In der Fabrikhalle lärmt es unablässig, die Maschinen stehen niemals still. Auch der Büro-Computer ist unerbittlich: Mit einem Signalton ploppen E-Mails auf, Erinnerungen an die volle To-do-Liste. Dazwischen klingelt das Handy und die Chefin steht mit einem neuen Auftrag in der Tür. Karlheinz Geißler ist emeritierter Professor für Wirtschaftspädagogik und über Jahrzehnte ein gefragter Gast in evangelischen und katholischen Akademien. Er bezeichnet die Menschen als "glückliche Sklaven, die gar nicht mehr merken, was ihnen fehlt".
Geißler sagt: "Ich meine damit, dass unsere Ökonomie auf Pausenlosigkeit hinzielt. In dem Moment, wo sie Zeit in Geld verrechnet, und durch die Verdichtung möglichst alle Zeiten in Geld verrechnet, kommen die Pausen unter Druck."
Die Pausenlosigkeit sei inzwischen oft das Ideal, sagt der Wirtschaftsexperte. Aber selbst wenn jemand in seiner Arbeit aufgehe, benötige er regelmäßige Unterbrechungen, erklärt Karlheinz Geißler, der sich seit langem wissenschaftlich mit dem Phänomen der Zeit beschäftigt.
Pausen steigern die Leistungsfähigkeit
"Eine Pause ist sozusagen ein Teiler. Sie teilt zwischen dem, was war, und dem, was kommt. Sie macht aus einem kontinuierlichen Prozess mehrere unterschiedliche Prozesse. So können wir überhaupt nur zwischen Vergangenheit und Zukunft unterscheiden, in dem, was dazwischen ist, sonst geht alles immer weiter. Dieses Dazwischen ist ganz wichtig, um Orientierung zu finden, aber auch der Körper verlangt das."
Auch aus ökonomischer Sicht sind Pausen sinnvoll, verdeutlicht Geißler an einem Beispiel: Im Jahr 1914 beschlossen in England Regierung und Industriellenverband, die Bänder zusätzlich sonntags laufen zu lassen, um mehr zu produzieren. Allerdings nur für kurze Zeit, denn: Die Arbeiter brachten weniger Leistung, es passierten mehr Fehler, die Menge der Güter nahm ab.
Einige Jahrzehnte zuvor, in den Anfängen der Industrialisierung, waren in den Fabriken noch gar keine Pausen vorgesehen – und das bei 14- bis 16-Stunden-Tagen. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hielten organisierte Pausen Einzug. Im Tarifvertrag der Buchdrucker aus dem Jahr 1873 heißt es: "Die tägliche Arbeitszeit ist eine zehnstündige, inklusive eine Viertelstunde Frühstück und eine Viertelstunde Vesper."
Eine neue Errungenschaft jedoch waren solche Auszeiten nicht, sagt Zeitforscher Geißler: "Vor der Industriegesellschaft haben 90 Prozent der Menschen in der Landwirtschaft gearbeitet. Da gibt die Natur quasi die Pausen vor, allein durch die Jahreszeiten. Der Winter ist eine große, lange Pause für die Bauern. Der Sommer ist dafür etwas hektischer oder das Frühjahr. Das musste später, in der Industriegesellschaft, wo man der Natur entfremdet wurde, kompensiert werden durch organisierte Pausen."
"Burnout ist nichts anderes, als wenn ich meine Zeitstruktur verloren habe"
Und heute, in der digitalen Dienstleistungsgesellschaft? Gibt das Arbeitsrecht für Festangestellte zwar immer noch Pausen vor. Aber: Mehr Menschen sind freiberuflich tätig, es gibt Home-Office, mobiles Arbeiten. Job und Freizeit sind schwerer zu trennen: Mit dem Smartphone lassen sich selbst am Strand Nachrichten beantworten und Aufträge bearbeiten.
Das hängt mit dem Wesen des Internets zusammen: Es hat keine Zeitstruktur, keinen Anfang, kein Ende –kennt keine Pausen. Also ist es am einzelnen Beschäftigten, sich diese zu organisieren und zu nehmen. "Wenn die Leute heute über Zeitstress klagen, dann klagen sie über diese Zeitlosigkeit. Über die Zumutung, immer alles selbst entscheiden zu müssen, was Pausen betrifft. Und das ist eine Last, die im Extremfall zu Burnout führt", sagt der Zeitforscher Geißler. "Burnout ist nichts anderes, als wenn ich meine Zeitstruktur verloren habe, und meinen Kontakt zu meiner eigenen Pausenkultur, die in meinem Körper herrscht."
"Ich finde, dass man den Gedanken unbedingt wachhalten sollte, dass jedem Menschen die Möglichkeit offen steht, aus seinem Leben etwas zu machen und sich eben nicht von irgendwelchen Erwartungen oder von der Arbeit treiben zu lassen, dass man darüber krank wird."
Es ist die alte Frage nach der Willensfreiheit des Menschen, die Isabelle Mandrella benennt, katholische Professorin für philosophische Grundfragen der Theologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München: "Dass man das Gefühl hat, man bewegt sich in einem unaufhörlichen Hamsterrad, ist ja genau der Verlust an Autonomie. Also dass wir feststellen, wir können gar nicht mehr so über unsere eigene Zeit verfügen, wie wir es wollen. Ständig will jemand was von uns. Dass man das dann durchaus als einen autonomen Akt der Befreiung verstehen kann, wenn man sich dann ganz bewusst einmal herauszieht", sagt Isabelle Mandrella.
Religiöse Wurzeln des Sabbatjahrs
Bildschirmpausen, Smartphone-Verzicht: Bei einer Forsa-Umfrage zu ihren Vorsätzen für 2019 sagte fast die Hälfte der Befragten, sie wollten in diesem Jahr seltener online sein. Manche Pausen-Bedürftige suchen den Rückzug in die Natur – beim Wandern oder an einem einsamen See.
Oder darf‘s gleich ein Sabbatjahr sein? Im öffentlichen Dienst und in manchen Unternehmen können Mitarbeiter für längere Zeit ins Ausland gehen, einen Freiwilligendienst einschieben, sich um die Familie kümmern. Der religiöse Ursprung des Sabbatjahrs findet sich in der jüdischen Thora und damit auch im christlichen Alten Testament: In jedem siebten Jahr sollen Sklaven freigelassen werden und die Felder brachliegen – so kann sich die Erde erholen.
Wie heute die Beschäftigten – was auch den Unternehmen nutze, sagt Wirtschaftsprofessor Karlheinz Geißler: "Das ist ökonomisch sinnvoll, sonst würde es nicht gemacht. In solche Situationen der Distanz zur Arbeit zu kommen, um sich neu zu orientieren. Wenn ich nur noch diesen Tunnelblick habe für die eigene Arbeit, bin ich nicht flexibel für Neues und für Veränderungen. Das kann ich schulen durch Kontakte mit anderen Kulturen und anderen Landschaften."
Kommerzialisierung der Pause
Indes steht selbst die Pause in der Gefahr verzweckt zu werden: Die Rufe nach Auszeiten werden lauter – und die kommerziellen Angebote zahlreicher, vom Wellness-Boom bis zum Schokoriegel ‚Lila Pause‘.
"Pausen sind für einen Ökonomen die Herausforderung, ein Pausenprogramm zu entwickeln. Oder die Pausen mit Musik zu füllen: Von der Toilette bis zum Aufzug wird man bedudelt mit irgendwelcher Musik, um möglichst keine Pausen entstehen zu lassen, möglichst abgelenkt zu werden. Es geht ums Verkaufen", sagt Geißler.
"Das ist ja auch dieser merkwürdige Prozess, dass wir unsere Arbeitszeit immer weiter reduzieren, immer mehr Freizeit haben, aber dann ja auch wieder in völlig irrsinnige Aktivität verfallen", so Isabelle Mandrella. "Bloß nicht auch nur einen Tag Urlaub ungenutzt lassen, ab in den Flieger und was weiß ich wohin. Man meint, sich von einem solchen Arbeitsethos zu lösen, aber macht sich praktisch wieder zum Sklaven anderer Erwartungen – nämlich das, was man dann Freizeit-Aktivität nennt."
Die Philosophie-Professorin Isabelle Mandrella plädiert für wirkliche Auszeiten: um Freiräume im Kopf zu bekommen, damit sich die Gedanken sortieren können.
"Diese Gesellschaft verlangt Aktivität"
Nur: Wo liegt die goldene Mitte zwischen zu wenig und zu viel Pause? Wer dauernd den E-Mail-Abwesenheitsassistenten einschaltet, erntet schiefe Blicke. "Müßiggang ist aller Laster Anfang", heißt es dann.
Ein schmaler Grat ist das mit der richtigen Pausenkultur: Der Workaholic ist anerkannter als der Faulpelz, sagt Zeitforscher Geißler: "Diese Gesellschaft verlangt Aktivität. Wer keine Pausen macht, ist sicher ein angeseheneres Gesellschaftsmitglied als jemand, der zu viele Pausen macht. Der gilt als das, was man früher Müßiggänger genannt hat."
Hingegen: Für jene Digital-Arbeiter, die unter einem Mangel an Muße leiden, hat Geißler einen Rat: "Ich empfehle eine Form der Pause: Der Zeit zuzuschauen, wie sie vergeht."