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Wolfgang Thierse (SPD)
"Rechtsextremisten keinen Zipfel der Macht überlassen"

Die Gesellschaft sei polarisiert und zersplittert, sagte Wolfgang Thierse (SPD), ehemaliger Bundestagspräsident, im Dlf. Es sei die Stunde der Extremen. Er warnte deshalb ausdrücklich vor einer Zusammenarbeit mit der AfD und bezeichnete die Wahl in Thüringen durch die "Höcke-AfD" als Sündenfall.

Wolfgang Thierse im Gespräch mit Christiane Florin |
Wolfgang Thierse bei einer Rede
Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) wendet sich gegen Rechtsextremismus und die AfD (dpa / Andreas Gebert)
Der frühere Bundestagspräsident und SPD-Politiker Wolfgang Thierse warnt im Interview der Woche vor einer parlamentarischen Zusammenarbeit mit der AfD. "Wir haben doch aus dem Ende der Weimarer Republik, der ersten Demokratie in Deutschland gelernt, dass wir den Feinden der Demokratie, den Rechtsextremisten, den Nationalsozialisten keinen Zipfel der Macht überlassen dürfen", sagte er. Er wolle zwar die aktuelle Situation nicht gleichsetzen mit der von 1932, es gebe mehr Demokraten als damals, aber dass in Thüringen CDU und FDP "ausgerechnet der Höcke-AfD, der rechtesten AfD in Deutschland", einen Zipfel der Macht übergeben haben, sei der Sündenfall. "Das war der Dammbruch. Das hätte nicht sein dürfen", so Thierse.
Im Interview der Woche spricht der Thierse, der auch Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) ist, auch über die Notwendigkeit von bürgerschaftlichem Engagement und über die Situation der katholischen Kirche nach dem vielfach kritisiertem Schreiben "Geliebtes Amazonien" von Papst Franzikus.

Christiane Florin: Herrn Thierse, wie konnte es dazu kommen, dass rechtsextrem motivierte, tödliche Gewalt alltäglich geworden ist in Deutschland?
Wolfgang Thierse: Die Antwort darauf ist nicht so ganz leicht. Zunächst einmal sind wir bestürzt und erschrocken und sehen, dass da sich etwas fortsetzt, was wir schon seit ein paar Jahren wahrnehmen. Unsere Gesellschaft ist polarisiert, zersplittert. Wir erleben auf der einen Seite vielfältiges demokratisches Engagement, gelebten Gemeinsinn. Junge Leute gehen auf die Straße für ihre und unsere Zukunft. Und auf der anderen Seite: eine verschlechterte Stimmung, eine zunehmende Aggressivität, der Streit wird härter, die Ängste nehmen zu, die Aggressivität nimmt zu. Und dann erleben wir solche entsetzlichen Explosionen. Wir erleben das angesichts von vielen Konflikten, in denen wir uns befinden, auch die Sehnsucht nach den einfachen, klaren, heftigen Antworten nach dem, der den gordischen Knoten durchschlägt. Das ist die Stunde der Populisten, das ist die Stunde der Extremen. Wir erleben sie nicht nur in Deutschland, sondern ringsum.
"Der Staat hat seine Pflicht zu tun"
Florin: Menschen, die von rechtsextremen Ideologen als Feinde definiert werden - Juden, Muslime vor allem -, haben Angst in Deutschland. Das können Sie in den sozialen Netzwerken verfolgen nach Anschlägen, aber auch sonst. Wie wollen Sie diese Menschen schützen?
Thierse: Der Staat hat seine Pflicht zu tun. Also das, was in Halle passiert ist, dass die Polizei dort offensichtlich nicht wirklich tätig geworden ist und das nach so vielen Anschlägen in den letzten Monaten und Jahren, das ist bestürzend. Also, der Staat hat seine Pflicht zu tun, den Schutz zu vermitteln, die Justiz hat ihre Pflicht zu tun, die Politik auch in der Art und Weise, wie sie öffentlich über diese Themen, diese Aggressivität spricht. Aber auch die Medien haben ihre Aufgaben, so sachlich, so informativ, so nüchtern wie nur irgend möglich darüber zu reden. Und sich nicht noch an der Aufheizung der Stimmung zu beteiligen, an der Mobilisierung, der Forcierung von Ängsten. Das ist dann im Übrigen auch Sache der Bürger, sozusagen sich zu wehren gegen Vorurteile, gegen schnelle Urteile. Die Zivilität unserer Gesellschaft, der Anstand, der in unserer Gesellschaft herrscht, ist Sache der Bürger insgesamt. Das darf man nicht abschieben auf die da oben, die Polizei, die Justiz, die Politiker.
In München haben Menschen bei einer Gedenkveranstaltung mit Kerzen das Wort "Hanau" gebildet
Nach Anschlag in Hanau: Trauer und Wut prägen das Gedenken
In Deutschland gedenken Menschen der Opfer des rechtsterroristischen Anschlags von Hanau. Extremismusforscher Matthias Quent forderte im Dlf eine gesellschaftliche Debatte über Rassismus. Ziel solcher Täter sei es, die Spaltung in der Gesellschaft zu vertiefen.
Florin: Der Präsent des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, sagte am Donnerstag zu Hanau: "Es ist überfällig, dass alle demokratischen Kräfte zusammenstehen, um die Bedrohung durch den Rechtsextremismus und weiterhin auch durch islamistischen Terror einzudämmen." Alle demokratischen Kräfte sollen zusammenstehen in Zeiten der Polarisierung - haben Sie eine Idee, wie das gehen könnte außer durch Appelle?
Thierse: Ja, indem man die Appelle ernst nimmt und indem man begreift: Das Zusammenleben in einer pluralistischen Gesellschaft ist keine Idylle. Diese pluralistische Gesellschaft, und wir werden auch in Deutschland noch pluralistischer werden, und zwar ethnisch, kulturell, religiös, weltanschaulich, sozial, das ist keine Idylle. Das ist voller Konflikte. Und wir müssen uns gemeinsam darum bemühen, um das Fundament, das uns zusammenhält. Denn je pluralistischer, je vielfältiger wir sind, umso wichtiger ist das ethische und kulturelle Fundament von Gemeinsamkeit. Daran zu arbeiten, das ist Sache der kulturellen Kräfte einer Gesellschaft, der Bürger, der Kirchen, der Weltanschauungsgemeinschaften, des Bildungswesens. Das ist eine große Herausforderung und das in einem Land, das demokratisch ist. Demokratie heißt Streit, allerdings friedlicher Streit nach Regeln der Fairness. Das ist der Punkt: Das wieder neu zu lernen, miteinander zu streiten, aber so, dass Fairness, Friedfertigkeit, Respekt vor dem anderen immer auch sichtbar bleibt.
Florin: Aber das war jetzt auch ein Appell.
Thierse: Ja, wir reden jetzt miteinander und ich habe ja darüber gesprochen, dass die Art, wie wir Politiker reden, wie wir uns wechselseitig kritisieren, Meinungsunterschiede austragen, dass das durchaus auch stilbildend in einer Gesellschaft ist. Es ist schon zu beklagen, dass die Atmosphäre im Bundestag, in den Parlamenten sich verändert hat durch den Einzug der AfD, die verbale Aggressivität zugenommen hat. Dasselbe spielt sich ja noch auf eine viel schlimmere Weise im Netz ab, in diesem Räumen der Artikulation von Vorurteilen und der Radikalisierung. Das ist eine große Herausforderung und das verlangt einfach nach Demokratiearbeit im umfassendsten Sinne des Wortes.
"Moment der wirklichen Gefährdung unserer Demokratie"
Florin: Die AfD streitet natürlich einen Zusammenhang ab zwischen verbaler Enthemmung und solchen Taten ab. Inwiefern besteht für Sie ein Zusammenhang?
Thierse: Man muss genauer hinschauen. Die AfD ist gewiss auch eine Partei, in der sich Unzufriedenheit versammelt hinsichtlich ökonomisch-sozialer Problemlagen in unserer Gesellschaft, die es ja gibt. Sie ist auch eine Partei, die ein konservatives Gesicht hat, die von Menschen gewählt wird, die geängstigt sind durch die Dramatik gleichzeitiger Veränderung von der Globalisierung über die Digitalisierung bis hin zur ökologischen Herausforderung und so weiter. Aber sie ist eben auch ganz wesentlich - man muss nur an Höcke und viele andere denken - eine völkisch-nationalistische Partei, eine Partei, die radikal diese Demokratie verändern will bis zu ihrer Unkenntlichkeit. Und das ist wirklich neu, dass sie so stark geworden ist in unserem Lande. Wir hatten schon NPD und Republikaner und wer weiß was alles, aber das ist neu. Und das ist sozusagen ein Moment der wirklichen Gefährdung unserer Demokratie.
Florin: Und indem Sie das benennen, glauben Sie, das verändern zu können?
Thierse: Nein, aber man muss damit beginnen. Und dann sage ich ausdrücklich: Ob das gelingt, die AfD zurückzudrängen, die gesellschaftliche Atmosphäre zu verändern, das ist Sache der Bürger. Meine Erfahrung ist, dass das Gespräch zwischen den Politikern auf der einen Seite und den wütenden, aggressiven verzweifelten, verärgerten Bürgern zunehmend schwierig ist, weil es eine Art von Vorwurfsdistanz gibt, die so schwer zu überwinden ist, die sagt: "Ihr seid schuld an all dem, was mich ärgert, worauf ich wütend bin." Und deswegen sage ich jetzt: Dieses Gespräch, was ich für notwendig halte, um Wut und Aggressivität abzubauen, das ist eine Sache der Bürger von Nachbar zu Nachbar, von Kollege zu Kollege, von Gemeindemitglied zu Gemeindemitglied, von Verwandten zu Verwandten, so konkret darüber zu reden wie möglich: Was ist dein Anlass, deine Wut, warum ärgerst du dich, warum sagst du so etwas, was ist das für ein Vorurteil, warum deine Wut gegen Ausländer? So konkret wie nur irgend möglich das zu besprechen. Diese Gesprächsatmosphäre wieder zu erringen, gegen die Massivität von Hass und Vorurteil, das ist die extreme Herausforderung, mit der wir es zu tun haben.
Florin: Ich habe vorhin nach der Angst der Juden, nach der Angst der Muslime gefragt, nach der Angst der Menschen, die zur Zielscheibe rechtsextremer Gewalt geworden sind. Jetzt haben wir gerade gesprochen über die Angst der, ich sage einmal, besorgten Bürger. Seit Jahren schon wird sich um deren Ängste doch recht intensiv gekümmert bis hin zu der Floskel, man müsse die Sorgen und Ängste dieser Menschen ernst nehmen. Warum spielen die Ängste von Juden, von Muslimen eine viel geringere Rolle?
Thierse: Das glaube ich nicht. Wir nehmen ja die Sorgen von Juden und Muslimen ernst. Wir müssen sie auch deshalb ernst nehmen, weil sie auch Betroffene von Aggressivität und von Gewalt und von Mordtaten sind. Sie haben mich gefragt: Was können wir tun, was sind die Ursachen dafür? Diese Solidarität mit den Betroffenen, mit den Opfern von Gewalt und von Hass ist der erste Schritt. Der zweite Schritt ist, danach zu fragen: Wie entstehen dieser Hass und diese Gewalt? Was sind das für Vorurteile? Wie können wir die Ursachen dafür bekämpfen? Wie können wir natürlich auch die Akteure, die Hassprediger bekämpfen, die ja ganz unterschiedlicher Art sind, Rechtsextreme, völkische Nationalisten, Rassisten, muslimische Fundamentalisten etc., etc.?
Florin: Eine klassische Reaktion auf Terror von rechts ist: "Ja, aber die linke Szene, die ist doch auch gewaltbereit." Was entgegnen Sie da?
Thierse: Ja, es gibt auch Gewalt von links außen, aber die größere Herausforderung, alle Zahlen belegen das, ist: Wir haben jetzt eine rechtsextremistische Gefahr, wir haben jetzt auch eine fundamentalistische Gefahr von rechts, auch von islamistischer Art. Das ist die momentane Herausforderung, das soll andere Gefahren nicht kleinreden.
Demonstrationen "sind Zeichen der wechselseitigen Ermutigung"
Florin: Sie gehen auch auf die Straße gegen Rechtsextremismus, immer wieder. Was bewirkt das Demonstrieren?
Thierse: Also, zunächst einmal ist es ein Zeichen, dass wir unsere Straßen und Plätze und unsere Öffentlichkeit nicht denen überlassen, die Hass und Gewalt säen. Es ist ein ganz wichtiges Zeichen, das auch Bürger senden können. Deswegen sind demokratische Demonstrationen, Demonstrationen auch von Menschen, die sich an die Seite der Opfer stellen, Solidaritätsbekundungen wichtig. Sie sind das Zeichen der wechselseitigen Ermunterung und Ermutigung. Wir sind mehr als ihr. Wir sind auch entschlossen, diese Demokratie und den Anstand in unserer Gesellschaft zu verteidigen. Das bleibt notwendig und ist sinnvoll, auch wenn man die Wirkung natürlich nicht abzählen kann.
Florin: Wenn Sie sich Traktate von Attentätern durchlesen, wie dem von Halle und auch von Hanau, dann stoßen Sie auf Verschwörungstheorien. Der Gedanke, dass Politik und Medien von geheimen Mächten gesteuert werden, der ist ganz weit verbreitet, laut der Mitte-Studie keineswegs nur im extremen Spektrum, sondern bei fast der Hälfte der Befragten. Die meinen also, Politik und Medien stecken unter einer Decke. Warum finden solche Gedanken so viel Zuspruch?
Thierse: Erstens sagt diese Beobachtung, wie viel wir an Demokratieaufklärung betreiben müssen, immer wieder neu erklären, was das eigentlich ist, die Demokratie, die politische Lebensform unserer Freiheit. Die davon lebt, dass Bürger sich in ihr engagieren, sich ihrer Institutionen, ihrer Regeln bedienen, um Interessen und Meinungen zu artikulieren und mit anderen gemeinsam um Lösungen zu streiten. Verschwörungstheorien sind, wenn ich sie richtig verstehe - und ich will damit ja kein Verständnis in dem unangenehmen Sinne vermitteln -, extreme Formen von Vereinfachungen in komplexen Situationen, wo Menschen verunsichert sind, bedroht sind, ökonomische Abstiegsängste haben oder soziale Überforderungsgefühle, so etwas wie kulturelle Entheimatungsbefürchtung. Also Unsicherheiten durch die dramatischen Veränderungen, die gegenwärtig stattfinden. Da entsteht der heftige Wunsch nach einfachen Antworten, nach einfachen Lösungen, auch nach einfachen Schuldzuweisungen. Die werden bedient durch Verschwörungstheorien, die werden bedient durch die politischen Populisten.
"Es gibt inzwischen die bequemen Schuldzuweisungen"
Florin: Sie sind einige Jahrzehnte schon Politiker. Sehen Sie Anlass zur Selbstkritik, wenn Sie lesen, in vielen verschiedenen Studien kann man das ja lesen, dass die Bürgerinnen und Bürger der Politik nicht mehr vertrauen, dass sie ihr aber alles zutrauen, eben auch sich von geheimen Mächten irgendwie steuern zu lassen?
Thierse: Man muss als Politiker sich immer wieder fast zerknirscht fragen: Welches Bild bieten wir? Ist das eigentlich gerechtfertigt durch das eigene Handeln und Tun und Sagen? Man muss sich nicht alle Kritik und nicht alle Vorwürfe gefallen lassen. Es gibt auch inzwischen die bequemen Schuldzuweisungen: Die Politiker, die da oben sind schuld. Das ist nur ein Teil dieses Vereinfachungsbedürfnisses. Aber natürlich müssen wir uns fragen, die politische Klasse, und dazu gehören Journalisten natürlich immer dazu, ist die Art und Weise, wie wir öffentlich reden, wie wir Konflikte austragen, geeignet, Vorurteile zu bestätigen und Aggressivitäten zu forcieren. Andererseits: Demokratische Politik, Demokratie ist ihrem inneren Wesen nach langsam. Nur ihre Langsamkeit ermöglicht, dass möglichst viele sich an ihren Entscheidungs- und Meinungsbildungsprozessen beteiligen können, wenn sie es denn wollen. Diese Langsamkeit erzeugt immerfort Unzufriedenheit und Ungeduld und diese Ungeduld wird durch die eiligen Medien, Fernsehen oder Internet, natürlich noch einmal forciert. Dagegen anzuarbeiten und einladend und erklärend die eigenen Vorschläge, über die man streitet, darzubieten, das scheint mir eine wirkliche Aufgabe für Politik und ihre Sprache.
Florin: Jetzt haben Sie von "wir" gesprochen. Was fällt Ihnen ganz konkret ein, ein Vorfall, ein Zitat, eine Äußerung, von der Sie sagen, da habe ich falsch reagiert, etwa im Umgang mit der AfD?
Thierse: Ich habe das schon erlebt, dass Bürger mich attackieren, eine ganze Kaskade von Vorwürfen auf mich schütten und ich dann selber sozusagen heftig reagiere. Zu lernen, auf Heftigkeit und auf Wut nicht selber mit Heftigkeit und Wut zu reagieren, das ist ziemlich anstrengend, gerade wenn man doch der Überzeugung ist, dass man ganz gute Argumente hat für das, was man vorträgt oder was man für richtig hält. Das ist eine große Herausforderung. Das soll nicht heißen, dass alle Politiker nun sänfteln müssten, aber doch immer wieder diese mühselige Anstrengung unternehmen, zur Versachlichung von Debatten und von Gesprächen und von Streit beizutragen.
"Als Parlamentspräsident hat man die Form zu wahren"
Florin: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk mit dem SPD-Politiker Wolfgang Thierse, dem früheren Präsidenten des Deutschen Bundestages. Herr Thierse, als der FDP-Politiker Thomas Kemmerich zum neuen Thüringischen Ministerpräsidenten gewählt worden war, da ging die Fraktionschefin der Linken nach vorne und warf ihm den Blumenstrauß vor die Füße. Sie kennen sich mit dem parlamentarischen Protokoll bestens aus. Nehmen wir einmal an, Sie wären Landtagspräsident gewesen, hätten Sie dem Neuen gratuliert?
Thierse: Als Parlamentspräsident hat man die Form zu wahren und sozusagen da nicht sofort eine politische, gar parteipolitische Bewertung vorzunehmen. Also hätte man das Wahlergebnis verkündet und die Frage, gestellt: Nehmen Sie die Wahl an? Herr Kemmerich hätte sie nicht annehmen dürfen als guter Demokrat, aber er hat sie angenommen. Und dann kommt natürlich sofort die Frage, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Wahl und dann die Frage nach der Vereidigung. Noch da hätte Herr Kemmerich sagen können, nein, jetzt nicht, ich bitte um eine Bedenkzeit.
Gerhart Baum, Bundesminister a. D. 
Früherer Bundesinnenminister Baum (FDP): "Ein Hauch von Weimar liegt über der Republik"
Thomas Kemmerich habe sich die AfD zum Steigbügelhalter gemacht – er müsse sein Amt als Ministerpräsident Thüringens räumen, forderte der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) im Dlf. Die AfD sei eine nichtdemokratische Partei. Dass sie mitten aus dem Bürgertum Unterstützung erfahre, mache ihm Angst.
Florin: Sie haben von einem "Sündenfall" in Thüringen gesprochen in einem Interview. Worin besteht die Sünde?
Thierse: Wir haben doch aus dem Ende der Weimarer Republik, der ersten Demokratie in Deutschland, gelernt, dass wir den Feinden der Demokratie, den Rechtsextremisten, den Nationalsozialisten keinen Zipfel der Macht überlassen dürfen. Nun will ich unsere Situation wahrlich nicht gleichsetzen mit der von '32. Wir sind in einer anderen Situation, weil wir viel mehr Demokraten sind, weil wir viel wacher sind. Aber dass da CDU und FDP der AfD, ausgerechnet der Höcke-AfD, der rechtesten AfD in Deutschland, einen Zipfel der Macht übergeben haben, das war der Sündenfall, das war der Dammbruch. Das hätte nicht sein dürfen.
Florin: Nun gibt es auch die Bewertung, sie war vielfach zu lesen: "So ist eben die Demokratie, gewählt ist gewählt." Was kontern Sie da?
Thierse: Das ist eine der verbreiteten Missverständnisse von Demokratie. Eine Partei, die demokratisch gewählt ist, muss noch lange nicht demokratisch sein. Das wissen wir aus unserer Geschichte. Die Nazipartei ist in Weimar auch gewählt worden, erstens. Zweitens, mit einer auch demokratisch gewählten Partei muss man noch lange nicht koalieren, muss man nicht gemeinsame Politik betreiben. Sondern mit der kann man streiten und muss man streiten, gerade wenn man nicht derselben Meinung ist wie sie. Also, zu erklären, dass gewählt sein nicht heißt, demokratisch sein, dass gewählt sein nicht heißt, Sie müssen alles mitstimmen, sondern gewählt sein heißt: Man darf am demokratischen und man soll am demokratischen Streit teilnehmen. Das ja, aber nicht mehr.
Thüringen "eine Sünde wider dem Geist der Demokratie"
Florin: Haben Sie schon einmal erlebt, dass Sie mit einem Wort wie "Sündenfall", andere haben von "Tabubruch" in Thüringen gesprochen, jemanden umgestimmt haben?
Thierse: Na ja, man muss erst mal bezeichnen mit klaren Worten, was da passiert ist. Da darf man nichts beschönigen oder verharmlosen oder nett sein, weil man vielleicht jemanden erschreckt oder Widerspruch herausruft. Aber dann muss man das erklären, was mit dem Wort Sündenfall gemeint ist. Ich habe es gerade versucht: Es ist eine Sünde wider dem Geist der Demokratie, jemanden an die Macht mit zu verhelfen oder dessen Hilfe in Anspruch zu nehmen für ein demokratisches Amt. Man muss das dann erläutern. Fanatische Anhänger oder entschlossene Anhänger, völkische Nationalisten in der AfD werden das immer für entsetzlich halten. Aber ich sage noch einmal: Das Entscheidende ist, gerade auch in Thüringen, gerade auch im Osten Deutschlands, immer wieder zu erklären, was eigentlich Demokratie ist.
Florin: Sie haben eine Erklärung unterzeichnet, im November vergangenen Jahres war das, zum 30. Jahrestag der friedlichen Revolution. Da haben Sie davor gewarnt, die friedliche Revolution politisch zu instrumentalisieren. Es ging vor allem um den AfD-Slogan "Vollende die Wende". Warum war dieser Slogan so erfolgreich?
Thierse: Ja, das hat mit Unsicherheiten und Unzufriedenheiten in Ostdeutschland zu tun. Da trifft die neue Dramatik, die wir mit den Stichworten Globalisierung, digitale Transformation, Flüchtlingsbewegung, ökologische Herausforderung, Terrorismus und Gewalt in der Welt bezeichnen, diese neue Veränderungsdramatik trifft auf Menschen, die in den vergangenen 30 Jahren so viel dramatische Veränderungen zu bestehen hatten, mehr oder minder erfolgreich. Ich kann verstehen, dass sich Menschen wehren gegen diese neueren Veränderungen und deswegen denen nachlaufen, die ihnen versprechen, wwir schließen die Grenzen wieder. Es gibt keine ökologische Katastrophe, ihr müsst keine Angst haben etc. Die sozusagen die einfachen Antworten versprechen und Veränderungen verharmlosen oder Schutz davor versprechen. Das ist der Hintergrund, warum vieles in Ostdeutschland, obwohl die AfD und der Rechtsextremismus, wie man gerade auch an Hanau gesehen hat, kein ostdeutsches Problem ist, aber warum dort manche Menschen empfänglicher sind für Botschaften von Vereinfachung und auch von Radikalität.
Florin: Wenn Bundestagswahl wäre, dann würden, ich nehme jetzt einmal Infratest dimap, 16 Prozent die SPD wählen, Ihre Partei. Das ist weniger, als die SPD am Ende der Weimarer Republik hatte. Macht Ihnen eine solche Zahl Angst?
Thierse: Ja, die besorgt mich sehr, weil ich ja immer noch der tiefen Überzeugung bin, eine gut funktionierende Demokratie bedarf auch einer starken Sozialdemokratie, einer Partei, die die existenzielle Erfahrung des 20. Jahrhunderts verkörpert, nämlich die Erfahrung, dass Freiheit und Gerechtigkeit untrennbar zusammengehören. Wo sie getrennt werden, endet man entweder im Faschismus oder im stalinistischen Kommunismus.
"Solidarität war einmal das ideele Fundament der Sozialdemokratie"
Florin: Aber es sind nicht mehr so viele, die das genauso sehen, dass man die SPD unbedingt braucht.
Thierse: Ja, deswegen haben doch Sozialdemokraten und gerade auch ihre führenden Personen daran kräftig und kräftig zu arbeiten, an neuer Überzeugungskraft. Auch darüber zu reden, warum wir gerade in so einer zersplitterten pluralistischen Gesellschaft des Grundwerts gelebter Solidarität bedürfen. Solidarität war einmal das emotionale und ideelle Fundament der Sozialdemokratie und der Arbeiterbewegung. Das muss es auch bleiben und wieder werden in einer Gesellschaft oder einer Wirtschaft der Start-Ups.
Florin: In einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung ist unter anderem herausgekommen, dass Parteien nur noch bei sehr wenigen Befragten Vertrauen genießen. Es geht ja der CDU auch nicht sehr viel besser als der SPD. Da war die Frage nach Parteien insgesamt. Welchen Parteien vertrauen Sie?
Thierse: Zunächst einmal fange ich an: Wenn wir über unsere Gesellschaft reden angesichts der Gewalttaten, dann gehört auch dazu, zur Verteidigung der Demokratie, die Verachtung von Parteien, die Verachtung von demokratischen Politikern wieder zu überwinden. Diese Verachtung ist ubiquitär geworden. Sie wird auch medial ständig gestärkt, vom Untergang, vom Niedergang geredet und das ist dann wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Nein, ich vertraue schon in meine eigene Partei, aber dieses Vertrauen ist doch nicht ein passives Vertrauen. Sondern wie sich das in der Demokratie gehört, Vertrauen verbunden mit Engagement, mit Einsatz dafür, dass diese Partei oder wenn man einer anderen zugehört, so und so agiert, so und so tätig wird, diese und diese Vorschläge macht, so und so viel an Überzeugungskraft gewinnt.
Florin: Also Medien haben laut dieser Studie kaum mehr Vertrauen als Parteien: Aber ich will noch einmal nach den anderen Parteien fragen. Vertrauen Sie der CDU? Vertrauen Sie der FDP?
Thierse: Ich halte sie für unbedingt wichtige demokratische Parteien, die auf unterschiedliche Weise verwandte Schwierigkeiten haben wie die SPD. Wenn die Grünen wieder länger in einer Regierung sind, werden sie ähnliche Schwierigkeiten auch wieder erleben.
Florin: In dieser Studie der Ebert-Stiftung tauchen überhaupt nicht unter den vertrauenswürdigen oder eben nicht-vertrauenswürdigen Institutionen die Kirchen auf. Ich möchte Sie aber in den letzten Minuten des Gesprächs noch nach der Situation der katholischen Kirche fragen. Das ist sozusagen das andere Krisengebiet, in dem Sie unterwegs sind. Wie halten Sie eigentlich die Spannung aus, politisch für die Demokratie zu streiten und einer Kirche anzugehören, die keine Demokratie ist?
Thierse: Ich lebe in einer Gesellschaft mit einer Demokratie, in der es viele Teile gibt, die nicht demokratisch strukturiert sind. Die Wissenschaft nicht, das Theater nicht, die Medien selber nicht und so weiter. Unsere demokratische Gesellschaft verträgt auch Teile oder, um mich etwas abstrakter auszudrücken, Subsysteme, die nicht in vergleichbarer Weise demokratisch strukturiert sind. Trotzdem bin ich sehr für eine synodale katholische Kirche, ohne der Überzeugung zu sein, dass das alle Probleme löst, die große Institutionen in dieser Gesellschaft haben.
"Wir sollten diese Fixierung auf den Papst überwinden"
Florin: Die katholische Kirche in Deutschland, Sie haben das Stichwort erwähnt, will den synodalen Weg gehen, ein Reformprozess, auch um Glaubwürdigkeit wieder herzustellen, wie das Zentralkomitee der Katholiken immer wieder betont. Kann man Glaubwürdigkeit wiederherstellen, indem man bekundet, Glaubwürdigkeit wieder herstellen zu wollen?
Thierse: Nein, indem man eine Praxis ändert. Wenn man jetzt einen synodalen Weg geht, dann ist für mich nicht die Erwartung, dass man am Ende wer weiß welche Ergebnisse erzielt hat und dann auch Zustimmung aus Rom kommt, sondern dass wir in der Art und Weise, wie wir da umgehen im Geist, in dem da miteinander gestritten wird, in der Qualität der Argumente diese Kirche verändern. Etwas anders gesagt: Ich bin katholisch genug, um bis an mein Lebensende Respekt vor dem Papst zu haben. Aber wir sollten diese Fixierung auf den Papst überwinden und mehr auf den Glaubenssinn der katholischen Kirche, des wandelnden Volks Gottes vertrauen und nicht so sehr auf den Glaubenssinn des Vatikans. Wenn ich dieses letzte Schreiben des Papstes, was ja ein bisschen enttäuschend ist, richtig sehe, habe ich den Eindruck, dass dieser Papst die Kirche anders führen will, indem er die Erwartungen der Gläubigen und ihre Fixierung auf ihn selber, auf den Papst, immerfort enttäuscht.
Papst Franziskus zum Zölibat: Es bleibt alles beim Alten
Papst Franziskus will vorerst nichts am Pflichtzölibat ändern. In seinem mit Spannung erwarteten Schreiben zur sogenannten Amazonas-Synode spart er das Thema aus. Offenbar hält Franziskus die Zeit noch nicht für reif – und fürchtet zu starke Zentrifugalkräfte, so die Einschätzung von Andreas Main.
Florin: Wer lebt länger: die deutsche Demokratie oder die katholische Monarchie?
Thierse: Das weiß ich nicht. Die katholische Kirche ist über 2.000 Jahre alt. Sie hat viel überstanden, sie hat sich auch viel geändert, in ihrem Grundbestand vielleicht nicht, weil ihr eigentliches Zentrum ja doch die Botschaft des Evangeliums ist und das muss es bleiben. Ohne eine Tradition, ohne eine Institution kann man auch eine Botschaft nicht weitertragen. Ich bin dafür, dass die katholische Kirche bleibt. Wir brauchen sie noch lange, wir brauchen sie vielleicht für immer, so wie wir die Demokratie als politische Lebensform der Freiheit brauchen.
Florin: Das heißt, Sie trauen der Demokratie auch noch ein langes Leben zu?
Thierse: Ja, ja, die Demokratie ist wandlungsfähig, aber ihr Grundmuster, die Beteiligung, die Chance zur Beteiligung möglichst vieler, das ist bleibend richtig. An die Stelle der Macht von Fürsten und von Königen sozusagen die Volkssouveränität zu setzen, das war ein epochaler Vorgang, den wir nicht zurückdrehen wollen. Und für die Kirche gilt, dass die Botschaft des Evangeliums, die Botschaft der Nächstenliebe, der gleichen Würde aller Menschen unüberbietbar richtig bleibt.
Florin: Herr Thierse, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch.
Thierse: Herzlichen Dank meinerseits.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.