mit dem Bändchen wohl auch beabsichtigt – es hilft dann auch nicht mehr viel, dass Kraushaar wahrheitsgemäß mitteilt, Dutschke sei später ein politischer Gegner der RAF und des Terrorismus gewesen.
Bleibt noch der mittlere Beitrag in dem schmalen Band nachzutragen: Hinter einem kleinen Buchstaben "a" im Aufsatztitel verbirgt sich die Unterschrift Andreas Baaders unter seine Gefängnistexte. Wie man Baader als "deutschen Dandy" sehen kann, hatte Karin Wieland schon in einem Kursbuch vor acht Jahren vorgeführt, damals in einer ziemlich provozierenden Reihung mit Walter Rathenau und Alfred Herrhausen, die als zwei andere Spielarten des deutschen Dandys vorgeführt wurden. Was ihr damals an süffisanten Formulierungen gelungen war, übernimmt sie nun absatzweise wörtlich. Leider aber geht sie über diese Abschrift hinaus und wagt sich an eine wertende Beschreibung der Westberliner Studentenrebellion der 60er Jahre, von der sich Baader angezogen fühlte. Da sie hartnäckig alle politischen Konflikte ausklammert, die Ursache der Protestbewegung waren und in ihr zum Ausdruck kamen, erscheinen die Studenten bloß als frivole Unruhestifter, denen der Sinn nach Sensation und Revolution stand – ein psychologisches, nicht ein politisches Problem für eine Stadt und ein Land, mit deren Zustand man recht zufrieden sein konnte, zumal die Große Koalition gerade dabei war, die ökonomische Krise erfolgreich zu überwinden. Das gerät in die Nähe des Studenten-Bildes der damaligen Springer-Presse. Seltsam, denn der überheblich zur Schau gestellten Ignoranz wäre doch leicht abzuhelfen gewesen, wenn Frau Wieland einmal einen Blick in die älteren Protestchroniken des Kollegen Wolfgang Kraushaar geworfen hätte. Denen kann der Nicht-Zeitgenosse immerhin entnehmen, worum damals eigentlich gestritten wurde. Von Karin Wieland wird er es nicht erfahren.
Klaus Meschkat besprach: "Rudi Dutschke Andreas Baader und die RAF", erschienen in der Hamburger Edition. Das Buch hat 142 Seiten und kostet 12 Euro.
Die erwähnte Studie von Michaela Karl "Rudi Dutschke, Revolutionär ohne Revolution" ist im Verlag Neue Kritik im Jahr 2003 erschienen. Sie hat 553 Seiten und kostet 35 Euro. Wer sich unvoreingenommen ein eigenes Bild von der 68er Zeit und ihrem geschichtlichen Kontext machen möchte, dem sei an dieser Stelle die in der edition suhrkamp erschienene "Enzyklopädie 1968" empfohlen. Der im vergangenen Jahr von Rudolf Sievers sehr umfassend und informativ zusammengestellte Band enthält auf 490 Seiten viele wichtige Texte der Zeit, unter anderem auch Rudi Dutschkes Aufsatz: "Die geschichtlichen Bedingungen für den internationalen Emanzipationskampf.
Jan Philipp Reemtsma weiß zunächst einmal genau, wie man sich dem Verständnis der Geschichte der RAF auf keinen Fall nähern sollte: indem man überlebende RAF-Mitglieder als Gesprächspartner bemüht und sich so in ihre Gedanken- und Gefühlswelt hineinversetzt. Der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter wird für einen solchen Versuch des Dialogs mit der früheren RAF-Angehörigen Birgit Hogefeld mit beißender Polemik bestraft, auch mit der Unterstellung, er übernehme billigend die menschenverachtende Terminologie seiner Partnerin und lasse es gleich ihr an Mitgefühl für die Opfer fehlen. Reemtsma entdeckt gewiss Schwächen in der Argumentation Richters, aber sein anklagender Ton gegen einen, der sich um besseres Verstehen bemüht, weckt unangenehme Erinnerungen an das Jahr 1977.
Reemtsma muss nicht mehr nach Wegen suchen, das Phänomen RAF zu deuten, er hat bereits alle Antworten. Er weiß: Die RAF kann nur verstehen, wer sie vollständig aus ihren Zeitbezügen herauslöst. Sie ist eine Gruppe, die ganz unabhängig von ihrer historischen Umwelt die Bedingungen ihres Handelns selbst schafft. Die RAF ist eine "attraktive Lebensform" zum Ausleben von Machtgelüsten. Solche Gruppen hat es immer wieder in der Geschichte gegeben, schon bei Dostojewski finden wir sie als "Böse Geister" verewigt.
So weit nun Jan Philip Reemtsma die innere Logik der Entwicklung einer Gruppe aufdeckt, die selbstherrlich ein Recht zum Töten für sich in Anspruch nimmt, kann er tatsächlich einiges erklären. Der Weg zu Morden und Selbstmorden scheint vorgezeichnet. Und nicht nur die eskalierenden Gewalttaten, sondern auch die erschreckenden Zitate aus den Gefängniskassibern, die Reemtsma zusammenstellt, stellen eine abstoßende Brutalität zur Schau. Aber ist das wirklich alles? Wie ist denn zu erklären, dass sich bestimmte Menschen in einem bestimmten Moment der westdeutschen Nachkriegsgeschichte zu einer Terrorgruppe dieser Art zusammengeschlossen haben? Unter ihnen eine Frau, deren journalistische Arbeiten in den 60er Jahren den Gedanken und Gefühlen vieler Menschen eine Sprache verliehen hatte, auch dem Mitleiden mit den Unterdrückten und Geschundenen? Könnte nicht irgendein Zusammenhang bestehen zwischen vorgängigen Exzessen staatlicher Gewaltausübung und der Gewaltbereitschaft der RAF-Gründer? Sehr konsequent vermeidet es Reemtsma, über die Zeit zu schreiben, in der die RAF in Erscheinung trat. Es geht ihm eher um Überzeitliches:
"Manche Menschen sind gern gewalttätig, manche sind es nicht."
Und es geht ihm auch um das Verkünden überzeitlicher Weisheiten und Warnungen.
"Man versteht nichts von der Geschichte der RAF, wenn man nicht insbesondere die Gewaltlockung erkennt, die in der Idee eines nichtentfremdeten, authentischen Lebens liegt."
Heißt das, jeder Wunsch nach einer anderen, besseren Ordnung, jede Vorstellung von möglicher Abschaffung entfremdeter Arbeit ist schon verdächtig, weil der Wunsch nach tiefgehender Gesellschaftsveränderung zwangsläufig zur Gewalt führe? Gegen Ende seines Artikels lässt Reemtsma keinen Zweifel daran, dass eben dies seine Überzeugung ist. Die tieferen Wurzeln der RAF seien in der Geisteshaltung von Individuen zu suchen, die
"das bürgerliche Leben nicht aushalten, weil es sie überfordert."
Der Druck der Differenziertheit und der Druck der Vereinzelung würden zu groß, deshalb suchten sie die solidarische Gemeinschaft – und fänden sie am besten in einer Gruppe von der Art der RAF. Aber eine solche Argumentation, die immer zur Standardausstattung konservativer Abwehr von "Systemveränderern" gehört hat, trifft augenscheinlich nicht nur Terrorgruppen. Implizit richtet sie sich auch gegen die große unbewaffnete Bewegung der 60er Jahre, die in erster Linie gegen imperialistische Gewaltausübung in Vietnam aufstand, dann aber auch gegen eine gesellschaftliche Ordnung, die solche Gewalt erst hervorbringt. Rudi Dutschke war eine Schlüsselfigur dieses Protests, und mit ihm beschäftigt sich der erste Beitrag des kleinen Bandes von Wolfgang Kraushaar.
Die von Reemtsma als gewaltfördernd angeprangerte Denkweise verkörperte Rudi Dutschke auf geradezu exemplarische Weise. Solidarität war für ihn der bestimmende Grundwert, Aufhebung von Entfremdung eine Zielvorstellung, an der auch die Realität des als real firmierenden Sozialismus zu messen war. Michaela Karl hat den Zusammenhang der politischen Ideen und strategischen Vorstellungen von Rudi Dutschke in einer großen Monographie (2003) mustergültig dargestellt. Kraushaar aber greift Rudi Dutschke nicht wegen dessen utopischen Denkens an. Er macht nun Anstrengungen, das Opfer eines Mordanschlags direkt in die Nähe des aktiven Terrorismus zu rücken: einmal als dessen Vordenker, dann aber auch, weil Dutschke selbst schon in terroristische Aktivitäten verwickelt gewesen sei oder sie heimlich geplant habe.
Mit der Beweisführung ist es nicht weit her. Der angebliche Vordenker soll mit dem bloßen Erstgebrauch von Wörtern überführt werden: Dutschke habe schon 1966 von Stadtguerilla gesprochen, noch vor dem berühmt-berüchtigten Handbuch der Stadtguerilla des Carlos Marighela! Dabei hat Kraushaar selbst bereits 1987 in einer Studie gezeigt, dass "Stadtguerilla" im Organisationskonzept von Rudi Dutschke etwas vollkommen anderes hieß als die Anleitung zum Waffengebrauch im städtischen Kampf gegen die blutige Militärdiktatur in Brasilien. Damals schrieb er:
"Dennoch wäre es verfehlt, hier im nachhinein von einer intellektuellen Vorwegnahme der Roten Armee Fraktion (RAF) zu sprechen. Nicht nur weil es in einem konkret historischen Sinn falsch wäre, sondern auch, weil es zwischen dem Aufruf vom Herbst 1967 und der Praxis der RAF eine unübersehbare qualitative Differenz gibt. Stadtguerilla wird von Dutschke und Krahl noch als Element einer Bewusstseinsstrategie definiert. Der Stellenwert der Militanz ergibt sich aus ihrer propagandistischen Funktion, nicht umgekehrt."
Wenn Kraushaar nun detailreich berichtet, wie Rudi Dutschke Sprengstoff transportiert hat, so stammen seine "Enthüllungen" aus längst veröffentlichten Büchern von Gretchen Dutschke und Bahman Nirumand, der Witwe und einem alten Freund Dutschkes. Der Sprengstoff ist nicht zum Einsatz gekommen – vermutlich deshalb, weil nicht auszuschließen war, dass die Grenze zwischen der Gewalt gegen Sachen und der Gewalt gegen Menschen überschritten werden könnte. Leichtfertig hat Rudi Dutschke damals gewiss gehandelt, nicht zuletzt im Hinblick auf die Herkunft des Sprengstoffs: Er stammte nämlich von einem eingeschleusten Spitzel des Verfassungsschutzes namens Peter Urbach. Der Staat selbst hat also Waffen geliefert, um Teile der außerparlamentarischen Opposition auf neue Bahnen zu bringen, damit man sie anschließend besser kriminalisieren kann.
Das Gewalt-Klima im Westberlin der 60er Jahre vernachlässigt Kraushaar ebenso wie den internationalen Zusammenhang: Rudi Dutschke und seine Freunde hatten diese Frontstadt des Kalten Kriegs tatsächlich zu einem Zentrum europäischer Proteste gegen den barbarischen Vietnamkrieg des USA gemacht. Auf den großen Vietnam-Kongress im Februar 1968 folgte eine von der Stadtobrigkeit geförderte Kundgebung von Berliner Bürgern gegen die protestierenden Studenten. Ein junger Mann wurde dort fast gelyncht, weil man ihn für Rudi Dutschke hielt. An einen Schutz der in dem aufgehetzten Klima häufig bedrohten APO-Führer durch staatliche Instanzen war nicht zu denken. Ist es da verwunderlich, dass Dutschke in seinen Aufzeichnungen Gedanken über eine parallele illegale Organisation zu Papier brachte? Wäre es nicht die Pflicht eines gewissenhaften Zeithistorikers, dem Leser zu erklären, in welchem Kontext solche Dokumente aus dem bisher unveröffentlichten Nachlass entstanden sind?
Unangenehm ist in Kraushaars Beitrag der Gestus der Enthüllung, des überfälligen Sturzes eines Säulenheiligen, so unangenehm wie seine Andeutungen, da sei bei weiterem Stöbern im Archiv womöglich noch mehr zu erwarten. Vernachlässigt wird der Bedeutungswandel von Wörtern: Nennt Kraushaar Dutschke plakativ den "Begründer der Stadtguerilla in Deutschland", so denkt natürlich jeder an die Stadtguerilla der RAF und ihre mörderische Praxis, und wenn er gezeigt haben will, wie nahe Dutschke dem Projekt des bewaffneten Kampfes bereits vor 1968 gekommen war, dann heißt das "Projekt" natürlich die RAF. Und dieser Effekt ist mit dem Bändchen wohl auch beabsichtigt – es hilft dann auch nicht mehr viel, dass Kraushaar wahrheitsgemäß mitteilt, Dutschke sei später ein politischer Gegner der RAF und des Terrorismus gewesen.
Bleibt noch der mittlere Beitrag in dem schmalen Band nachzutragen: Hinter einem kleinen Buchstaben "a" im Aufsatztitel verbirgt sich die Unterschrift Andreas Baaders unter seine Gefängnistexte. Wie man Baader als "deutschen Dandy" sehen kann, hatte Karin Wieland schon in einem Kursbuch vor acht Jahren vorgeführt, damals in einer ziemlich provozierenden Reihung mit Walter Rathenau und Alfred Herrhausen, die als zwei andere Spielarten des deutschen Dandys vorgeführt wurden. Was ihr damals an süffisanten Formulierungen gelungen war, übernimmt sie nun absatzweise wörtlich. Leider aber geht sie über diese Abschrift hinaus und wagt sich an eine wertende Beschreibung der Westberliner Studentenrebellion der 60er Jahre, von der sich Baader angezogen fühlte. Da sie hartnäckig alle politischen Konflikte ausklammert, die Ursache der Protestbewegung waren und in ihr zum Ausdruck kamen, erscheinen die Studenten bloß als frivole Unruhestifter, denen der Sinn nach Sensation und Revolution stand – ein psychologisches, nicht ein politisches Problem für eine Stadt und ein Land, mit deren Zustand man recht zufrieden sein konnte, zumal die Große Koalition gerade dabei war, die ökonomische Krise erfolgreich zu überwinden. Das gerät in die Nähe des Studenten-Bildes der damaligen Springer-Presse. Seltsam, denn der überheblich zur Schau gestellten Ignoranz wäre doch leicht abzuhelfen gewesen, wenn Frau Wieland einmal einen Blick in die älteren Protestchroniken des Kollegen Wolfgang Kraushaar geworfen hätte. Denen kann der Nicht-Zeitgenosse immerhin entnehmen, worum damals eigentlich gestritten wurde. Von Karin Wieland wird er es nicht erfahren.
Klaus Meschkat besprach: "Rudi Dutschke Andreas Baader und die RAF", erschienen in der Hamburger Edition. Das Buch hat 142 Seiten und kostet 12 Euro.
Die erwähnte Studie von Michaela Karl "Rudi Dutschke, Revolutionär ohne Revolution" ist im Verlag Neue Kritik im Jahr 2003 erschienen. Sie hat 553 Seiten und kostet 35 Euro. Wer sich unvoreingenommen ein eigenes Bild von der 68er Zeit und ihrem geschichtlichen Kontext machen möchte, dem sei an dieser Stelle die in der edition suhrkamp erschienene "Enzyklopädie 1968" empfohlen. Der im vergangenen Jahr von Rudolf Sievers sehr umfassend und informativ zusammengestellte Band enthält auf 490 Seiten viele wichtige Texte der Zeit, unter anderem auch Rudi Dutschkes Aufsatz: "Die geschichtlichen Bedingungen für den internationalen Emanzipationskampf.