Die 12. Konferenz der Welthandelsorganisation in Genf wird als Erfolg gewertet: Die Vertreterinnen und Vertreter der 164 WTO-Mitgliedsländer haben sich auf konkrete Vereinbarungen geeinigt – nach rund sieben Jahren geringer Fortschritte bei der Regelsetzung für den Welthandel, mit Blockaden der WTO-Schiedsgerichte durch die US-Regierung, Lähmung durch die Covid-19-Pandemie und einer zuletzt durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine erschwerten Zusammenarbeit mit Russland.
Die wichtigsten Ergebnisse der WTO-Konferenz:
Ein erfolgreicher Abschluss der Konferenz in Genf in Form von konkreten Abkommen galt als besonders wichtig für die Existenzberechtigung der WTO, aber auch als Indiz für die Handlungsfähigkeit multilateraler Organisationen insgesamt.
Einst verschrien als Instrument zur Durchsetzung neoliberaler und neokolonialer Politik der westlichen Industriestaaten wurde es nach den großen Protesten von Gewerkschafts-, Umwelt- und entwicklungspolitischen Gruppen bei der WTO-Ministerkonferenz 1999 im US-Amerikanischen Seattle eher still um die 1995 gegründete Welthandelsorganisation. Das lag nicht nur daran, dass selbst kleinere Entwicklungsländer vor den Schiedsgerichten der WTO erfolgreich gegen nach WTO-Regeln unfaire Handelspraktiken sogar gegen die USA durchsetzten. Die Finanzkrise 2008 erschütterte den Glauben an den Sinn rein neoliberaler Marktöffnungen. Auch sorgte das Einstimmigkeitsprinzip bei der WTO – ein Land, eine Stimme, egal ob Mini-Inselstaat oder die USA – dafür, dass nur wenige weitere Folgeabkommen zustande kamen. Viele WTO-Mitgliedern – darunter auch die EU – wichen deshalb in den letzten Jahren zunehmend auf bilaterale Abkommen mit einzelnen Staaten aus.
Aussetzung der Patentrechte auf Covid-19-Impfstoffe
Die Patente auf Impfstoffe gegen Covid-19 werden für eine befristete Zeit aufgehoben, um die Produktion von Impfstoffen in mehr Ländern zu ermöglichen. Das wird über einen sogenannten Waiver ermöglicht: eine Ausnahme vom WTO-TRIPS-Patentrecht, die für fünf Jahre gelten soll.
Die Organisation "Ärzte ohne Grenzen" kritisierte, dass diese Regelung nur für Impfstoffe und nicht auch für Patente auf Arzneien und Diagnostika in der Corona-Pandemie gilt. Dies sei ungeeignet, um einer Pandemielage zu begegnen. Der Präsident der Hilfsorganisation, Christos Christou, erkennt aber an, dass der Abschlusstext gegenüber dem von Konferenzbeginn einige Verbesserungen erfahren hat. So muss der Allgemeine WTO-Botschafterrat (General Council) der Mitgliedsstaaten nun binnen sechs Monaten darüber entscheiden, ob die Ausnahme auf Medikamente und Diagnostik ausgeweitet wird.
„Ärzte ohne Grenzen“ hatte am Entwurfstext zudem kritisiert, er beschränke sich auf Patente im engsten Sinne und umfasse keinen echten Technologietransfer. In einer Fußnote wird jetzt definiert, dass die Patentfreigabe auch „Inhaltstoffe“ und „Prozesse“ beinhalte. Allerdings kann wahrscheinlich nur die Praxis zeigen, ob diese Formulierung ausreicht, um potentielle Hersteller aus Entwicklungsländern in die Lage zu versetzen, erfolgreich in die Produktion von Impfstoffen einzusteigen.
Das im Rahmen der WTO-Gründung 1995 unterzeichnete TRIPS-Abkommen sichert den großen Pharmaunternehmen, die vorwiegend in den reichen Industriestaaten sitzen, einen sehr hohen Schutz ihres geistigen Eigentums zu. Auf dessen Basis können sie häufig sehr hohe Preise durchsetzen. Während der Aids-Pandemie durchbrachen Hersteller in Brasilien erstmals diese Vorgaben. In der Folge belieferten Produzenten aus Schwellenländern ärmere Entwicklungsländer mit HIV-Nachahmerprodukten zu günstigen Preisen. Nach weltweiten scharfen Protesten gegen die offiziellen Patentregeln erklärten sich die Herkunftsländer führender Pharmaunternehmen Anfang der 2000er-Jahre zu Ausnahmeklauseln im TRIPS-Abkommen bereit, die aber in der Praxis aufgrund ihrer komplizierten Konstruktion nie wirklich Anwendung fanden.
Die Delegationen in Genf standen unter großem Druck, einerseits durch die großen Pharmaunternehmen, die vor allem in Deutschland, der Schweiz, Groß-Britannien und den USA sitzen, andererseits durch zivilgesellschaftliche Gruppen aus dem Gesundheitsbereich. Der Internationale Dachverband der Pharma-Produzenten IFPMA reagierte mit Enttäuschung auf die Entscheidung der WTO: Die unzureichende Versorgung von Entwicklungsländern mit Impfstoff, sei nicht auf den Patentschutz, sondern auf Probleme bei der Verteilung und der Infrastruktur zurückzuführen.
Nichtregierungsorganisationen aus dem Gesundheitsbereich weisen diese Argumentation empört zurück: Hauptursache sei keinesfalls eine schlechte Infrastruktur für Impfkampagnen. Über ein Jahr lang seien kaum Impfstoffe verfügbar gewesen, dann sei dieser aus den wenigen Herstellerstaaten nur sporadisch und oft erst kurz vor dem Verfallsdatum geliefert worden.
IWF-Chefin Kristalina Georgieva und UNAIDS-Chefin Winnie Byanyima haben wiederholt darauf hingewiesen, dass es in den Entwicklungsländern mindestens 100 renommierte Institute und Unternehmen gebe, die bei entsprechenden Technologietransfer schnell eine Produktion von mRNA-Impfstoffen auf die Beine stellen könnten.
Handelsabkommen gegen die Überfischung der Weltmeere
20 Jahre lang wurde es vergeblich verhandelt, nun liegt das Abkommen gegen schädliche Fischereisubventionen vor. Der Abbau solcher Subventionen gilt als wichtiger Schritt gegen Überfischung. Wirtschaften auf Kosten der Natur wird damit zum ersten Mal ganz direkt als Preisdumping behandelt, was WTO-Schiedsgerichte verurteilen können. Sähe beispielsweise Mauretanien seine Fischbestände durch subventionierte fremde Fischereiflotten als gefährdet an, könnte es künftig den Entsenderstaat vor dem WTO-Schiedsgericht verklagen und Strafzölle verhängen, erklärt Francisco Mari, Fischereiexperte bei der evangelischen Entwicklungsorganisation Brot für die Welt, am 21. Mai 2022 im Dlf.
Allerdings mussten die WTO-Verhandlungsführer das Abkommen abspecken, weil es sonst wie schon seit 20 Jahren erneut gescheitert wäre. Ein Gutteil schädlicher Subventionsformen auf Schiffsdiesel etwa – darunter die in vielen Industriestaaten übliche Mehrwertsteuerbefreiung – wird im Text nicht mehr erwähnt. Die Meeresschutzorganisation PEW Charitable Trust lobt das Ergebnis dennoch: Staaten, die illegal fischende Flotten fördern oder solche, die ihre Netze auf hoher See in rechtlich ungeregelten Gewässern auswerfen, können jetzt vor dem Schiedsgerichten der WTO angeklagt werden. Außerdem müssten die Regierungen künftig genau Buch über ihre Fischereisubventionen führen und diese bei der WTO anmelden. Alle fünf Jahre sei eine Überprüfung geplant, die Raum für Verschärfungen lasse.
Die globale Überfischung ist ein großes Problem für die Ernährungssicherung in vielen Ländern, wie Heike Vesper von der Naturschutzorganisation WWF erklärt. Denn in vielen Entwicklungsländern ist Fisch die zentrale Proteinquelle für die arme Bevölkerung. Was dem Kleinbauern der Kleinacker zum Anbau seiner Grundnahrungsmittel ist, bedeuten die küstennahen Fischgründe als Existenzgrundlage für 800 Millionen Menschen. Doch laut FAO stagnieren die Fischerträge seit den 1990er-Jahren beziehungsweise viele sind gefährdet. Ein Grund: Insbesondere China, aber Russland, die USA, die EU, Südkorea und bestimmte Entwicklungsländer wie Peru, Indonesien, Indien und Vietnam betreiben subventionierte Fangflotten, die teils völlig überdimensioniert sind und/oder illegal in den Küstengewässern anderer räubern.
Für die WTO ist das Fischereiabkommen Neuland. Während bei Agrarprodukten nach WTO-Regeln auch Umweltauswirkungen und Nachhaltigkeitsanforderungen berücksichtigt werden können, geht das bei Handelsstreitigkeiten rund um Fisch nicht: Denn die WTO-Abkommen behandeln diesen als Industrieprodukt – also wie Autos oder Spielzeug. Praktisch hatte dies bisher zur Folge, dass im Streitfall wegen Überfischung und Illegaler Praktiken zwischen Regierungen auch keine WTO-Vergeltungszölle und andere WTO-Maßnahmen gegen falsches Verhalten verhängt werden konnten.
Der Streit um die Fischereisubventionen steht zudem für einen klassischen Vorwurf an die WTO: Ihre Regeln und Schiedsgerichte orientierten sich nur an Produktionskosten. Auswirkungen auf Mensch, Natur und Klimaerwärmung würden ausgeblendet. Tatsächlich hatten die WTO-Schiedsgerichte jedoch in einzelnen Fällen begonnen, Umweltaspekte zu berücksichtigen. Das Fischereiabkommen ist der erste Ansatz, diese systematischer in die Handelspolitik einzubeziehen. Viele Entwicklungsländer sehen solche Ansätze skeptisch, weil sie durch höhere Standards auch über ihre Möglichkeiten hinaus belastet werden könnten.
Exportverbote von Agrarprodukten
Insbesondere der energieintensiv hergestellte synthetische Dünger sowie Weizen und Sonnenblumenöl haben sich auf den Weltagrarmärkten seit Beginn des Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine stark verteuert. Das bringt unter anderem die Nothelfer des spendenfinanzierten Welternährungsprogramms (WFP) der UNO in Bedrängnis, das bis dato Brotweizen und Sonnenblumenöl preisgünstig in der Ukraine einkaufen konnte. Dort sind die Lager zwar noch gut gefüllt, aber durch die russische Blockade der ukrainischen Häfen kann die Ware nicht wie sonst transportiert werden. Als Reaktion auf den Preisanstieg auf den Weltmärkten haben beispielsweise Indien und mehr als 40 Staaten Ausfuhrhürden für ihr heimisches Getreide errichtet.
In Genf sagten die Handelsminister der 164 WTO-Mitgliedsstaaten zu, Einkäufe des Welternährungsprogramms von solchen Exportverboten auszunehmen. Allerdings ließen sie gleichzeitig das Türchen offen, genau dies zu tun, wenn es dazu dient, die eigene Bevölkerung adäquat zu versorgen. Indien hatte auf der WTO-Ministerkonferenz zudem versucht, eine komplette Reform des bestehenden WTO-Agrarabkommens (AoA) durchzusetzen und drohte sogar, die ganze Konferenz dafür platzen zu lassen.
Es handelt sich um einen alten Konflikt, an dem schon mehrere WTO-Ministerkonferenzen gescheitert waren. Die indische Regierung kauft von je her bevorzugt die Ernte der eigenen Bauern zu Mindestpreisen über Weltmarktniveau auf, lagert diese ein und verteilt das Getreide in Hochpreisphasen günstig oder kostenlos an die arme Bevölkerung. Indien begründet diesen Schritt als Beitrag zur nationalen Ernährungssicherheit. Nach WTO-Regeln gilt dies jedoch als marktverzerrende Subvention.
Diese Politik wirkt letztlich wie eine Importhürde. Sehen sich andere Länder im Agrarhandel durch solche Praktiken unlauterer Konkurrenz ausgesetzt, können sie bislang vor dem WTO-Schiedsgericht klagen und haben gute Aussichten, als Antwort ihrerseits Strafzölle gegen das beklagte Land verhängen zu dürfen. Indiens Vorgehen ist insbesondere den USA und anderen großen Agrarexporteuren wie Brasilien und Australien ein Dorn ein Auge.
Pikant ist dabei: Marktverzerrende Exportbeschränkungen und -hürden sind genauso wie Importbeschränkungen zur Marktabschottung laut WTO-Regeln nicht oder nur mit strengen Ausnahmen erlaubt. Allerdings hat man bei der Gründung der WTO 1994/1995 als Folgevertrag für das GATT-Abkommen vergessen, auch für diese die Möglichkeit von Sanktionen einzuführen.
Angesichts der derzeitigen Krise auf den Weltagrarmärkten konnte Indien diesmal seine Forderungen jedoch erfolgreicher vortragen. Der sehr selbstbewusst auftretende Handelsminister Piyush Goyal erreichte, dass seine Amtkolleginnen und -kollegen die WTO beauftragten, ein Alternativkonzept zu den derzeitigen Regeln im Agrarsektor zu entwickeln. „Schon morgen“ beginne die Arbeit, versprach WTO-Chefin Okonjo Iweala zum Konferenzende.
Der Organisation Brot für die Welt reicht dieses Ergebnisse allerdings nicht. Es gebe weiterhin keine konkreten Vorschläge, wie Entwicklungsländer unabhängiger von Nahrungsimporten würden, kritisiert sie. „Im Mittelpunkt der Erklärung zur Ernährungssicherheit steht wieder einmal der altbekannte Aufruf zur Vermeidung von Exportrestriktionen“, sagte ihr Agrarhandelsexperte Francisco Mari im Dlf. Viele kleine Bauern hätten aber wegen der Billigangebote aus dem Norden ihre Produktion traditioneller Getreide wie Hirse aufgegeben, im Senegal sei absurderweise das Baguette zum Symbol für Ernährungssicherheit geworden.
E-Commerce-Moratorium
Das Entgegenkommen der Industriestaaten im Agrarbereich war möglicherweise einem Entgegenkommen Indiens und Südafrikas in einem anderen Bereich geschuldet. Die WTO-Mitglieder haben ein Moratorium für die Erhebung von Zöllen auf „electronic transmissions“ verlängert, das Finanztransaktionen über Streaming-Diensten bis hin zu Unternehmensdatenströmen im Wert von Hunderten von Milliarden Dollar pro Jahr von Grenzabgaben freihält. Das Moratorium gilt seit 1998 – die Verlängerung war eine der wichtigsten Forderungen des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) sowie des Wirtschaftsdachverbandes DIHK. Südafrika und Indien hatten sich zunächst gegen eine Verlängerung ausgesprochen, da ihnen dadurch hohe Zolleinnahmen entgehen würden. Viele Entwicklungsländer forderten außerdem, erst einmal den „digitalen Graben“ zwischen reichen und armen Ländern zu schließen, bevor ein ganzer Markt von Zöllen freigestellt bliebe. Die jetzt vereinbarte Verlängerung läuft mindestens bis zur nächsten Ministerkonferenz, die für Ende 2023 geplant ist, und spätestens am 31. März 2024 aus
WTO-Reform
Die in vielen Texten teils wenig konkreten Formulierungen waren ein Zeichen dafür, wie schwierig die Verhandlungen in Genf abliefen. Neben den Einzelvereinbarungen gab es eine allgemeine Abschlusserklärung mit nicht besonders konkreten Elementen. Die Ministerkonferenz bekenne sich etwa dazu, „auf nötige Reformen in der WTO hinzuarbeiten“, heißt es. Diese Reformen sollen „alle Funktionen verbessern“.
Die meisten Regierungen dürften sich die Wiederherstellung der WTO-Schiedsgerichte für Handelsstreitigkeiten wünschen – bis auf die USA. Deren Regierung hat ein paar Mal vor den WTO-Schiedsgerichten nicht nur gegen die EU, sondern auch gegen Brasilien und kleine Entwicklungsländer verloren; sie blockiert schon seit der Präsidentschaft von Barack Obama die Wiederbesetzung der Richterposten. Es scheint auch nicht so, als würde sich deren Haltung ändern.
Derweil haben sich ein Drittel der WTO-Staaten, darunter die EU und China, zusammengetan und Ersatzgerichte geschaffen, deren Urteile sie auch anerkennen wollen. Solche plurilateralen Abkommen sind eigentlich nicht WTO-konform, aber es gibt sie für immer mehr Bereiche innerhalb der WTO-Mitgliedsgemeinde. Die einen sehen dies als Ausweg für eine Organisation, die sich durch ihr Einstimmigkeitsprinzip oft lähmt. Die anderen - vor allem Entwicklungsländer - befürchten, dass über diesen Mechanismus für sie schwierige Themen durch die Hintertür abkommensreif vorbereitet und dann durchgedrückt werden. Zwei Jahre sind vorerst für eine Reform anberaumt, die Generaldirektorin Ngozi Iweala durchsetzen muss.
Quellen: Jule Reimer, Nina Voigt