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Wolfgang Thierse
"Fundamentalistische Interpretationen von Religion passen nicht in unser Land"

Die deutsche Gesellschaft müsse sich auf den zunehmenden Pluralismus einstellen, der voller sozialem und kulturellem Konfliktpotential stecke, sagte Wolfgang Thierse, SPD-Politiker und Ex-Bundestagspräsident, im DLF. Wichtig sei, die muslimischen Gemeinschaften mit einzubinden, sowohl auf politischer Ebene als auch im täglichen Miteinander.

Bettina Klein im Gespräch mit Wolfgang Thierse |
    Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse bei der Veranstaltung zu 25 Jahren gesamtdeutscher SPD.
    Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse. (picture alliance/dpa - Ronny Hartmann)
    Bettina Klein: Der Islam und Deutschland, das passt irgendwie nicht zusammen, findet die AfD, finden zumindest einzelne Politiker dieser Partei, die dafür in den vergangenen Tagen fast aus allen Richtungen schwer kritisiert wurden, zumal sie die Religion gleichgesetzt haben mit den politischen Strömungen des Islam.
    Aber es ist eine Tatsache, dass zunehmend Menschen aus anderen Kultur- und Religionskreisen zu uns kommen, und es stellt sich die Frage, wie gut wir darauf vorbereitet sind in einem Land und einem Kontinent, die Wert legen auf die jüdisch-christlichen Wurzeln, wie Helmut Kohl noch mal in seinem jüngsten Text mehrfach betont.
    Haben wir ein Problem mit der Religionsvielfalt hierzulande? Wir können darüber jetzt sprechen mit Wolfgang Thierse, früherer SPD-Politiker, ehemaliger Bundestags- und Bundestags-Vizepräsident. Er ist zugleich bekennender und praktizierender Katholik. Guten Morgen, Herr Thierse.
    Wolfgang Thierse: Guten Morgen, Frau Klein.
    Klein: Ich zitiere mal den Politikwissenschaftler Ulrich Willems von der Uni Münster. Der fiel mir auf beim Forschungsverbund Religion und Politik. Er sagt: "Die deutsche Politik hat die Bevölkerung nicht rechtzeitig auf Religionsfreiheit vorbereitet und Debatten darüber vermieden." Ist das auch Ihr Eindruck?
    Thierse: Nein, das kann ich nicht sagen. Und wieso eigentlich der Vorwurf an die Politik? Das könnte man doch genauso sagen an die Öffentlichkeit, die Wissenschaft, die Medien etc. Nein, wir sind dabei, angesichts des Zustroms so vieler muslimischer Flüchtlinge, neu zu lernen und zu begreifen, dass unsere Gesellschaft noch einmal ethnisch-kulturell und auch religiös-weltanschaulich pluralistischer wird, und das ist eine Herausforderung, ja.
    Klein: Ich glaube, es ging auch darum, dass die Konflikte darüber vielleicht zu sehr den Gerichten überlassen wurden, die immer wieder mit diesen Fragen beschäftigt sind. Muslime fordern jetzt Zugang zu den gleichen öffentlichen Ressourcen wie auch die Kirchen und eine religionskritische Öffentlichkeit kritisiert religiöse Praktiken wie Kopftuch tragen oder Beschneidung. Da ist doch jede Menge Diskussionsbedarf auch in der Gesellschaft vorhanden.
    Thierse: Das ist vorhanden und ich erinnere mich, dass über Kopftücher, über Burka, über Kreuze in Schulen oder anderswo ja doch seit Jahren immer mal wieder heftig öffentlich debattiert wird, und solche öffentlichen Debatten können doch auch Lernprozesse sein.
    Klein: Aber die Kritik ist ja gerade, dass die Politik sich da nicht einschaltet, sondern man das dann jeweils vor die Gerichte bringt und wir uns eigentlich nicht ausreichend darüber verständigen, welche Rolle andere Religionen als die christliche in Deutschland ausüben sollen.
    Thierse: Ja, darüber verständigen wir uns ja doch, und ich finde, das müssen wir noch intensiver tun. Ich glaube, es beginnt damit, dass wir deutlicher unterscheiden. Inzwischen wird ja üblich nicht nur bei der AfD, sondern auch in sogenannten aufgeklärten Kreisen ganz undifferenziert über die Gefährlichkeit von Religion zu sprechen und nicht mehr zu unterscheiden zwischen den Frieden stiftenden Momenten in Religion und der Gefahr, die in der Ideologisierung von Religion liegt, in ihrer Verwendung, in ihrem Missbrauch zur Begründung von Gewalt. Solche Unterscheidungen sind wichtig.
    "Wir haben das Recht zu fragen, welcher Islam gehört zu Deutschland"
    Und wir müssen begreifen - das muss man auch denen sagen, die fordern, dass Religion gefälligst überhaupt aus der Öffentlichkeit zu verschwinden hat -, dass das erstens nicht mit dem Verfassungsgebot der Religionsfreiheit übereinstimmt, aber auch zweitens nicht in einem praktischen Sinne richtig ist, denn wenn Religion Teil des Problems sein soll, dann kann und muss sie auch und soll sie auch Teil der Lösung sein. Deswegen ist der öffentliche Umgang mit Religion, der faire, gleichberechtigte Umgang mit Religion eine Aufgabe, der wir uns stellen müssen.
    Klein: Bleiben wir noch mal bei dem Punkt, den Sie gerade angesprochen haben. Sie fordern zu differenzieren und benennen aber auch Gefährlichkeit bestimmter religiöser Strömungen. Hat die AfD da einen Punkt, wenn sie warnt vor politischen Strömungen des Islam, und sollte man das vielleicht nicht allein dieser Partei überlassen, darüber zu diskutieren?
    Thierse: Insofern sie das dem Islam vorwirft, ist das ein grober Fehler. Aber wir haben doch das Recht zu sagen und zu fragen, welcher Islam gehört zu Deutschland, der Islam, der sich auf unsere Bedingungen einlässt, auf die Unterscheidung von Religion und Politik, die Trennung von Kirche und Staat, auf Toleranz, die Anerkennung von Gleichberechtigung und von religiöser Freiheit.
    Das ist schon etwas, was wir an alle Religionen richten, und deswegen kann man schon sagen, dass fundamentalistische Interpretationen, Gewalt fördernde Interpretationen von Religion nicht in unser Land passen.
    Klein: Aber wie schafft man da die Abgrenzung und wie schafft man diese Differenzierung im Alltag?
    Thierse: Man muss darüber reden miteinander. Was einer privat denkt und fühlt und wovon er überzeugt ist, ist das eine. Das kann niemand verbieten. Aber wenn daraus öffentliche Stellungnahmen werden, wenn daraus Taten werden, etwa Begründung von Terrorismus, Begründung von Antisemitismus und Demokratiefeindschaft, dann müssen wir uns wehren in der Öffentlichkeit, in den Medien, im Bildungssystem, auch in Rechtsauseinandersetzungen.
    Klein: Es geht ja nicht unbedingt so weit, dass man Terrorismus legitimiert, sondern manchmal sind es einfach auch andere Wertvorstellungen, wenn wir zum Beispiel an die Stellung der Frau denken, an die Gleichberechtigung der Geschlechter, die bei uns in der Gesellschaft auf eine bestimmte Art und Weise definiert ist. Wie sollen in Alltagsfragen Menschen damit umgehen, wenn ihnen da ein ganz anderes Weltbild im Namen einer Religion vermittelt wird?
    Thierse: Die einzige mögliche Reaktion darauf ist, das Gespräch zu suchen, die Diskussion, möglicherweise auch den Streit, auch zu widersprechen, aber immer so, dass das dabei einigermaßen friedlich zugeht, denn ich glaube nicht, dass der Staat überall mit Verboten reagieren kann, eingreifen kann, zumal ja das BKA-Urteil des Verfassungsgerichts uns daran erinnert, dass die Privatsphäre, der Schutz der Privatsphäre ein hohes Gut ist und der Staat da nicht hineinregieren kann.
    "Kirchensteuer auch für Muslime?
    Aber Nachbarn können reden mit ihren Nachbarn, wenn sie etwa bei einer muslimisch-arabischen Familie beobachten, dass dort die Frau unterdrückt wird, im nachbarschaftlichen Gespräch das ansprechen und zu sagen, wir teilen das nicht, das ist nicht unsere Auffassung, das gefällt uns nicht. Das sollte doch erlaubt sein und eigentlich auch eine Pflicht von aufgeklärten Bürgern in diesem Lande.
    Klein: Viele sehen ja auch die islamischen Gemeinden selbst in der Verantwortung und der Verpflichtung, und in dem Zusammenhang kam jetzt gestern ein Vorschlag des CSU-Bundestagsabgeordneten Radwan, der sich ausspricht für so eine Art - und da sind wir bei der Frage nach der Gleichstellung - Kirchensteuer für die Muslime, dann vielleicht nicht eingetrieben vom Staat, sondern von den Gemeinden selber, aber mit dem Hintergrund, dass diese Zahlungen möglicherweise verhindern, dass Imame oder Gemeinden von außen bezahlt und möglicherweise auch gesteuert werden in eine Richtung, die dann vielleicht nicht mit den Grundwerten unserer Gesellschaft übereinstimmt. Was halten Sie davon?
    Die Kirchen sind Körperschaften öffentlichen Rechts
    Thierse: Das ist ja ein verständlicher Vorschlag. Allerdings muss man wissen, dass das Selbstverständnis der muslimischen Gemeinschaft ja nicht vergleichbar ist mit dem der Kirchen. Kirchen sind Körperschaften des öffentlichen Rechts. Damit können sie genau in dieser Eigenschaft Vertragspartner des Staates sein. Das ist ja ein Problem mit den muslimischen Gemeinschaften, dass das nicht in vergleichbarer Weise gelingt. Also müssen wir darüber debattieren, wie wir gewissermaßen im Sinne eines Religionsverfassungsrechts vergleichbare Verhältnisse zwischen den unterschiedlichen Religionsgemeinschaften und dem Staat erreichen.
    Es gibt ja Versuche in Sachen Religionsunterricht, islamische Theologie, solche Verträge zu erreichen. Der Staat schafft sich gewissermaßen seinen Partner auf islamischer Seite selber. Aber das ist durchaus in der islamischen Gemeinschaft heftig umstritten, ob das geht, weil der Islam ein ganz anderes Selbstverständnis hat. Er versteht sich nicht in dem gleichen Sinne als Kirche, als Kirchen, wie das evangelische und katholische Christen tun.
    Klein: Und da sind wir dann auch bei dem deutschen Modell der Kooperation von Staat und Kirche, und ich zitiere noch mal den vorhin angesprochenen Münsteraner Forscher, der zumindest eine Debatte darüber fordert, ob das Modell dieser verhältnismäßig engen Kooperation von Staat und Kirche sich heutzutage noch eignet, religiösen Mehrheiten und Minderheiten gleichermaßen Religionsfreiheit zu gewähren, wenn wir uns vorstellen, das ist ja nur ein Beispiel, dass der Staat zum Beispiel die Kirchensteuer einzieht.
    Radikale Trennung von Kirche und Staat wie in Frankreich kein Vorbild
    Thierse: Ja, aber das ist ein schönes Beispiel. Daran verdient der Staat. Das ist ja ein Verhältnis des gegenseitigen Nutzens. Wenn so was vorgeschlagen wird und man sollte über solche Vorschläge diskutieren, muss man immer auch bedenken, welche Alternativen gibt es. Das laizistische Modell in Frankreich, also eine radikale Trennung von Kirche und Staat, ist ja nicht etwa erfolgreicher, wenn man an islamische Parallelgesellschaften in Frankreich denkt. Deutschland ist ganz gut gefahren mit dieser, wie man es gelegentlich genannt hat, kooperativen Trennung von Kirche und Staat.
    Der Staat ist neutral, weltanschaulich neutral. Er favorisiert keine Weltanschauung und ermöglicht damit die Religions- und Weltanschauungsfreiheit seiner Bürger und er lädt sie ausdrücklich ein, am Gemeinwesen mitzuarbeiten aus ihren unterschiedlichen Überzeugungen heraus, und ich glaube, das ist ein gutes Modell, an dem wir im Prinzip festhalten sollten. Man muss reden über die Umwandlung von dieser bisherigen Staats-Kirchen-Rechtsbeziehung in ein Religions-Verfassungsrecht, das stärker als bisher auch anderen Religionsgemeinschaften verwandte Rechte einräumt. Das ist ein Prozess, der im Gange ist. Die muslimische Gemeinschaft nimmt zu. Sie verfasst sich jetzt auch erst neu. Aber das ist ein ziemlich mühseliger Prozess, wie man beobachten kann.
    Klein: Danach wollte ich Sie gerade noch mal fragen. Da geht es Ihnen dann aber mehr darum, dass man anderen Religionsgemeinschaften eine ähnlich starke Rolle einräumt wie den christlichen Kirchen, oder sollte man im Grunde genommen darüber nachdenken, bestimmte Sonderrollen, die für die Kirchen gelten, zurückzufahren?
    Thierse: Ich weiß nicht, von welchen Sonderrollen Sie reden.
    Klein: Die Kirchensteuer ist ein Beispiel, aber auch Vertretung in Gremien. Da sind die Kirchen ja andersgestellt als andere Religionsgruppen in Deutschland. Das meinte ich.
    Thierse: Ja. Aber zunächst einmal: Dass die Kirchen, die Christen in solchen Gremien vertreten sind, liegt doch daran, dass sie 60 Prozent oder zwei Drittel der Bevölkerung ausmachen. Das ist ja fassbar. Andere, die da vertreten sind, da weiß man nie genau, wie viel sie vertreten. Dass die Religionsgemeinschaften, die ja in der Bevölkerung verankert sind - schließlich ist Deutschland ein Land christlicher Tradition -, dass sie auch eine öffentlich wahrnehmbare Rolle spielen, halte ich für vernünftig und entspricht auch dem Grundprinzip der Religionsfreiheit. Das sollte man vernünftigerweise nicht ändern. Wenn andere Religionsgemeinschaften hinzukommen und eine gewisse Stärke und Verfasstheit erringen, sollte man ihnen die gleiche Chance geben zu öffentlicher Wirksamkeit.
    Klein: Und das dann auch in der Verfassung verankern?
    Thierse: Das braucht man nicht in der Verfassung verankern. Da ist das Prinzip der Religionsfreiheit ja festgehalten. Man muss es durch die Regelung der Rechtsbeziehungen verankern, und da sind wir wieder bei dem Punkt, dass die muslimische Gemeinschaft sich nicht in gleicher Weise bisher als Körperschaft öffentlichen Rechts organisieren kann. Man wird sehen, ob diese Entwicklung in die Richtung geht. Man sollte das fördern, finde ich.
    Deutschland ist inzwischen sehr tolerant geworden
    Klein: Abschließender Gedanke, Herr Thierse. Es ist ja schon historisch in Deutschland, dass die Religion stärker an den Boden gekoppelt ist als in anderen Regionen der Welt. Schon vom Wohnort lässt sich hier sagen, wer ist wie, katholisch geprägt, evangelisch, auch wenn vielleicht gar keine Kirchenmitgliedschaft mehr da ist. Führt das möglicherweise auch im Ergebnis dazu, dass man weniger offen ist für andere Religionen, die hier herkommen?
    Thierse: Ach, ich finde, dass dieses Land inzwischen sehr tolerant ist, viel gelernt hat. Es gibt wenig religiös-weltanschauliche Borniertheit. Es gibt natürlich auch religiösen Fundamentalismus, so wie es areligiösen atheistischen Fundamentalismus gibt. Da, glaube ich, haben die Deutschen in ihrer Mehrheit gelernt, dass wir in einem pluralistischen Land leben. Nach allen Umfragen, die ich kenne, sagen die Menschen, man sollte gegenüber Religionen offen sein. Man sollte auch darauf achten, dass alle friedlich miteinander umgehen. Das gilt, glaube ich, für die meisten Deutschen.
    Klein: Da sind Sie durchaus optimistisch, was die Zukunft jetzt angeht und weitere Zuwanderung, die wir bekommen aus anderen Religionen?
    Thierse: Wir müssen nur begreifen, dass der verschärfende oder zunehmende Pluralismus keine Idylle ist, sondern dass er voller sozialem und auch kulturellem Konfliktpotenzial steckt, und darauf müssen wir uns einstellen.
    Klein: Wolfgang Thierse, früherer SPD-Politiker und früherer Bundestagspräsident, zur Frage des Umgangs mit Religionen heute Morgen hier im Deutschlandfunk. Danke Ihnen für das Gespräch, Herr Thierse.
    Thierse: Auf Wiederhören! Danke!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.