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Wolfskinder
Ein Leben ohne Herkunft und Identität

Als nach dem Zweiten Weltkrieg ein Teil Ostpreußens der Sowjetunion zugeschlagen wurde, begann für tausende Kinder ein Überlebenskampf - die sogenannten Wolfskinder, die sich ohne ihre Eltern durchschlagen mussten und meist ins Baltikum flohen. Elli Hartwig war eins von ihnen. Im Deutschlandfunk erzählt sie ihre Geschichte.

Von Thielko Grieß |
    Elli Hartwig mit Dokumenten in der Hand.
    Elli Hartwig mit den wenigen Briefen und Fotos, die sie von ihrer Familie hat. (Spiegel Online / Christina Hebel )
    In einer Plastiktüte hütet Elli Hartwig ihre wenigen Erinnerungen an ihre Kindheit. Einige Fotos, einige Briefe, die sie herausnimmt. Mehr gibt es nicht mehr. "Mein Vater, meine Mutter, hier sind wir alle zusammen."
    Geboren wurde Elli Hartwig 1935 als siebtes und letztes Kind eines Schmieds im Dorf Sophienberg, im Kreis Gerdauen. Gerdauen heißt heute auf Russisch Schelesnodoroschny, Sophienberg gibt es nicht mehr. Sie ging drei Jahre lang zur Schule - es blieben die einzigen Schuljahre. "Wir waren arm."
    Suppe gegen Feldarbeit
    Elli Hartwig zeigt ihre Fotografien, setzt sich auf ihr Sofa, spricht mühevoll. Ihrem Deutsch, dem der ferne Klang des Ostpreußischen anzuhören ist, fehlt die Übung - und was sie erzählt, ist eine Kette von Nackenschlägen.
    Als die Rote Armee Anfang 1945 Ostpreußen erobert, ist der Vater längst tot, und die Mutter will mit den Kindern fliehen, kommt aber nicht weit. Zwei Jahre lang leben sie in einem sowjetischen Lager, wo es Suppe gegen Feldarbeit gibt.
    Ein Kreuz und ein Foto der Mutter von Elli Hartwig.
    Ein Kreuz und ein Foto der Mutter von Elli Hartwig. (Spiegel Online / Christina Hebel )
    "Ich habe von den Bäumen gegessen. Blätter!"
    Aber ihre älteren Schwestern werden verschleppt. "Ruth war auch in Russland, Erika war in Russland. Sie suchten immer junge Mädchen, wie sie reingekommen sind." Elli Hartwig selbst ist zehn Jahre alt und zu jung.
    Um sie herum sterben Nachbarn und Bekannte. In einer Nacht gelingt der Rest-Familie die Flucht aus dem Lager - aber wohin? Ohne Dokumente, ohne Besitz? "Da war gar nichts zu essen, da war ich immer draußen und habe von den Bäumen gegessen. Blätter!"
    Zum Betteln nach Litauen geschickt
    Sie lacht häufig, wenn sie erzählt, wohl ein Lachen, das ihre Scham verbergen soll. Nach der Flucht aus dem Lager hat ihre Mutter sie und ihren Bruder zum Betteln nach Litauen geschickt. Später verliert sie in den Wirren den Kontakt zu ihnen und bleibt allein. Das Mädchen Elli findet einen litauischen Großbauern, bei dem sie Kühe hütet und einen Schlafplatz auf dem Boden und kalte Suppe bekommt, zwei Jahre lang. "Einmal bin ich eingeschlafen und die Kühe sind irgendwohin abgehauen. Da hat mich die Bäuerin geschlagen."
    Ein Blick in das Wohnzimmer von Elli Hartwig.
    Spartanisch und wenig Platz. Die Wohnung von Elli Hartwig bietet nicht viel Komfort. (Spiegel Online / Christina Hebel )
    Elli Hartwig schaut zur Seite, will verhindern, dass ihr Tränen kommen, die aber doch nach außen dringen. Als die Sowjets den Bauern verschleppen, weil er Großbauer ist, kommt Elli, inzwischen 14 Jahre alt, auf einen anderen Hof, findet endlich ein wenig Zuhause. Sie nennt sich Ellitje, lernt Litauisch, wird katholisch umgetauft und Sowjetbürgerin. Es ist wichtig, nicht als Deutsche aufzufallen. "Streng war die Bäuerin. Zum Tanzen hat sie mich nicht gelassen. Dabei habe ich das doch so gemocht!" Diese Zeit endet mit ihrer Hochzeit.
    "Es war immer schwer und wurde immer schwerer"
    "Er war ein Trinker, hat sich rumgetrieben. Und hat mich geschlagen. Ich habe noch immer die Töpfe, mit denen er mich verprügelt hat." Als der Mann früh stirbt, zieht sie Anfang der 1960er Jahre mit dem eigenen Sohn, noch Kleinkind, von Litauen ins Kaliningrader Gebiet um. Seitdem bewohnt sie eine einfache Ein-Zimmer-Wohnung in einem früheren Bauernhaus. Im Ort Krasnosnamensk hat sie 30 Jahre lang als Putzfrau gearbeitet. "Es war immer schwer und wurde immer schwerer."
    "Es sind alles starke Menschen, die ich getroffen habe", sagt Christopher Spatz, Historiker aus Berlin, der über Wolfskinder geforscht und promoviert hat. "Sie sind bis heute mehr oder weniger Einzelkämpfer geblieben, weil der Überlebenskampf in der Nachkriegszeit das von ihnen verlangt hat. Dieses Sich-Anpassen, dieses Sich-Unsichtbarmachen, und nur so ging ja auch der Eintausch von Herkunft und Identität gegen Brot und Schlafstelle."
    Von der Mutter verstoßen
    Erst spät findet Elli Hartwig wieder Kontakt zu ihren Geschwistern und ihrer Mutter, von denen viele in Thüringen in der DDR neu Fuß gefasst hatten. Dort sehen sie sich einige Male, doch warm werden sie nicht mehr miteinander. Ihre Mutter nennt die Tochter beim ersten Wiedersehen "Rumtreiberin", was diese bis heute tief verletzt. Historiker Spatz sagt, dass eines für so gut wie alle Wolfskinder prägend ist: "Die totale Verlusterfahrung. Alles, was einen Menschen ausmacht - Herkunft, Name, Sprache, auch Religion, vor allen Dingen auch die engsten sozialen Kontakte und Verbindungen zu den Eltern und Geschwistern - das ist für viele wirklich komplett verloren gegangen."
    Einige Briefe von Verwandten haben Krasnosnamensk erreicht, in den Umschlägen waren die Fotografien, die Hartwig nun in der Plastiktüte hütet. Heute ringt sie mit sich: Hätte sie die Gelegenheiten nutzen sollen, nach Deutschland auszureisen, etwa in den 90er-Jahren? Aber dann hätte sie ihren zweiten Mann, der seit einem Schlaganfall vor vielen Jahren im Rollstuhl sitzt, im Stich lassen müssen. Vielleicht fehlte ihr auch der Mut.
    Ein Blick von Außen auf das Haus von Elli Hartwig.
    Ein Blick von Außen auf das Haus von Elli Hartwig. (Spiegel Online / Christina Hebel )
    Elli Hartwig ist 160 Kilometer von Krasnosnamensk nach Kaliningrad ins deutsche Generalkonsulat gefahren. Dort hilft ihr Katharina Wilhelm, den Antrag auf Entschädigung auszufüllen. Entscheidend ist: Hat Hartwig Zwangsarbeit geleistet? "'Sie sagen, Ihre Mutter musste auf dem Feld arbeiten? 'Ja.' 'Und was mussten Sie machen, was haben Sie gemacht in der Zeit, den ganzen Tag?' 'Ich? Ich weiß es gar nicht mehr.' 'Erzählen Sie mir mal, wie muss ich mir das vorstellen, gab es einen Zaun ringsherum, oder wie war das?'"
    Aber ihre Erinnerungen bleiben bruchstückhaft. Ob die Umstände in dem Lager der Sowjets und die Überlebensarbeit bei litauischen Bauern als Zwangsarbeit zu bewerten sind und ob also die Bundesrepublik Elli Hartwig 2.500 Euro auszahlt, entscheidet jetzt das Bundesverwaltungsamt. "'Ich bin keine Litauische, keine Russische, keine Deutsche.' 'Was sind Sie denn?' 'Ich weiß es nicht.'"
    Doch eines macht ihr Freude: Deutsch zu sprechen. Jeden Tag zieht sie sich in ihre Küche zurück und liest sich selbst laut vor. Sie besitzt eine Kinderbibel und Karten mit Gedichten. "Wenn manchmal das Leben dir allein zu schwer, wenn Sorge dich drückt, das Herz so leer, wenn alle versagen, keine Hilfe ist nah - dafür ist gerade der Heiland da."
    Dass sie liest, was sie liest, weiß niemand, nicht einmal ihr Mann. Elli Hartwig, das einstige Wolfskind, hat ihr Leben lang viel versteckt und eingesteckt. "Ich habe nur Ihnen davon erzählt."