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Wolfgang Thierse zum Tode von Schabowski
"Er hat sich moralisch an seiner Rolle abgearbeitet"

Günter Schabowski habe zu den wenigen in der DDR gehört, die sich mit ihrer SED-Karriere kritisch auseinandergesetzt haben, sagte der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD), im DLF. Schabowski habe nach der Wiedervereinigung das DDR-Regime nicht beschönigt und nicht gelogen.

Wolfgang Thierse im Gespräch mit Tobias Armbrüster |
    Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse
    Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (dpa / picture-alliance / Ronny Hartmann)
    Thierse zog einen Vergleich zu Egon Krenz, dem letzten SED-Staatsratsvorsitzenden: Krenz' Haltung sei gewesen: "Ein bisschen Kritik ja, aber er hat insgesamt die DDR und das kommunistische System verteidigt und beschönigt". Schabowski hingegen habe nach der Wiedervereinigung nicht wie andere Nostalgievereine begründet, sondern die Öffentlichkeit gemieden und versucht, ein ganz normales Leben zu führen. "Seine ehemaligen SED-Kollegen haben ihn gehasst und verachtet. Das muss ihm auch wehgetan haben. Schließlich hat er auch dazu gehört", sagte Thierse.
    Schabowski ahnte nichts vom Mauerfall
    Auf die Frage, ob Schabowski wusste, was die Folge seiner Rede sein würde - die Öffnung der innerdeutschen Mauer - sagte Thierse: "Es kann sein, aber ich glaube nicht, dass er wusste, was da passiert. Dass es um Reisefreiheit geht, das lag in der Luft. Die SED wollte den Deckel öffnen, aber dass er dann wegflog, das ahnte Schabowski nicht. Das hat er auch in seinen eigenen Worten gesagt", so Thierse.
    Günter Schabwoski ist am 1. November im Alter von 86 Jahren gestorben.

    Das Interview in voller Länge:
    Tobias Armbrüster: Er war der Mann, der aus Versehen die Berliner Mauer öffnete. So ist er in die Geschichtsbücher eingegangen: Günter Schabowski, der ehemalige SED-Spitzenfunktionär. Gestern ist er im Alter von 86 Jahren gestorben. Seinen bekanntesten Auftritt vor der Presse hatte er am Abend des 9. November '89, als er vor laufenden Kameras erklärte, dass DDR-Bürger künftig ganz ohne allzu große Formalitäten in den Westen reisen dürften:
    "Das tritt, nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich."
    Armbrüster: Und nach diesen gestammelten Worten war die deutsche Teilung nur wenige Stunden später Geschichte. Schabowski war einer der wenigen Funktionäre der DDR, die nach 1989 Reue gezeigt haben. In mehreren Interviews hat er sich kritisch mit seiner eigenen Rolle in der DDR auseinandergesetzt. Was also bleibt von diesem Mann? - Am Telefon ist jetzt Wolfgang Thierse, ehemaliger Bürgerrechtler in der DDR, nach der Wiedervereinigung SPD-Abgeordneter und unter anderem Bundestagspräsident. Schönen guten Morgen, Herr Thierse.
    Wolfgang Thierse: Guten Morgen!
    Armbrüster: Herr Thierse, Günter Schabowski - was ist Ihnen durch den Kopf gegangen, als Sie gestern von seinem Tot gehört haben?
    Thierse: Natürlich erinnert man sich sofort an den 9. November und bis heute ist ja nicht ganz klar, wie viel Versehen, wie viel Absicht bei seiner Äußerung war. Wir haben das damals ja auch im Fernsehen gesehen und meine Frau und ich schauten uns an und wollten nicht recht glauben und haben nicht wirklich verstanden, was er sagte, weil man ja als DDR-Bürger, als kritischer DDR-Bürger voller Misstrauen war gegenüber jeden Äußerungen von SED-Oberen. Aber dann erinnere ich mich auch daran, dass Günter Schabowski zu den ganz, ganz wenigen SED-Funktionären, SED-Oberen gehörte, die selbstkritisch auf die DDR geblickt haben, auch auf ihre eigene Rolle, die ernsthaft moralisch sich abgearbeitet haben an der DDR und ihrem Unrecht. Ich hatte 1991 ein öffentliches Gespräch mit ihm, das in der damaligen Wochenzeitung "Wochenpost" abgedruckt wurde, das erste Gespräch zwischen einem neuen Politiker und einem alten Politiker, und da hat mich Günter Schabowski durchaus beeindruckt, weil er voller Selbstzweifel war und sich wirklich kritisch abgearbeitet hat an seiner eigenen Rolle innerhalb der SED und innerhalb der DDR.
    "Nicht zu lügen, nicht zu beschönigen - das hat mir Respekt eingeflößt"
    Armbrüster: Was für eine Person, was für ein Mensch war er Ihrer Meinung nach?
    Thierse: Als SED-Funktionär war er nicht anders als die anderen. Er war etwas sprachmächtiger, wenn ich mich richtig erinnere. Schließlich war er Journalist. Aber er war genauso autoritär und herrisch und polternd wie viele andere auch. Er hat ja dann noch mal den Versuch gemacht - das gehört ja auch zum Jahr 1989 -, an einer Reform der SED mitzuarbeiten. Er gehörte der neugewählten SED-Führung wieder an Ende Oktober, Anfang November. Das Paulus-Erlebnis, wenn man das sozusagen religionsgeschichtlich nennen will, das passierte dann wirklich im November/Dezember, als auch ihm öffentlich sichtbar wurde, was er ja vorher wissen musste: das moralische Desaster des SED-Regimes, der politische und wirtschaftliche Zusammenbruch dieses Systems. Und die Art, wie er dann versucht hat, über die Jahre hin sich auch dem Prozess zu stellen, nicht zu lügen, nicht alles von sich wegzuweisen, nicht zu beschönigen und zu beschweigen, wie das die meisten, die allermeisten anderen SED-Oberen machen, gemacht haben, das hat mir dann schon Respekt eingeflößt vor ihm.
    Armbrüster: War das dann so ein Fall, wie man sich ihn eigentlich immer mal wieder wünscht in der internationalen Politik: ein reumütiger, wenn man das so sagen kann, Diktator?
    Thierse: Das ist ein etwas starkes Wort, aber natürlich gehört das dazu zu den Wünschen, die man hat, dass die SED-Herrschaften auch kritisch auf das blicken, was sie angerichtet haben. Aber nehmen Sie als Vergleichsgröße Egon Krenz, der bis zum Schluss, ja im Grunde bis heute ein bisschen Kritik ja, soll sein, dass da Fehler gemacht worden sind, aber der insgesamt die DDR, das kommunistische System und das Unterdrückungsregime doch beschönigt und darin verteidigt. Das ist das Übliche. Das galt ja auch im Grunde für die Nachfolgepartei der SED, die zwar auch öffentlich Kritik geübt haben, aber sie sollte dann doch nicht zu scharf und zu moralisch sein. Erinnern Sie sich an den Streit über den Begriff Unrechtsstaat ja oder nein.
    "Er hat sich nicht in die Öffentlichkeit gedrängt"
    Armbrüster: Ja. - Wenn nun Günter Schabowski tatsächlich so ein Mann war, der diese moralische Größe gezeigt hat in den 90er-Jahren, hätte er dann nicht eigentlich eine größere Rolle spielen müssen in der deutschen Politik nach '89?
    Thierse: Ja, aber das ist ja nicht so leicht. Er hat ja - und das finde ich auch ganz anständig - versucht, nachdem er sich dem Prozess gestellt hatte, verurteilt wurde, hat er ja wie ein ganz normaler Mensch versucht, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er hat für Betriebszeitungen gearbeitet, geschrieben. Auch das gehört zu dem, was Respekt verlangt, während andere sich auf ihre, in einem Rechtsstaat ja dann vorhandenen Pensionen stützen konnten, während andere Vereinigungen gegründet haben, Nostalgievereinigungen, Beschönigungsvereinigungen, was es da alles gibt, für die NVA-, die Stasi-Leute, SED-Leute. Da hat er sich deutlich unterschieden. Und es gehört dazu, zu dem Sympathischen, dass er sich nicht in die Öffentlichkeit gedrängt hat, sich nicht gewissermaßen aufgespielt hat. Das finde ich auch ganz in Ordnung so.
    Armbrüster: Aber er hat sich ja durchaus auch noch gezofft, kann man wahrscheinlich sagen, mit beispielsweise seinen Nachfolgern bei der SED beziehungsweise bei der PdS.
    Thierse: Ja. Seine ehemaligen Kollegen von der SED-Führung, viele Funktionäre haben ihn gehasst und verachtet und beschimpft und verspottet. Das muss ihm schon auch weh getan haben. Schließlich hat er mal dazugehört.
    "Ich glaube nicht, dass er wusste, was da wirklich passiert"
    Armbrüster: Um noch mal zurückzukommen auf diesen einen entscheidenden Satz in dieser Pressekonferenz. Sie haben das geschildert, wie Sie es gemeinsam damals mit Ihrer Frau gesehen haben. Was ist denn Ihre Schlussfolgerung? Wusste Günter Schabowski in dem Augenblick, was er da tut? War dieses Gestammel so ein bisschen Schauspielerei?
    Thierse: Das kann sein. Aber ich glaube nicht, dass er wie die SED-Führung insgesamt wusste, was da wirklich passiert. Denn dass es um Reiseerleichterungen ging, das lag in der Luft. Das war eine der wichtigsten, heftigsten, emotionalsten Forderungen der DDR-Bürger. Dass man da nachgibt, das war denen klar, wir kommen daran nicht vorbei. Aber dass das sozusagen die Öffnung des Tores war, wo dann auf schnellstem Wege die Mauer überwunden wurde und die Deutsche Einheit möglich wurde, ich kann mir nicht vorstellen, dass ihm das wirklich klar war. Sie wollten in diesem Moment eine Druckerleichterung erzeugen, ein bisschen den Deckel öffnen. Und dass er dann wegflog explosionsartig, ich glaube nicht, dass die SED-Führung das wusste, und auch nicht, dass Schabowski das so genau ahnte. Er hat es später im Grunde auch in seinen eigenen Worten gesagt. Dass es dann alles so schnell ging und das System zusammenbrach, das hatten die nicht geahnt. Sie wollten für dieses System noch eine Chance haben.
    Armbrüster: Wie man es nun dreht und wendet, er hat diese entscheidende Rolle gespielt. Deshalb diese Frage zum Schluss, Herr Thierse: Sollte man nach Günter Schabowski eine Straße in Deutschland benennen?
    Thierse: Ach, wir wollen nicht übertreiben. Wir sollten uns erinnern an einen Mann, der ein widersprüchliches Leben geführt hat, lange zur SED-Führung gehörte, zur Unterdrückungs-Nomenklatura, und dann etwas sehr Wichtiges begriffen hat und seine eigene Rolle nicht beschönigt hat, sondern selbstkritisch öffentlich damit umgegangen ist. Wenn wir so uns seiner erinnern, dann ist das seinem Leben angemessen.
    Armbrüster: Wir sprachen mit Wolfgang Thierse, Bürgerrechtler in der DDR und SPD-Politiker, und wir sprachen mit ihm über Günter Schabowski, der gestern im Alter von 86 Jahren gestorben ist. Vielen Dank, Herr Thierse, für das Interview.
    Thierse: Auf Wiederhören!
    Armbrüster: Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.