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Wortgewalt im Nationalsozialismus

Worte transportieren nicht nur Inhalte, sondern auch Werte und Überzeugungen. Sie können verschleiern, manipulieren und terrorisieren. Das zeigt der Philologe Horst Dieter Schlosser in seiner Analyse der nationalsozialistischen Sprache.

Von Christiane Florin |
    Samuel und David verschwanden mit einem Federstrich. 1934 änderte die Deutsche Reichspost das Buchstabieralphabet. Aus S wie Samuel wurde Siegfried, aus D wie David wurde Dora. Das scheinbar kleine Beispiel steht im Zusammenhang mit millionenfachem Mord. Auschwitz wurde früh verbal vorbereitet, das ist eine der zentralen Thesen in Horst Dieter Schlossers Monografie "Sprache unterm Hakenkreuz". Vernichtet, wer jüdische Namen auslöscht, auch jüdische Menschen? So schlicht ist die Kausalkette dann doch nicht. Schlosser beschreibt den Zusammenhang zwischen Sprache und Verbrechen folgendermaßen:

    Die diskriminierenden Äußerungen stehen am Anfang, werden mit der immer wieder angewandten Verkehrung der Täter-Opfer-Perspektive verknüpft, verlieren dann aber trotz heftigen weiteren Gebrauchs an Gewicht gegenüber der wachsenden nichtsprachlichen Brutalität des Handelns, bis diese auf dem Fundament einer gelungenen Verinnerlichung der verbalen Diskriminierung (…) auch sprachlich keinerlei Rücksichten auf irgendwelche Empfindlichkeiten, gar auf ethische Normen mehr nimmt.

    Schlosser neigt zum Nominalstil, seine Analyse ist mühsam zu lesen. Inhaltlich kann er es vielleicht mit Victor Klemperers Standardwerk zur Sprache des Dritten Reichs, "LTI" von 1947, aufnehmen. Sprachästhetisch sicher nicht. Manche Stilblüte passierte das Lektorat. Da heißt es etwa lapidar:

    Der große Rest der Judenverfolgung vollzog sich hauptsächlich außersprachlich, durch Mord.

    Doch viele Referenzwerke zum Thema Sprache kommen ohne stilistische Eleganz aus. Sie imponieren durch den Fleiß und die Akribie des Autors. Das gilt auch für dieses Buch. Der Philologe Horst Dieter Schlosser war bis 2010 unter anderem für das Unwort des Jahres zuständig. Sein Buch sensibilisiert den Leser dafür, im Unwort-Nominierungs-Gestus NS-Vokabeln in der Sprache von heute aufzuspüren. Es zeigt aber vor allem, wie Überhöhtes, Brutales und brutal Beschönigendes unter dem Hakenkreuz Karriere machen konnte. Die Analyse beginnt in den frühen Jahren der NSDAP und endet mit dem letzten Tagesbefehl des Oberkommandos der Wehrmacht. Der Alltagssprache im Krieg und den verschiedenen Sprachen des Widerstandes sind zwei eigene Kapitel am Schluss gewidmet. Der Wortschatz, aus dem sich das Regime bediente, hatte sich über Jahrzehnte angesammelt. Weder "arisch" noch "Führer" noch "Konzentrationslager" waren Erfindungen der Nationalsozialisten. In der Einleitung schreibt der Autor:

    Tatsächlich lag ein wesentlicher Teil des sprachlichen und argumentativen Repertoires schon in der Weimarer Zeit bereit, um als Waffe gegen die republikanisch-demokratische Ordnung eingesetzt zu werden.

    Dass ein Redner Menschen zu Parasiten erklärte, ließ in den 1920er-Jahren kaum einen Zuhörer zusammenzucken. Als eines der Lieblingsadjektive des frühen Hitler identifiziert Schlosser "rücksichtslos". Auch das ging damals als rhetorisch unauffällig durch. Die nationalsozialistische Sprache klang in den Ohren der Zeitgenossen vertraut und neu zugleich. Beschworen wurden ewige Werte wie Ehre, Heldenmut und Treue, zelebriert wurde aber auch der metallisch-moderne Klang technischer Allmachtsphantasien. "Gleichschaltung" und "Ausschaltung" sind dafür beredte Beispiele. Originell an Hitlers Reden war weniger das Vokabular, unerhört war das messianische Gehabe. Allenfalls von Predigern sei dieser Stil bekannt gewesen, so Schlosser. Gleich mehrmals moniert der Autor, dass die Schlüsselwörter des politischen Kampfes der NSDAP sich nicht zu einer schlüssigen Weltanschauung fügten. Die Wortgewalt überspielte die intellektuelle Anspruchslosigkeit. Zu Joseph Goebbels merkt er an:

    Analysiert man seine wie auch Hitlers Reden, findet man die These, dass NS-Ideologie und Propaganda letztlich ein und dasselbe sind, mehr als bestätigt. Die nationalsozialistische Idee, auch hochtrabend Weltanschauung genannt, ist von einer in sich stimmigen Theorie weit entfernt.

    Wichtiger als die Theorie war dem Regime die Praxis. Sprache sollte einerseits mobil machen, zunächst für die sogenannte "nationale Erhebung", dann für den "deutschen Freiheitskampf", also den Krieg. Inflationär appelliert das Regime ans Volk. Du bist nichts, dein Volk ist alles, und fast alles wurde zum Volksgut erklärt. Es gab Volksgenossen, Volksempfänger, Volkswagen, Volksempfinden, Volkskörper, Volksgesundheit - und damit nicht alle alles merkten, sollte die Sprache nicht nur mobilisieren, sondern auch sedieren. Für den Terror fanden die Propagandisten des Regimes sanft klingende Vokabeln. "Endlösung" und "Sonderbehandlung" sind die bekanntesten Euphemismen. Das Regime hat lange vor dem systematischen Massenmord nackte Gewalt verbal bemäntelt:

    Der ursprüngliche Rechtsterminus Schutzhaft wurde zu einem der zahlreichen Euphemismen der NS-Sprache, also zur Verhüllung der Realität, in der den Betroffenen faktisch jeder Schutz verweigert wurde. Gleichwohl galt als Haftgrund immer noch der Schutz der persönlichen Sicherheit. Dieses Muster semantischer Verdrehung wird uns immer wieder begegnen.

    In diese Logik passt, dass ausgerechnet die Vollstrecker des Terrors, die SS, das Wort Schutz im Namen führte. Stark ist das Buch besonders dann, wenn Schlosser solche semantischen Muster erkennt und die Mechanismen der Manipulation beschreibt. Schwach ist es dort, wo der Autor Ereignisse aufzählt, Daten aneinanderreiht und Interpretationen anderer referiert. Schlosser ist weder Historiker noch Soziologe. Er zeigt auf, wie die Sprache verändert wurde, warum aber die Deutschen "Heil Hitler" statt "Guten Tag" sagten, kann er nicht erklären. Er kann überzeugend nachweisen, wie tief sich der Antisemitismus in der deutschen Gefühlswelt des 19. und 20. Jahrhunderts eingenistet hatte, warum aber der Massenmord möglich wurde, lässt sich mit philologischen Mitteln allerdings nicht erschöpfend ergründen.

    In einer kühnen Schlussvolte stellt Schlosser die DDR in die sprachliche Tradition der Nationalsozialisten. Der Austausch von Nationalsozialismus durch Antifaschismus sei nur ein Etikettenwechsel gewesen. Das klingt fast so, als habe Westdeutschland all die Schlagworte des NS-Regimes am 8. Mai 1945 auf einen Schlag verlernt. Das aber widerspricht all dem, was der Autor zuvor herausgearbeitet hat. Wer heute noch das Buchstabieralphabet benutzt, spricht von D wie Dora und S wie Siegfried. David und Samuel kehrten nie zurück.


    Horst Dieter Schlosser: Sprache unterm Hakenkreuz – Eine andere Geschichte des Nationalsozialismus.
    Böhlau-Verlag, 423 Seiten, 43,90 Euro