Heuer: Das Bundesverfassungsgericht ist zu dem Urteil gekommen, dass Brandenburg uneinheitlich abgestimmt hat und seine Stimmen daher ungültig waren. Klaus Wowereit sagt jetzt, er habe damals nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt. Er beruft sich dabei zum wiederholten Male namentlich auf Ihren juristischen Rat. Haben Sie denn Herrn Wowereit tatsächlich geraten, erstens nach der uneinheitlichen Stimmabgabe noch einmal nachzufragen und dann zweitens bei erneuter uneinheitlicher Stimmabgabe die Antwort des Ministerpräsidenten als Stimme Brandenburgs anzuerkennen?
Oschatz: Nein, das habe ich nicht getan. Ich schätze Herrn Wowereit, wir haben uns gut verstanden. Ich bedaure es deswegen, dass ich ihm hier noch einmal öffentlich widersprechen muss. Wenn er sich auf mich bezieht, dann hat er nicht recht. Ich habe ihm genau das Gegenteil geraten. Ich habe ihm in einem Vermerk dargelegt, dass die Auffassung, sich auf den Ministerpräsidenten beziehen zu können bei uneinheitlicher Stimmenabgabe eines Landes eine Mindermeinung sei, die ganz klar dem Wortlaut des Grundgesetzes widerspreche. Ich habe ihm gesagt, wenn bei der Abstimmung eine unklare Situation eintritt, dann könne er nachfragen. Wenn sich dann herausstelle, dass das Land weiterhin uneinheitlich abstimme, dann müsse er die Feststellung treffen, dass das Land ungültig abgestimmt habe und dass damit natürlich die Stimmen entfallen. Damit wäre das Gesetz auch nicht durchzubringen gewesen. Das habe ich eindeutig klar gelegt. Ich habe ihm zu keiner Zeit gesagt, er könne auf den Ministerpräsidenten abstellen.
Heuer: Lügt Herr Wowereit also?
Oschatz: Ich will ihm auf gar keinen Fall eine Lüge vorwerfen. Er versucht sich aus der Affäre zu ziehen.
Heuer: Sehen wir es anders. Verschweigt er bloß die halbe Wahrheit?
Oschatz: Ja, es ist leider nicht die ganze Wahrheit. Das muss ich allerdings sagen.
Heuer: Warum tut er das, was glauben Sie?
Oschatz: Er tut das wahrscheinlich, weil er sich in Schwierigkeiten befindet und weil er vielleicht auch das Ganze in der Retrospektive für sich etwas schönt und nun einen anderen Schuldigen sucht. Den Gefallen, dieser Schuldige gewesen zu sein, kann ich ihm nicht tun.
Heuer: Hat denn Klaus Wowereit, wie es ihm vorgeworfen wird, den Bundesrat mit seinem Abstimmungsverhalten, mit dem Prozedere, das er dort angewandt hat, parteipolitisch missbraucht?
Oschatz: Ich würde sagen, die Parteipolitik gehört auch in den Bundesrat. Sie ist immer da gewesen. Insofern kann man nicht von einem Missbrauch des Bundesrates sprechen. Ich würde sagen, insgesamt war die Aktion, die ganze Angelegenheit vor das Verfassungsgericht zu bringen, der Versuch, Zeit zu gewinnen. Er war ja nicht alleine, es war ja eine Marschrichtung, die man sich vorgenommen hatte. Unsere Institutionen dazu zu benutzen, um in einer kritischen Situation Zeit zu gewinnen, ist nicht ganz der richtige Umgang mit Institutionen. Diese hat man zu schützen. In einer Demokratie leben wir davon, dass wir die Verfahren wirklich einhalten. Das ist das, was uns alle verbindet und den Frieden immer wieder stiftet. Deshalb sollte man im Umgang mit einer Institution wie dem Bundesrat natürlich vorsichtig sein.
Heuer: Sie sprechen davon, dass die Institutionen benutzt worden seien. Geht das so weit, dass Sie auch sagen würden, die Verfassung wurde an dieser Stelle gebrochen? Herr Wowereit hat ja gestern gesagt, er fühle sich nicht als Verfassungsbrecher.
Oschatz: Er hat bei der Auslegung des Grundgesetzes eine andere Auffassung vertreten. Das steht jedem zu. Das Verfassungsgericht hat zumindest hinterher festgestellt, dass es nicht die richtige Auslegung war. Ich würde ihm subjektiv nicht vorwerfen wollen, die Verfassung brechen zu wollen.
Heuer: Und objektiv?
Oschatz: Objektiv, ist das was das gesehen ist, nicht verfassungsgerecht gewesen.
Heuer: Dennoch hat Klaus Wowereit gestern ausgeschlossen, dass er als regierender Oberbürgermeister von Berlin seinen Rücktritt erklären würde.
Oschatz: Dazu irgendein Urteil zu äußern, steht hier als ehemaliger Beamter des Bundesrates nicht an. Das ist ganz alleine seine Entscheidung.
Heuer: Klaus Wowereit hat auch vorgeschlagen, die Geschäftsordnung des Bundesrates oder vielleicht sogar das Grundgesetz zu ändern, damit solche Abstimmungen, wie die zum Zuwanderungsgesetz künftig ausgeschlossen werden können. Ist denn das Abstimmungsprozedere nicht eindeutig geregelt?
Oschatz: Das Abstimmungsprozedere ist eindeutig im Grundgesetz geregelt. Wenn Länder nicht einheitlich abstimmen, dann sind die Stimmen ungültig. Das Grundgesetz sagt, die Stimmen müssen einheitlich abgegeben werden. Dabei haben sich die Väter des Grundgesetzes auch etwas gedacht. Das geht weit in die deutsche Verfassungsgeschichte zurück. Es sind die Länder, die bei der Gesetzgebung des Bundes, bei der Gestaltung der Bundespolitik mitwirken, und nicht einzelne Landesminister. Deswegen hat man mit gutem Grund in das Grundgesetz reingeschrieben, dass die Stimmen eines Landes einheitlich abzugeben sind. Die Landespolitiker haben sich gefälligst in den Kabinetten zu einigen, wie sie bei der Bundesgesetzgebung abstimmen und wie sie beim Bund nun mitwirken. Man kann ja nicht die Querelen zwischen den Landespolitikern im Hinblick auf die Bundespolitik im Bundesrat austragen.
Heuer: Aber selbst die Richter beim Bundesverfassungsgericht waren sich bei ihrer Entscheidung nicht ganz einig. Es hat gestern ein Minderheitsvotum zweier Verfassungsrichterinnen gegeben.
Oschatz: Das ist nie auszuschließen. Die Jurisprudenz ist eine Wissenschaft, bei der auch immer wieder unterschiedliche Auffassungen vertreten werden. Es sind aber eben nur zwei Richterinnen gewesen. Ich halte diese Auffassungen für nicht juristisch vertretbar. Sondern mit diesem Abstimmungsverfahren wird der Wortlaut des Grundgesetzes nicht berücksichtigt. Zu der Auffassung ist ja auch die Mehrheit der Verfassungsrichter gekommen. Deswegen wird ja im Verfassungsgericht auch über diese Fragen abgestimmt. Das ist ein Versuch, damit eine relative Wahrheit zu vermitteln, absolute Wahrheiten gibt es sowieso nicht.
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