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Wolfgang Thierse
''Kein Bedürfnis nach einer Präsidialdemokratie"

Anlässlich des Wechsels im Schloss Bellevue hat der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) betont, der Bundespräsident brauche nicht mehr als die Macht des Wortes. Das Bedürfnis, ihn direkt zu wählen, sei verständlich, aber falsch, sagte Thierse im DLF. "Dann hätten wir eine andere Demokratie."

Wolfgang Thierse im Gespräch mit Mario Dobovisek |
    Wolfgang Thierse bei einer Rede
    Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) sprach im Januar auf einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung in München. (dpa / Andreas Gebert)
    Mario Dobovisek: "Über sieben Brücken musst du gehen" hat das Musikkorps der Bundeswehr für ihn gespielt, das hatte sich Joachim Gauck gewünscht. War er in seiner Amtszeit ein Brückenbauer?
    Wolfgang Thierse: Ich glaube, schon. Nicht nur der Umstand, dass nach mir und Angela Merkel er der dritte Ostdeutsche war in einem der großen hohen Verfassungsämter, sondern er hat das so auch schon verstanden, die DDR-Geschichte, die Geschichte des 20. Jahrhunderts zusammenzubringen, West und Ost. Und ich glaube, das ist ihm gelungen, bei aller Entschiedenheit seiner Äußerungen. Und dass nicht alle seine Äußerungen von allen Zustimmung erfahren, das spricht ja eher für das, was er gesagt hat.
    "Ich fand die meisten seiner Reden sehr gut, sehr einsichtig"
    Dobovisek: Womit waren Sie denn nicht einverstanden?
    Thierse: Ich war nicht … Ich fand die meisten seiner Reden sehr gut, sehr einsichtig. Natürlich ist man als ganz normaler Mensch und Politiker gelegentlich auch der Meinung, dieser Akzent hätte etwas stärker oder jener … Also, als Sozialdemokrat interessiert mich immer das Thema, wie man Gerechtigkeit und Freiheit zusammen denkt. Denn das ist ja die Schlüsselerfahrung des 20. Jahrhunderts: Wo Freiheit verloren geht um der Gerechtigkeit willen, geht es schief, und wo man Gerechtigkeit nicht ernst nimmt, dann ist auch die Freiheit bedroht.
    Dobovisek: Gauck hat eine große Leidenschaft, Sie sprechen es an, die sich wie ein roter Faden durch seine Amtszeit zog, die Leidenschaft für Demokratie und Freiheit. Mit Blick auf die Populisten im Land scheint seine Botschaft wichtiger denn je zu sein, und dennoch kommt sie irgendwie nicht mehr so richtig an. Warum nicht?
    Thierse: Ja, das liegt gewiss nicht an dem Bundespräsidenten, nicht an dem bisherigen und, ich hoffe, auch nicht am zukünftigen, sondern da hat sich schon die Stimmung verändert, die Ängste vor den negativen Wirkungen der Globalisierung, die Verunsicherung hinsichtlich der materiellen, der kulturellen Zukunft. Es ist ja ein eigentümlicher Widerspruch in diesem Lande: Den meisten Menschen geht es nach der eigenen Auskunft gut. Ich habe gerade eine Umfrage gelesen, dass das Glücksgefühl der Deutschen wieder gewachsen ist. Aber trotzdem gibt es ein beunruhigendes Gefühl der Unsicherheit, die Zukunft betreffen. Also, die Zukunftsungewissheit verführt Menschen dazu, ihrer Sehnsucht nach den einfachen, schnellen, klaren Antworten nachzugehen, und das ist die Stunde der Rechtspopulisten.
    "Unsere liberale recht- und sozialstaatliche Demokratie ist ist gefährdet"
    Dobovisek: Nehmen wir Demokratie und Freiheit inzwischen für zu selbstverständlich?
    Thierse: Genau so ist es. Wir müssen doch sehen, wenn wir ringsum gucken: Unsere liberale recht- und sozialstaatliche Demokratie ist nicht die Regel, sondern die Ausnahme, sie ist gefährdet nicht nur in anderen Kontinenten. Wenn Sie an das Regime von Putin oder Erdogan denken, wenn Sie nach China schauen, und selbst die USA von Trump, all das, sieht man: Das, was wir für uns selbstverständlich halten, eine offene, liberale Gesellschaft, Demokratie, die die Chance bietet, dass möglichst viele ihre Interessen und Meinungen artikulieren können, das ist alles andere als selbstverständlich. Und deswegen ist sie so kostbar und verteidigenswert.
    Dobovisek: Muss sich ein Bundespräsident stärker einmischen, gerade wenn Demokratie und Freiheit in Gefahr sind?
    Thierse: Er soll der erste Wortführer sein bei der Verteidigung von Demokratie, den Bürgern ins Gewissen reden, was das ist, Verantwortung. Ich wünsche mir auch immer klare Worte gegen die populistische Sehnsucht nach dem starken Mann und nach den einfachen, schnellen, klaren Antworten. Aber er soll nicht an die Stelle der Bundesregierung treten.
    "Ich habe kein Bedürfnis nach einer Präsidialdemokratie à la USA"
    Dobovisek: Braucht der Bundespräsident gerade in Zeiten wie diesen mehr als die Macht des Wortes?
    Thierse: Nein, braucht er nicht. Wenn er mehr als die Macht des Wortes hätte, würde sein Wort auch nicht mehr so zählen. Das Bedürfnis danach, den Bundespräsidenten direkt zu wählen, ist vielleicht ein verständliches Bedürfnis, aber es ist trotzdem falsch. Wir sollten ihm nicht nachgeben, denn dann hätten wir eine andere Demokratie. Dann müssten wir das Gefüge zwischen Bundestag und Bundesregierung und Bundespräsident und Verfassungsgericht ändern. Ich habe kein Bedürfnis nach einer Präsidialdemokratie à la USA.
    Dobovisek: Aber wäre eine solche Präsidialdemokratie wie in den USA, oder wie Erdogan es in der Türkei anstrebt, automatisch undemokratischer?
    Thierse: Es ist jedenfalls offensichtlich gefährdeter. Denn wenn eine solche Machtkonzentration auf eine Person vorliegt, dann ist das immer etwas, was gefährdet ist für Missbrauch. Also, unser ausgewogenes Verhältnis zwischen den verschiedenen Mächten der Exekutive, der Legislative, der Figur der Repräsentanz, dem Verfassungsgericht, der Presse … Ich glaube, die Bundesrepublik Deutschland ist sehr gut gefahren damit in den vergangenen sieben Jahrzehnten.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.