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Medizinethikerin Christiane Woopen
"Ich halte eine Impfpflicht für schwer begründbar"

Medizinethikerin und Ex-Ethikratmitglied Christiane Woopen rechnet nicht damit, dass schon Anfang kommenden Jahres ein "ausreichend gut diskutiertes" Gesetz zur allgemeinen Impfpflicht vorliegt. Sie schlägt vor, die Impfpflicht zunächst einrichtungsbezogen und dann nur für Menschen über 60 einzuführen.

Porträtbild von Medizinethikerin Christiane Woopen
Christiane Woopen arbeitet als Medizinethikerin an der Universität Bonn und war Mitglied im Deutschen Ethikrat (picture alliance/dpa/ Kay Nietfeld)
Die Impfpflicht in Deutschland soll in zwei Stufen Realität werden: schon bald für Beschäftigte in Einrichtungen wie Pflegeheimen und Krankenhäusern, im nächsten Frühjahr dann möglicherweise für alle. Zur allgemeinen Impfpflicht soll der Ethikrat eine Empfehlung ausarbeiten, die Abgeordneten des Bundestags sollen dann ohne Fraktionszwang in einer Gewissenentscheidung über einen entsprechenden Gesetzentwurf abstimmen.
Christiane Woopen ist Medizinethikerin, war bis vor Kurzem an der Universität Köln tätig und arbeitet jetzt an der Universität Bonn. Sie war Vorsitzende der Deutschen Ethikkommission und berät die EU-Kommission in ethischen Fragen. Einer allgemeinen Corona-Impfpflicht in Deutschland steht sie skeptisch gegenüber. "Das scheint mir eine sehr lange und sehr differenzierte Diskussion werden zu müssen, denn das liegt alles andere als auf der Hand", sagte sie im Deutschlandfunk.

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Sollte eine Impfpflicht unvermeidbar erscheinen, schlägt sie vor, diese zunächst für bestimmte Berufsgruppen in bestimmten Einrichtungen, etwa in der Pflege, einzuführen und in einem zweiten Schritt für Menschen über 60 Jahre. "Diese Idee beruht darauf, dass es ja darum geht, die Intensivstationen zu entlasten und eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden", erklärte Woopen. Weniger gehe es darum, den Einzelnen vor seiner eigenen Erkrankung zu schützen. Auf den Intensivstationen lägen aber vorwiegend ältere Menschen. "Das heißt, wenn man eine Impfpflicht auf bestimmte Altersgruppen beschränken würde, hätte man diese Situation auch schon bewältigt und müsste alle diejenigen unter 60 oder unter 50 Jahren nicht von dieser Impfpflicht mit umfasst wissen."

Thielko Grieß: Ich habe ein Zitat von Ihnen gefunden, Frau Woopen, aus dem Spätsommer, da haben Sie argumentiert, dass eine Impfpflicht nur im Notfall für Sie denk- und vorstellbar wäre. Hat sich Ihre Haltung verändert?
Christiane Woopen: Nein, die hat sich nicht verändert. Ich halte eine Impfpflicht tatsächlich für sehr schwer begründbar. Ich finde, dass wir im Moment in einer Situation sind, wo sich zumindest eine gestufte Impfpflicht begründen lassen könnte. Aber sie wird uns jedenfalls nicht aus dieser vierten Welle bringen. Also ich finde, wir müssen unterscheiden, ob das Impfen sinnvoll ist, und das kann man gar nicht stark genug betonen, und ob eine Impfpflicht sinnvoll ist. Und das scheint mir eine sehr lange und sehr differenzierte Diskussion werden zu müssen, denn das liegt alles andere als auf der Hand.

"Die Überlastung der Intensivstationen im Blick behalten"

Grieß: Also halten wir das fest: Natürlich hülfe eine Impfpflicht, die irgendwann in vielen Monaten in Kraft träte, nicht gegen die Welle von heute. Aber Sie sagen, eine gestufte Impfpflicht könne vorstellbar sein aus Ihrer Sicht. Welche Stufen könnte das umfassen?
Woopen: Zum einen würde das diejenigen umfassen in einer ersten Stufe, die ja auch schon oft besprochen wurden, das heißt, einrichtungsbezogen in den Krankenhäusern, Pflegeheimen, vielleicht in den Orten, wo Menschen mit Behinderungen, psychischen Erkrankungen versorgt werden et cetera. Das Zweite wäre eine Begrenzung auf bestimmte Altersgruppen. Diese Idee beruht darauf, dass es ja darum geht, die Intensivstationen zu entlasten und eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden, worunter ja nicht nur die Menschen, die an Covid erkrankt sind, leiden, sondern auch diejenigen, bei denen dann die sogenannten planbaren Eingriffe verschoben werden. Das sind aber Menschen, die haben Krebserkrankungen, Schmerzen, die leiden auch, vielleicht versterben sie auch durch die Verschiebung dieser Operationen. Die dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren. Deswegen: Die Überlastung der Intensivstationen ist im Blick zu behalten. Aber auf diesen Intensivstationen liegen derzeit 80 Prozent über 50 Jahre und 60 Prozent über 60 Jahre. Das heißt, wenn man eine Impfpflicht auf bestimmte Altersgruppen beschränken würde, hätte man diese Situation auch schon bewältigt und müsste alle diejenigen unter 60 oder unter 50 Jahren nicht von dieser Impfpflicht mit umfasst wissen.
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"Alles tun, um eine Impfpflicht zu vermeiden"

Grieß: Also um es noch mal klar zu sagen, eine Impfpflicht schlagen Sie vor zum Beispiel für alle älter als 50.
Woopen: Ich schlage vor, alles dafür zu tun, um eine Impfpflicht zu vermeiden. Aber wenn sie unvermeidbar erscheint, dann zunächst für bestimmte Berufsgruppen, in bestimmten Einrichtungen, als zweiten Schritt vielleicht mit dem ersten zusammen, das müssen dann Epidemiologen und andere mit auch ausrechnen, für diejenigen über 60.

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Eingriff in körperliche Integrität

Grieß: Sie haben argumentiert, sie nähmen die Jüngeren aus, weil die eine geringere Chance haben sozusagen, auf die Intensivstationen zu kommen. Aber etliche gibt es ja denn doch, und statistisch ist das ja auch so, Sie haben es ja auch zitiert, Jüngere, die dennoch auf der Intensivstation sind: ungeimpft.
Woopen: Und deswegen ist es so wichtig zu sehen: Wie hoch muss denn eine Schwelle sein, um eine Impfpflicht zu begründen? Die Begründung kann nicht darin liegen, zu sagen: Man muss die Menschen vor einer Erkrankung bewahren. Dann müssten wir unsere ganze Gesellschaft vollkommen anders umbauen, auch im Verkehr et cetera. Es geht darum, eine öffentliche Notlage zu vermeiden. Und die Freiheit, die man den Menschen dadurch nimmt, dass man in ihre körperliche Integrität, in ihre persönliche Integrität eingreift, indem man eine Impfpflicht einführt, muss man abwägen gegen die ganzen anderen Freiheiten, die man dadurch gewinnt. Aber es geht nicht darum, den Einzelnen vor seiner eigenen Erkrankung zu schützen.

"Der Impfstoff fehlt dann international"

Grieß: Nun haben Sie das, was Sie argumentieren, noch unter eine Vorbedingung gestellt, nämlich alles dafür zu tun, dass geimpft wird. Nun wird ja geimpft, aber es hat sich auch herauskristallisiert in den letzten Wochen, dass ein bestimmter Prozentsatz der Bevölkerung sich nicht impfen lassen möchte. Ist das für Sie so weit … Sind wir an einem Punkt angekommen, an dem man sagen kann, also jetzt haben wir wirklich alles ausprobiert?
Woopen: Ich glaube nicht, dass schon alles ausprobiert wurde. Man hat in einer bestimmten Region in San Francisco, wo es sehr viele Impfgegner gab, durch Maßnahmen es hinbekommen, dort eine hohe Impfquote zu erreichen. Was muss man machen? Und Bremen hat es ja vorgemacht, teilweise auch Köln: Man muss vor Ort zu den Menschen gehen, man muss in den Dialog gehen, man muss niedrigschwellige Angebote unterbreiten und man muss sich mit Menschen verbünden, die vor Ort das Vertrauen dieser Menschen haben. Vertrauen ist ein Begriff, der in der Pandemie vielleicht auch noch stärker in den Mittelpunkt rücken müsste, denn es geht um Vertrauen innerhalb der Bevölkerung, aber auch das Vertrauen zwischen Bevölkerung und Politik. Ich möchte auch einmal ganz kurz die internationale Situation ansprechen, denn wenn wir hier von einer Impfpflicht sprechen und das für alle Bürgerinnen und Bürger, natürlich ohne diejenigen, bei denen es gar nicht aus medizinischen Gründen erfolgen darf, dann fehlt dieser Impfstoff auch international. 80 Prozent aller Impfstoffdosen sind bisher in Länder mit hohem oder dem höheren Teil der mittleren Einkommen gegangen. In den Ländern mit niedrigem Einkommen sind sechs Prozent der Menschen erstmals geimpft. Wir sollten doch auch ein Augenmerk darauf richten, dass die Menschen gerade auch in den Gesundheitswesen, die oft viel prekärer sind als unser Gesundheitswesen, geimpft sind, damit auch dort das Schlimmste verhindert wird. Und es gibt ein weiteres Problem, das ist: Wie wollen Sie diese Impfpflicht fassen? Alle halbe Jahre? Was ist mit einer neuen Variante? Muss man dann alle drei Monate vielleicht impfen – noch eine neue Variante, die ja glücklicherweise mit den mRNA-Impfstoffen gut zu entwickeln ist – dann verordnen? Gilt das dann ein Leben lang? Also da scheinen mir noch viele, viele Fragen zu klären zu sein, sodass ich nicht damit rechne, dass Anfang des Jahres da schon ein ausreichend gut diskutiertes Gesetz vorliegen kann.
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"Gelstrafen würden soziale Ungleichheit verschärfen"

Grieß: Eine Impfpflicht müsste ja auch mit Sanktionen bei Verstößen sanktioniert werden, belegt werden. Was ist da für Sie vorstellbar? Geldstrafen, Gefängnisstrafen? Bei Geldstrafen ist ja immer auch das Argument: Wer Geld hat, der kann sich freikaufen.
Woopen: Das würde die soziale Ungleichheit noch einmal verstärken, das ist ohnehin ein komplexes Thema, wie die Pandemie auf die soziale Ungleichheit wirkt. Wenn, dann kann es meines Erachtens vor allen Dingen um Geldstrafen gehen, aber ganz sicher nicht um Gefängnisstrafen.

"Andere Bilder vom Umgang mit dem Körper in anderen Kulturen"

Grieß: Sie haben das Thema Vertrauen angesprochen, tatsächlich ein ganz, ganz wichtiges Thema. Es gibt aber auch das Vertrauen der Mehrheit im Land, die geimpft ist und die jetzt nach bald zwei Jahren Pandemie sagt, es reicht, also zugespitzt und sozusagen in Alltagssprache ausgedrückt, es reicht, ich möchte jetzt nicht länger warten und möchte auch mein Leben nicht länger einschränken, ich möchte, das dies jetzt ein für allemal für alle geregelt wird, sonst verliere ich mein Vertrauen in diesen Staat.
Woopen: Die Haltung kann ich auch sehr gut verstehen. Deswegen ist es ja so wichtig, viel aufzuklären, zu informieren, in den Dialog zu gehen, um auch denen zu sagen, erstens, dass nicht alle diejenigen, die nicht geimpft sind – ich möchte mal gerne den Begriff „die Ungeimpften“ vermeiden, weil das so stigmatisierend ist –, also auch denen zu erklären, wie unterschiedlich diese Gruppe ist. Ja, es gibt da drunter dann diejenigen, die wirklich ganz und gar dagegen sind, nicht dialogfähig sind und ganz abstruse Vorstellungen haben. Es gibt aber auch diejenigen, die aus anderen Kulturen kommen, die vielleicht auch andere Bilder auch in dieser Kultur von ihrem Körper haben, von dem, wie sie mit diesem Körper umgehen möchten, was sie unter Krankheit verstehen. Und da müssen wir ins Gespräch kommen. Erst einmal zuhören, das war in San Francisco eine der Maßnahmen überhaupt, zuhören, ernst nehmen, wahrnehmen, und dann in den Dialog und in die Überzeugungsarbeit gehen.

"Ganz unvorsichtig dürfen wir weiterhin nicht sein"

Grieß: Nun gibt es auch eine bestimmte Berufsgruppe, nämlich diejenigen, die mit den Sterbenden auf den Corona-Intensivstationen zu tun haben. Ich nehme an, dass deren Geduld auch am Ende ist.
Woopen: Ja, die sind ohnehin vollkommen überlastet. Dass sich bei denen eine erhebliche Frustration über Etliches angesammelt hat, ist klar. Nur: Diejenigen, die jetzt schon geimpft sind und viel dafür getan haben, sich und andere zu schützen, die müssen wissen, dass selbst wenn alle geimpft sind, wir nicht davor gefeit sind, möglicherweise noch bestimmte Schutzmaßnahmen aufrechterhalten zu müssen, denn auch bei den Geimpften gibt es die Impfdurchbrüche. Die sind dann nicht unmittelbar – nach dem, was wir jetzt wissen – eine große Gefährdung für die öffentliche Gesundheit, aber trotzdem: Ganz unvorsichtig dürfen wir auch weiterhin nicht sein. Und es werden immer wieder die Tests vergessen. Die Teststrategien sind von Anfang an in der Politik zu sehr marginalisiert worden, an den Rand gedrängt worden. Wir brauchen sowohl eine flächendeckende Teststrategie für die nächste, ganze nächste Zeit, und ich spreche von Monaten, ganz sicherlich nicht nur von Wochen, und wir brauchen eine ganz etablierte umfassende Impf-Infrastruktur, die auch für die nächsten Monate offen gehalten werden muss.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.