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Wolfgang Thierse beklagt "Politikerverachtung" in Deutschland

Ein Jahr Volkskammer und 23 Jahre im gesamtdeutschen Parlament: Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse verabschiedet sich am Ende dieser Legislaturperiode - und stellt eine bittere Diagnose zu unserer politischen Kultur. In Deutschland gebe es einen "abgrundtiefen Respektverlust" vor demokratischen Politikern.

Wolfgang Thierse im Gespräch mit Christoph Heinemann | 28.06.2013
    Christoph Heinemann: Bis ein Uhr früh in der Nacht oder am frühen Morgen genauer gesagt hat der Deutsche Bundestag getagt, und der Vizepräsident des Hohen Hauses sagte anschließend:

    O-Ton Wolfgang Thierse: "Die Tagesordnung ist erschöpft, ich auch."

    Heinemann: Heute tagt der Bundestag also zum letzten Mal vor der Sommerpause und abgesehen von einer Sondersitzung Anfang September: damit endet in dieser Legislaturperiode – sie trägt die Nummer 17 – die Arbeit im Plenum des Hohen Hauses. Das ist der eine Schlusspunkt. Der andere ist endgültiger, denn nach fast einem Viertel Jahrhundert scheidet der SPD-Politiker Wolfgang Thierse nach der Bundestagswahl aus dem Bundestag aus. Wir sind jetzt mit dem Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages am Telefon verbunden. Guten Morgen!

    Wolfgang Thierse: Guten Morgen, Herr Heinemann.

    Heinemann: Herr Thierse, erst mal danke schön. Sie hatten eine sehr, sehr kurze Nacht.

    Thierse: Ja, das ist so.

    Heinemann: Wie sinnvoll sind solche Marathon-Veranstaltungen so kurz vor Ende der Legislaturperiode?

    Thierse: Das sind ja Ausnahmesituationen. Sie wissen, es gilt das Prinzip der Diskontinuität. Wenn die Legislaturperiode endet, dann verfällt gewissermaßen alles, und das führt dazu, dass man noch kurz vor Toresschluss viele Anträge, Gesetzesentwürfe, die in den vergangenen Monaten in den Ausschüssen lagen, beraten wurden, aber noch nicht ins Plenum gekommen sind, dass man sie noch absolvieren will. Wenn wir das alles debattiert hätten, alle Reden gehalten worden wären, dann wäre diese Sitzung bis heute Früh um zehn gelaufen. Also geben viele ihre Debattenbeiträge zu Protokoll. Das heißt, sie schreiben sie auf und geben sie zu Protokoll. Das ist dann nicht mündlich gehalten, aber sozusagen schriftlich gehalten, und das führt dazu, dass man dann eine endlos lange Verlesung von Tagesordnungspunkten, Themen und Abstimmungen absolvieren muss. Ich glaube, ich habe knappe anderthalb Stunden zu reden gehabt, Abstimmungen durchzuführen gehabt. Da ist man dann am Schluss wirklich erschöpft.

    Heinemann: Wird da nicht mehr Quantität und weniger Qualität beschlossen?

    Thierse: Ich sage ja, es ist eine Ausnahmesituation. Der Bundestag ist – ich weiß nicht, ob man leider oder Gott sei Dank sagen soll – ein verflucht fleißiges Parlament. Er formuliert viele Anträge, viele Initiativen, er debattiert Gesetzentwürfe ausführlich. Sie wissen doch, die Gesetzentwürfe kommen nicht nur von der Bundesregierung, sondern ein Teil vom Bundesrat, aber auch besonders viele von den Fraktionen des Bundestages, und sie müssen dann pflichtgemäß auch mal am Schluss abgestimmt werden und dann soll debattiert werden. Und wenn es dann am Schluss einen solchen Stau gibt, dann kommt es zu solch einer Ausnahmesituation.

    Heinemann: Herr Thierse, "verflucht fleißig" haben Sie gesagt. Schauen wir mal auf die Enden der Legislaturperiode, jetzt mal ganz egal, wie man zu den einzelnen Themen stehen möchte: Euro, Energie, Wehrpflicht, mehr Rechte für Homosexuelle. Hat sich Ihrer Einschätzung nach Deutschland in den vergangenen vier Jahren verändert?

    "Die soziale Spaltung im Lande hat eher zugenommen"
    Thierse: Das ist so schwer zu sagen, wenn man so nah dran ist. Dann hat man ja kein objektives Urteil. Ich glaube, gesellschaftlich hat sich Deutschland weiter verändert, auch gegen den Widerstand mancher Konservativer, wie man ja gerade am Beispiel des Umgangs mit Homosexuellen zeigt. Da hat das Bundesverfassungsgericht die schwarz-gelbe Mehrheit gezwungen, endlich Gesetzesentscheidungen zu treffen, die sie bisher immer trotz rot-grüner Initiativen zahlreicher Art abgelehnt hat. Aber in Sachen Krisenbewältigung, in Sachen Europa, in Sachen sozialer Gerechtigkeit, da hat es keine Fortschritte gegeben, eher Stillstand oder sogar Zurückrücken. Denn nehmen wir das Thema soziale Gerechtigkeit: Alle Befunde, die wir zu lesen bekommen, sind doch eindeutig. Die soziale Spaltung im Lande hat eher zugenommen als abgenommen. Es gibt Nutznießer der Krise und es gibt Verlierer der Krise, und das ist doch, denke ich, ziemlich beklagenswert.

    Heinemann: Kommen wir noch mal auf das Parlament zu sprechen. Was würden Sie gerne am heutigen parlamentarischen Betrieb verbessern?

    Thierse: Ich glaube, vieles ist ganz richtig so, wie es läuft. Aber manche Abläufe sind gut eingespielt: Der Donnerstag Vormittag, die sogenannte Kernzeit, dort sollen wichtige Themen debattiert werden. Das gelingt im Allgemeinen. Aber ich glaube, dass die Fragestunde, die Regierungsbefragung am Mittwoch Nachmittag, dass sie nicht wirklich interessant, dramatisch zugespitzt, ist. Es gibt ja den vernünftigen, wie ich finde, Vorschlag einer Kanzlerbefragung, dass in gewissen Abständen der Kanzler, die Kanzlerin sich den Fragen der Parlamentarier unmittelbar stellt. So etwas gibt es im britischen Parlament. Das könnte ein belebendes Element sein.

    Ich finde auch, dass wir nicht alles und jedes, nicht alle Themen wirklich ins Plenum bringen müssen. Ich glaube, dass eine Reihe von Entscheidungen in öffentliche Ausschusssitzungen verlagert werden können, sodass wir tatsächlich insgesamt weniger Reden zu Protokoll und weniger ohne Debatte Tagesordnungspunkte haben, sondern dass wir immer nur entscheiden müssen, was muss in großer öffentlicher Debatte oder auch in kleiner öffentlicher Debatte im Plenum entschieden werden und was kann in öffentlichen Ausschusssitzungen vernünftigerweise erledigt werden.

    Heinemann: Bei wichtigen Entscheidungen herrscht Fraktionszwang. Einerseits kann eine Regierung ohne ein verlässliches Abstimmungsverhalten ja nicht regieren. Andererseits muss sich ein Teil der Abgeordneten manchmal verbiegen. Wünschen Sie sich Volksvertreter als Realos oder als Fundis?

    Joachim Gauck und Wolfgang Thierse zu Beginn einer Fraktionssitzung der SPD im Bundestag in Berlin
    Joachim Gauck und Wolfgang Thierse (picture alliance / dpa / Wolfgang Kumm)
    "Überzeugungen auch in die Politik übersetzen"
    Thierse: Natürlich als Realos. Man soll seine Überzeugungen haben und diese Überzeugungen auch in die Politik übersetzen. Aber ich glaube, dass die meisten Bürger das Bedürfnis haben zu erkennen, wofür eine Partei steht. Eine Fraktion, die ja die Ansichten der Partei im Parlament vertritt, wenn die zehn verschiedene Ansichten vorträgt, das trägt nicht zur politischen Klarheit bei. Also dass Fraktionen sich einigen und einheitlich abstimmen, das ist, glaube ich, vernünftig, und das Fraktionszwang zu nennen, ist nur immer die negative Dämonisierung eines vernünftigen demokratischen Verhaltens.

    Heinemann: Herr Thierse, wir wollen hören, was Kerstin Müller von den Grünen irgendwann zwischen gestern und heute Früh im Bundestag gesagt hat.

    O-Ton Kerstin Müller: "Ich finde, dass in diesem Hohen Haus viele Sternstunden auch stattfinden, und ich finde, dass der Deutsche Bundestag viel besser ist als sein Ruf."

    Heinemann: Für diesen Ruf sind ja auch die Medien verantwortlich, die die Politik spiegeln. Gefällt Ihnen das, was Sie in diesem Spiegel lesen, hören und sehen?

    Thierse: Auch das ist differenziert, aber mehrheitlich nicht.

    Heinemann: Mehrheitlich nicht?

    Thierse: Ja. Wenn ich mich persönlich erinnere daran, wie unser Aufbruch 1990 war, mit welcher Leidenschaft, mit welcher Begeisterung wir in die Politik gegangen sind, und wenn ich das vergleiche mit der Atmosphäre jetzt, ein geradezu abgrundtiefer Respektverlust von demokratischen Politikern, eine Politikerverachtung grassiert in diesem Lande, medial befeuert, dann wird mir Himmel Angst und Bang. Dann aber jedenfalls bin ich sehr traurig darüber, denn die allermeisten Politiker, bei allen Fehlern und Fehlverhalten, die auch wir Menschen als Politiker zeigen, sie sind doch unerhört fleißige Leute, die sich der Mühsal der Auseinandersetzung, der Lösungssuche, der Kompromisssuche aussetzen, auch der Kritik, das gehört dazu. Aber dass sie in einer Weise hämisch behandelt werden, wie das in unseren Medien dominiert, das macht mich tief, tief traurig.

    Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse nimmt am 1. Mai an einer Sitzblockade gegen einen Nazi-Aufmarsch in Prenzlauer Berg teil.
    Bundestagsvizeepräsident Wolfgang Thierse nimmt an einer Sitzblockade gegen einen Nazi-Aufmarsch in Prenzlauer Berg teil. (AP)
    Auch der Deutschlandfunk: flott hämisch?
    Heinemann: Und das gilt auch für den Deutschlandfunk. Das haben Sie jedenfalls im Programmheft dieses Monats gesagt auf die Frage, was sollte beim Deutschlandfunk verbessert werden: etwas weniger flott hämische Kritik an Politik und Politikern. Wann sind wir flott hämisch?

    Thierse: Also ich höre immer Deutschlandfunk. Ich höre gar keinen anderen Sender, weil ich ihn vergleichsweise sachlich informativ finde, und vor allem, weil ich gar nicht durch Werbung behelligt werde. Aber sich einmal in die Situation von Politikern versetzen, die nicht nur flotte Einfälle haben dürfen, schnelle kritische Kommentare, dazu sind die meisten Politiker auch fähig, sondern die schwierige Entscheidungsprozesse durchzustehen haben, die Kompromisse erreichen müssen, wo beide Seiten etwas von den eigenen Überzeugungen und Vorschlägen drangeben, das fände ich schon ganz sympathisch. Dann würde jedenfalls das negative Urteil, das leichte Urteil schwerer fallen.

    Heinemann: Das ist eine Frage des Stils, und darum geht es wohl auch bei einer Äußerung von Günter Grass, die die "Bild"-Zeitung heute herausgezogen hat, der nämlich Angela Merkel angegriffen hat. Er hat gesagt, Merkel habe eine doppelte gesamtdeutsche Ausbildung erfahren: als FDJ-Funktionärin in der DDR und dann unter Kanzler Helmut Kohl. In der FDJ-Zeit hat sie Anpassung und Opportunität gelernt, bei Kohl natürlich den Umgang mit Macht und das Wegboxen von Nebenbuhlern. Das hat Grass in einer Veranstaltung mit SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück gesagt. Die CDU hat die SPD und Steinbrück aufgefordert, sich davon zu distanzieren. Sollte die SPD das tun?

    Thierse: In dieser Diskussion war ich der Moderator und Herr Steinbrück hat in verschiedenen Punkten Günter Grass widersprochen. Ich weiß nicht, warum eine Partei sich von den persönlichen Ansichten eines großen Autors distanzieren muss. Das sind Äußerungen in seiner Verantwortung. Und ich weiß doch auch, dass es hämische, böse, kräftige Urteile von Seiten der CDU, von Politikern gegenüber Steinbrück gibt. Ich kann nicht sehen, dass es Sinn macht, wenn wir dann die CDU auffordern, sich dafür zu entschuldigen. Wenn, dann muss man das, diese Aufforderung, an Günter Grass richten. Ich würde das Urteil so nicht formulieren.

    Was ich über Angela Merkel in diesem Zusammenhang zu sagen habe, habe ich gelegentlich in Interviews gesagt. Man kann niemandem vorwerfen, dass er in einer Diktatur ein unauffälliges angepasstes Leben geführt hat. Ich habe nur eine leise Kritik daran geübt, dass Frau Merkel gelegentlich den Eindruck erweckt hat, als habe sie eine Widerstandsbiografie hinter sich.

    Heinemann: Herr Thierse, wird Ihnen der Abschied aus dem Bundestag schwer fallen?

    "Ich merke schon eine leise Wehmut"
    Thierse: Er fällt mir schwer. Ich merke schon eine leise Wehmut. Ich war dann im Herbst 24 Jahre Parlamentarier, ein Jahr Volkskammer, ein dramatisches Jahr, das spannendste Jahr meines Lebens, 23 Jahre im Bundestag, 15 Jahre davon im Präsidium als Präsident und Vizepräsident. Es wird mir schwer fallen, aber ich habe mich frei entschieden, nicht wieder zu kandidieren, und das hilft ja. Man kann sich gewöhnen an den Gedanken, dass die Politik, jedenfalls die parlamentarische Existenz zu Ende geht. Besser so, als davongejagt zu werden.

    Heinemann: Wolfgang Thierse (SPD), der Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Danke schön für das Gespräch und ich sage auf Wiederhören, und ob Sie wollen oder nicht: das meinen wir auch so. Danke schön für das Gespräch, alles Gute Ihnen.

    Thierse: Ich stehe zur Verfügung.

    Heinemann: Prima!

    Thierse: Einen schönen Tag!

    Heinemann: Ihnen auch!

    Thierse: Danke!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Die letzte Parlamentsdebatte im Bonner Bundestag fand am 30. Juni 1999 statt.
    Die letzte Parlamentsdebatte im Bonner Bundestag am 30. Juni 1999 (AP)