Thekla Jahn: Dylan ist Nobelpreisträger. Hätten Sie damit noch gerechnet?
Wolfgang Niedecken: Naja, er war ja über all die Jahre immer wieder in der Lostrommel, und eigentlich hat man dann immer die anderen Entscheidungen zur Kenntnis genommen und hat mit den Schultern gezuckt und gedacht: Na ja, gut, der kriegt es halt wieder nicht. Ich hatte mich eigentlich damit abgefunden. Umso mehr freue ich mich jetzt. Bleibt nur zu hoffen, dass er ihn auch annimmt, weil: nötig hat er ihn nicht.
Jahn: Er ist kein Schriftsteller, so sagen die Kritiker. Und heute hat sich auch schon einer zu Wort gemeldet, der meinte, diese Entscheidung sei ein Witz. Hat Dylan den Preis dennoch verdient?
Niedecken: Er hat ihn absolut verdient. Ich meine, dass solche Stimmen kommen, das weiß man ja nun auch. Das ist überhaupt keine Überraschung, dass, wenn er ihn dann kriegt, dass diese Stimmen dann kommen. Nein, er hat ihn total verdient, weil: wie Bruce Springsteen in seiner Laudatio, als er in die Rock'n'Roll Hall of Fame aufgenommen wurde - Springsteen hat damals gesagt: Elvis hat dem Rock'n'Roll den Unterleib gegeben und Bob Dylan hat ihm das Gehirn gegeben. Er hat alle so dermaßen beeinflusst. Ich glaube, die Welt sähe heute wirklich anders aus, wenn Bob Dylan nicht vor allem diese drei unglaublichen Alben in den Jahren 65 bis 66 geschrieben hätte: "Bringing It All Back Home", "Highway 61 Revisited" und "Blonde on Blonde", die Welt sähe anders aus. Und die Beatles und die Rolling Stones hätten wahrscheinlich dann weiterhin Boy-meets-girl-Texte geschrieben.
"Ich habe ihn vollkommen entspannt erlebt"
Jahn: Großer Einfluss, den Sie Bob Dylan zusprechen. Manch einer sagt sogar, Sie seien so etwas wie der deutsche Bob Dylan. Was fasziniert Sie an der Songpoesie dieses Singer-Songwriters?
Niedecken: Also ich bin der Kölner Wolfgang Niedecken und ich habe mich sehr an ihm orientiert. Bob Dylan war für mich immer so eine Art Polarstern, an dem man sich wirklich auch orientieren kann. Ich habe ihn kennengelernt vor 16, 17 Jahren, als ich mit Wim Wenders zusammen in einem Konzert war und Wim Wenders kennt ihn noch aus den 60er, 70er Jahren - und das ist natürlich wunderbar, wenn man dann anschließend nach dem Konzert dann von dem einen Kumpel dem anderen Kumpel vorgestellt wird, dann ist man auch ein Kumpel und hat nicht diese Meet-and-greet-Situation, die ja eher etwas peinlich ist. Also ich habe ihn vollkommen entspannt erlebt und auch als jemanden, der universal interessiert ist. Also er ist wirklich ein sehr gebildeter Mensch, der wirklich universal interessiert ist. An dem nächsten Tag hat er in Berlin gespielt und ich weiß noch genau, dass er von Wim ganz viel zu den Preußen wissen wollte, zu den Preußenkönigen. Ganz viele Details. Und die haben sich dann noch mal verabredet für den nächsten Tag, um noch irgendwelche Bücher anzuschleppen, wo er Material hatte.
Jahn: Dylans Musik hat sich am Anfang seiner Karriere sehr stark an der Straßen- und Volksballadentradition orientiert. Das soziale, das politische Engagement war in seinen frühen Werken vorherrschend. Hat Sie das besonders fasziniert anfangs?
Niedecken: Was er vor allen Dingen getan hat, ist, dass er die Beat-Poeten - also von Allen Ginsberg, Burroughs, Kerouac -, dass er die zusammengebracht mit dem Folk, mit dem Rock, mit dem Blues und vor allen Dingen auch mit den Sachen, die Chuck Berry gemacht hat. Er hat das zusammengebracht, und das allerdings auf einem Niveau, wo die Mitbewerber nicht mehr ganz hinterherkamen, weil die Folkmusik war damals so eine ziemlich starre Geschichte.
"Die Postmoderne zeichnet sich ja dadurch aus, dass man auch selektiv vorgeht"
Jahn: Er hat sogar sehr viel mehr noch untergebracht. Er hat sich orientiert an antiken Überlieferungen von Odysseus und Shakespeare-Stücken, er hat Brecht'sche Dramatik mit untergebracht, Briefe von Ovid aufgegriffen. Manch einer sagt, das sei alles Plagiat.
Niedecken: Letztendlich leben wir seit vielen Jahrzehnten in der Postmoderne, und die Postmoderne zeichnet sich ja dadurch aus, dass man auch selektiv vorgeht, dass alles Material ist. Wenn alles Material ist, dann ist auch Ovid Material, dann ist Brecht Material, dann sind die Beat-Poeten... das ist in der Postmoderne so.
Jahn: Jetzt haben wir ganz viel über die Texte gesprochen. Die Musik fällt im Vergleich zu den Texten oft eher ab und wirkt in Cover-Versionen manchmal besser als bei Dylan. Wie geht es Ihnen?
Niedecken: Ja, es gibt Cover-Versionen, die haben den Song - nehmen wir mal Jimi Hendrix' Version von "All Along the Watchtower" - das ist eine unfassbare Version, noch im Originalalbum auf John Wesley Harding ist das eher ein kleines Liedchen mit einem ganz originellen Text, aber da wird sich für die Musik eigentlich nicht unbedingt jemand für interessieren. Aber es gibt auch Songs, an denen man sich wirklich die Finger verbrennen kann, wie "Like a Rolling Stone". Da würde ich keinem empfehlen, das zu covern - und ausgerechnet ich Idiot habe es getan.
Jahn: Welcher Song würde denn heute an diesem Tag zu Bob Dylan passen?
Niedecken: Ein altes Lied wäre "Desolation Row", das ist für mich auch immer wie so ein Leuchtturm, ein wunderbares Lied. Von den neueren "Scarlet Town". Das geht eigentlich in die gleiche Richtung. Die Zeilen: "If love is a sin, then beauty is a crime. All things are beautiful in their time. The black and the white, the yellow and the brown. It's all right there in front of you in Scarlet Town."
Jahn: Vielen Dank, Wolfgang Niedecken.
Niedecken: Bitte schön!
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