Ginge es nur nach Sympathie in der Politik, dann hätte Annalena Baerbock von den Grünen gerade beste Chancen, Bundeskanzlerin zu werden. Sympathisch finden sie laut Deutschlandtrend 44 Prozent. Der CDU-Kandidat Armin Laschet bekommt 17 Prozent und Olaf Scholz von der SPD 18 Prozent. Letzterer soll am morgigen Sonntag (09.05.21), im Rahmen des digitalen Parteitags, ganz offiziell zum Kanzlerkandidaten der SPD gemacht werden – als einziger Kandidat eine Formalität.
Scholz’ Parteikollege Wolfgang Thierse verteidigte im Deutschlandfunk das Vorgehen der SPD, schon früh mit nur einem Kandidaten an die Öffentlichkeit gegangen zu sein. Die Kandidatenfindung der Grünen bezeichnete der ehemalige Bundestagspräsident hingegen als "klassisches Hinterzimmer". "Zwei haben es untereinander ausgemacht, und diese ehemals so diskutierfreudige Partei hat zugeschaut und genickt und genickt und genickt", so Thierse. Auch die Variante von CDU/CSU betrachtet Thierse nicht als Alternative – "ein quälender personeller Streit, der nicht enden wollte, der alle geärgert hat."
Olaf Scholz sei ein erfahrener Politiker und Vizekanzler, der auch schon Wahlen gewonnen habe, betonte Thierse. "Dann muss man nicht künstlich einen Gegenkandidaten fabrizieren."
Mit Blick auf ein allmähliches Ende der Pandemie interessierten sich die Wähler nach und nach wieder deutlich mehr für ein breites Themenspektrum – von gegenseitigem Respekt in einer pluralistischen Gesellschaft über die Reform des Sozialstaats bis hin zur digitalen Transformation. Die Umfragewerte würden sich somit zugunsten von Scholz als seriösen und verantwortungsvollen Politiker entwickeln, prognostizierte Thierse.
Parteiinterne Diskussion über Identitätspolitik ist passé
Ein Essay über Identitätspolitik hatte dem früheren Bundestagspräsidenten vor einigen Wochen den zumindest indirekten Vorwurf seiner Parteichefin Saskia Esken eingehandelt, Thierse sei rückwärtsgewandt. Mittlerweile aber ist die Sache beigelegt, bekräftigte Thierse. "Es geht gar nicht um eine persönliche Frage, es geht noch nicht mal um eine innerparteiliche Frage, sondern (...) um eine Frage nach der Zukunft der gesellschaftlichen Debatten, der Verständigungsmöglichkeiten in einer pluralistischen und diversen Gesellschaft."
Linkspartei muss sich verändern
Mit welchem Partner die SPD eine Regierungsbeteiligung anstrebt, sei noch offen, allerdings, so Scholz: "Von der Linkspartei wird noch eine erhebliche Veränderung erwartet werden müssen, wenn sie in die Bundesregierung will. Da bin ich sehr gespannt, wie sie sich in den nächsten Monaten noch äußern und verändern wird."
Das Interview im Wortlaut:
Stephanie Rohde: Braucht die SPD diesen Parteitag, um ihren ungeliebten Kandidaten beliebter erscheinen zu lassen?
Wolfgang Thierse: Wieso ist der Kandidat unbeliebt?
Rohde: Na ja, in der Basis ist er nicht beliebt, er wurde als Parteivorsitzender nicht gewählt.
Thierse: Entschuldigen Sie, das ist eine andere Frage gewesen vor zwei Jahren. Da gab es eine Auseinandersetzung um die Parteiführung, die war bestimmt vom Unmut, vom Überdruss über die Große Koalition. Das hat die Entscheidung in der Partei bestimmt. Jetzt geht es um einen Wahlkampf, jetzt geht es um einen Kanzlerkandidaten. Und soweit ich sehe, ist die Partei sehr geschlossen hinter Olaf Scholz. Der Parteivorstand hat ihn nominiert, ihn vorgeschlagen und jetzt wird das formell bestätigt auf dem Parteitag, wie sich das gehört bei innerparteilicher Demokratie. Also dieser Einwand, so scheint mir, stimmt nicht.
Grünen-Kandidatenfindung war "klassisches Hinterzimmer"
Rohde: Die Mehrheit wollte Scholz ja nicht als Parteivorsitzenden, das haben Sie eben auch gerade gesagt, jetzt kürt man ihn als Kanzlerkandidaten, er hatte keine Gegenkandidaten, und die frühe Nominierung wurde auch kaum in der Partei diskutiert, wird jetzt abgenickt. Wie glücklich sind Sie über diesen kompletten Ablauf der Kandidatenkür?
Thierse: Entschuldigung, sollten wir es lieber so machen wie die Grünen? Ich höre immer das Wort vom Hinterzimmer, das war klassisches Hinterzimmer, zwei haben es untereinander ausgemacht, und diese ehemals so diskutierfreudige Partei hat zugeschaut und genickt und genickt und genickt. Sollten wir es so machen wie die CDU/CSU, ein quälender personeller Streit, der nicht enden wollte, der alle geärgert hat. Nein, da fand ich schon, dass die SPD aus ihren Erfahrungen von vor vier Jahren oder vor acht Jahren die richtige Konsequenz gezogen hat. Im Übrigen, zur Stimmung, daran erinnert sich die SPD auch, 2017 gab es ein Umfragehoch für Martin Schulz, die Enttäuschung war umso riesiger. Die kritische Analyse unseres Wahlkampfes von vor vier Jahren hieß, rechtzeitig den Kandidaten nominieren, geschlossen hinter ihm stehen und ein Parteiprogramm formulieren, das sein Parteiprogramm ist.
Rohde: Also kann man sagen, Sie sind glücklich über diesen Ablauf, zu sagen, es gibt keinen Gegenkandidaten, sondern sehr früh einen Kandidaten – und dabei bleiben wir?
Thierse: Wenn man sich einigt darauf, dass wir einen guten Mann haben, eine gute Person, Vizekanzler, einen erfahrenen Politiker, einen, der schon Wahlen gewonnen hat, dann muss man nicht künstlich einen Gegenkandidaten fabrizieren. Dass das nicht immer gut gelingt, sieht man auch an anderen Parteien und wissen wir aus der eigenen Geschichte.
Scholz' großes Thema: Gesellschaftlicher Zusammenhalt
Rohde: Mit welchem Wumms soll Olaf Scholz jetzt eigentlich noch aufholen, wenn man sieht, dass die SPD weder mit Regierungspolitik noch mit einem frühen Wahlprogramm punkten konnte – geschweige denn von der Maskenaffäre in der Union profitiert?
Thierse: Im Vorbericht wurde auf Umfragen verwiesen. Ich habe mir sie gestern sehr genau angesehen, da sind zwei Dinge auffällig. Erstens haben CDU/CSU, Grüne und SPD haben ein ungefähr gleiches Wählerpotenzial, 50 Prozent, 49 Prozent. Zweitens: Im direkten Vergleich mit den beiden anderen Kanzlerkandidaten gewinnt immer Olaf Scholz – ausweislich dieser Umfragen. Er schneidet besser ab als Laschet, er schneidet besser ab als Baerbock. Also, Olaf Scholz ist das Pfund, mit dem wir wuchern müssen, und natürlich geht es um die Themen. Wie kann man Klimagerechtigkeit, ökologische Transformation und Gerechtigkeitspolitik, die sozialen Fragen miteinander verbinden? Und das große Thema, das Olaf Scholz formuliert hat, wie erreichen angesichts der dramatischen Veränderungen, in denen wir uns befinden und die wir zu bewältigen haben, wie erreichen wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt, eine Gesellschaft des Respekts, das ist, glaube ich, das große Thema, das in den nächsten Wochen vorangebracht werden muss.
Rohde: Man muss aber auch sagen, Herr Thierse, in den Umfragen liegt die SPD ja gerade so bei 14 bis 16 Prozent. Das heißt ja, dass die Regierungspolitik, also die Vorhaben, die Sie auch wirklich umgesetzt haben, offensichtlich nicht so viele Menschen begeistern.
Thierse: Ja, gegenwärtig sind wir in der schwierigen Lage, dass wir in der Konfrontation zwischen Grünen und CDU/CSU, die in den letzten Wochen die Medien, die Informationslandschaft bestimmt hat, dazwischen kaum vorkommen. Jetzt beginnt der Wahlkampf, und ich glaube, damit rechnen ja auch alle, nicht nur die Sozialdemokraten, dass in dem Moment, wo die Coronapandemie einigermaßen bewältigt ist, sich die Stimmungslage insgesamt verändern wird, und die Bürger wieder über ihren Ärger hinwegschauen und sagen, was sind denn die ernsthaften Probleme der Zukunft, mit denen wir es zu tun haben. Und dann glaube ich, ist ein Mann wie Olaf Scholz, der ja bewiesen hat, dass er ein seriöser Politiker ist, dass er verantwortlicher Politiker ist, dass er Leistung vorweisen kann, da hat er eine viel größere Chance, als es gegenwärtig aussieht.
"Das Wahlkampfprogramm hat Scholz wesentlich mitgeschrieben"
Rohde: Wie groß ist denn die Gefahr, dass Programm und Kandidat nicht zusammenpassen? Das war ja beim Kandidaten Peer Steinbrück damals auch so, der musste Positionen vertreten, die man ihm nicht wirklich abgenommen hat. Aktuell gibt es ja dieses Beispiel mit dem Mietendeckel. Nehmen Sie das Olaf Scholz ab, dass der für den Mietendeckel ist?
Thierse: Das ist inzwischen eine sich verselbständigende Legende, dass Kandidaten und Programm nicht zusammenpassen. Dieses Wahlkampfprogramm der SPD hat ganz wesentlich Olaf Scholz mitgeschrieben. Es ist sein Programm. Und da soll man nicht immer etwas anderes sagen, Saskia Esken und Norbert-Walter Borjans haben sich ausdrücklich zurückgenommen, sie wissen, dass nur eine geschlossene SPD, eine SPD, die sich hinter ihrem Kanzlerkandidaten versammelt, eine Chance hat. Und so verhalten sie sich. Und das Programm ist genau so gestrickt, es ist der Versuch, das zusammenzubringen: die Bewältigung der ökologischen Transformation und die sozialen Fragen und wirtschaftliche Vernunft. Das ist genau das, was Olaf Scholz ausmacht.
Rohde: Und kann das jemand machen, der für die Agenda 2010 steht? Herr Thierse, Sie haben ja damals auch Kanzler Schröder den Rücken gestärkt, Olaf Scholz kämpfte als Generalsekretär für die Agenda-Politik, wenn Scholz jetzt auch auf Druck der Basis ein bisschen abweicht von dieser Agenda 2010. Ist das glaubwürdig?
Thierse: Entschuldigen Sie, man muss nicht 20 Jahre immerfort dasselbe meinen, das ist politische Dummheit. Die Agenda 2010 war vor 20 Jahren eine notwendige Maßnahme angesichts der katastrophalen Verschuldung des Sozialstaats und angesichts gestiegener und nur noch verwalteter Arbeitslosigkeit, aber man muss nicht an jeder einzelnen Maßnahmen festhalten. 20 Jahre später sind wir in einer anderen Situation, und eine Partei, die sich nicht korrigieren kann, die nicht auf neue Fragen neue Antworten gibt, sondern an Altem festhält, eine solche Partei ist dumm. Deswegen ist es ganz gut, dass wir gesagt haben, wir brauchen eine Reform des Sozialstaats neuerlicher Art, wir müssen diesen Sozialstaat einstellen auf die digitale Transformation, das sind ganz andere Herausforderungen – und denen stellt sich die Sozialdemokratie. Man sollte sie nicht immer bei dem verhaften, was vor 20, 25 Jahren der Fall gewesen ist. Das gilt übrigens auch für alle anderen Parteien, denn CDU/CSU und Grüne haben damals durchaus zugestimmt, es war nicht nur eine Leistung der Sozialdemokratie.
Linkspartei müsse sich verändern, wenn sie in die Regierung will
Rohde: Die SPD schlägt jetzt ja linkere Töne an in dem Wahlprogramm. Olaf Scholz schweigt aber trotzdem zu einem möglichen Bündnis mit den Linken – anders als die Grünen, die sich zumindest ansatzweise positionieren. Herr Thierse, auch mit Ihrer Perspektive aus dem Osten, sollte die SPD mit der Linken koalieren oder vergrault sie potentiell da zu viele Wählerinnen und Wähler?
Thierse: Ich habe gerade Herrn Habeck gehört in den Nachrichten, der etwas sehr Vernünftiges gesagt hat, was ich auch in den vergangenen 30 Jahren gelernt habe. Es macht keinen Sinn, vor der Wahl etwas auszuschließen, sondern wir sollen den Wählern sagen, das ist unsere Position, das ist unser Programm, wir wünsche das und das. Und wenn wir stärkste Partei werden, werden wir das und das tun und wir versuchen, einen vernünftigen Partner zu finden. Von der Linkspartei wird noch eine erhebliche Veränderung erwartet werden müssen, wenn sie in die Bundesregierung will. Da bin ich sehr gespannt, wie die Linkspartei sich in den nächsten Monaten noch äußern und verändern wird.
Rohde: Aber heißt das, Olaf Scholz müsste eine klarere Ansage machen zur Linken?
Thierse: Nein, er sagt etwas ganz Vernünftiges: Wir wollen stärker werden, wenn es irgend geht stärkste Partei werden, um die Bundespolitik in Deutschland zu bestimmen, mit welchem anderen Partner zusammen, das wird man sehen. Und wenn Sie genau hinhören, werden Sie auch sehen, wo die größeren Sympathien der Sozialdemokratie für mögliche Partner sind.
Rohde: Herr Thierse, Sie haben von der Geschlossenheit in der Partei gesprochen, das war ja vor wenigen Wochen noch etwas anders, da hatte die Parteichefin Saskia Esken Ihnen zumindest indirekt vorgeworfen, rückwärtsgewandt zu sein, nachdem Sie einen Essay geschrieben haben über Identitätspolitik. Sie haben daraufhin Ihren Parteiaustritt angeboten. Wenn die Partei jetzt auch an diesem Wochenende Geschlossenheit signalisiert, heißt das, dass dann die Unzufriedenen schweigen?
Thierse: Was für Unzufriedene?
"Esken und Kühnert haben sich bei mir entschuldigt"
Rohde: Diejenigen, die mit Saskia Esken zum Beispiel nicht übereinstimmen, möglicherweise Sie?
Thierse: Aber es geht doch nicht um Saskia Esken, es geht auch nicht um mich, es geht um die Wahlkampfchancen der SPD und Olaf Scholz. Und Olaf Scholz hat eine ganz eindeutige Position. Er hat einen noch viel größeren Essay in der "FAZ" veröffentlicht über die Gesellschaft des Respekts, das unterstütze ich sehr. Und an dieser Frage, die übrigens keine parteipolitische ist, sondern eine Frage nach dem zukünftigen Verständigungsmöglichkeiten in einer pluralistischen, diversen Gesellschaft, dieses Thema muss die ganze Gesellschaft, übrigens auch Journalisten, sehr interessieren, wie wir miteinander umgehen, ob wir immer schärfer und aggressiver gegeneinander argumentieren oder ob wir eine viel größere Leidenschaft entwickeln für das Gemeinschaftliche, das Gemeinsame, das Verbindende einer pluralistischen Gesellschaft.
Rohde: Ist die Debattenkultur unter der Parteichefin Saskia Esken der SPD würdig?
Thierse: Wenn ich es richtig sehe, ist bei der Ausarbeitung des Programms, des Wahlkampfprogramms sehr ordentlich und vernünftig gestritten worden, wie sich das für eine Volkspartei gehört. Da ging es nicht sehr giftig zu, sondern da wurde entschieden debattiert, es wurden Reformvorschläge entwickelt, daran haben sich sehr, sehr viele beteiligt, gerade auch die Basis – ich kann da nichts kritisieren.
Rohde: Und auch nach der Identitätspolitikdebatte würden Sie sagen, das ist in Ordnung, wie das gelaufen ist?
Thierse: Saskia Esken und Kevin Kühnert haben sich bei mir entschuldigt, auch bei Gesine Schwan, damit ist die Sache beigelegt. Es gar nicht um eine persönliche Frage, es geht noch nicht mal um eine innerparteiliche Frage, sondern ich sage es noch einmal, eine Frage nach der Zukunft der gesellschaftlichen Debatten, der Verständigungsmöglichkeiten in einer pluralistischen und diversen Gesellschaft.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.