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Würgeengel der Kinder

Medizin. - "Würgeengel der Kinder" nannte man die Diphtherie früher, weil die Bakterien-Infektion den Hals anschwellen ließ, bis viele der kleinen Patienten erstickten. Heute ist die Diphtherie in Deutschland zum Glück kein Thema mehr, ein Verdienst von Emil von Behring, der Anfang des 20. Jahrhunderts die Schutzimpfung gegen Diphtherie entwickelte. Für seine Leistung erhielt er den ersten überhaupt verliehenen Medizin-Nobelpreis. Mit dem Preisgeld baute er ein Impfstoffwerk in Marburg, das in diesem Jahr sein 100jähriges Bestehen feiert. Aus dem kleinen Werk sind große Anlagen geworden. Die neueste darunter stellt wieder Diphtherie-Impfstoff her, Forschung Aktuell hat sie besucht.

    Noch ist das Impfstoffwerk am Standort der früheren Behring-Werke, die heute zum Impfstoffkonzern Chiron Vaccines gehören, jungfräulich, doch schon bald soll es 150 Millionen Impfdosen jährlich herstellen. Die Betreiber rechnen trotz der Impfmüdigkeit in Deutschland mit weltweit steigendem Bedarf. Eine globale Allianz aus Weltgesundheitsorganisation, Weltbank, Impfstoffherstellern, der UNICEF und anderen Organisationen fördert seit 2000 Impfprogramme auf dem ganzen Globus.
    Im Herzen der Anlage herrschen strengste Vorschriften, um die Sterilität zu sichern. Denn nichts gefährdet das Herstellungsverfahren so sehr wie fremde Mikroorganismen. Weil die nun mal von Menschen eingeschleppt werden könnten, heißt es vor einem Besuch erst einmal warten, wie Produktionsleiter Karsten Kattmann erklärt: "Wir müssen jetzt hier mal 90 Minuten warten, denn diese Schleusentüren sind gegeneinander verriegelt. Da ist eine Recovery-Zeit eingebaut, damit sich die Reinraumbedingungen wieder einstellen und auch die Druckkaskaden gehalten werden. Wir haben hier unterschiedliche Luftdrucke mit dem Tiefpunkt hinter dieser Tür. Später wird nur hinter dieser Tür gearbeitet."

    Hinter der Tür findet in Stahltanks die Fermentation der Diphtherie-Bakterien statt. Dort teilen sie sich bei 37 Grad Celsius wie in einem menschlichen Körper und scheiden schließlich ihr Gift, das Diphtherie-Toxin aus: das Rohprodukt für den Impfstoff. Es wird über mehrere Filterschritte von der Bakterienmasse getrennt und läuft schließlich durch eine Manschette in der Wand in einen Stahlkessel im Nebenraum. Hier trenne man infektiöses von nicht infektiösem Material auf der anderen Seite, sagt Kattmann: "Deshalb haben wir hier den Schlauch durch die Wand, weil wir ja irgendwie den Übergang schaffen müssen."

    In Deutschland liegt der letzte Diphtherie-Todesfall schon sieben Jahre zurück. In den GUS-Staaten dagegen kam es in den 90er Jahren nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Gesundheitssystems zu einer regelrechten Diphtherie-Epidmie mit 160.000 Fällen, von denen mehr als 4000 tödlich endeten. Nach wie vor ist der Impfstoff recht teuer. Gründe sind die aufwändige Technik, um die Sterilität zu gewährleisten, sowie die langen Reifungsphasen. Wochenlang muss das Rohtoxin lagern. "Das ist ähnlich wie in der Weinherstellung", so Kattmann. "Man weiß nicht, was da so genau passiert. Die Struktur des Proteins wird einfach nur kompakter." Am Ende wird noch Formaldehyd zugesetzt, das dem Toxin seine Gefährlichkeit nimmt. Insgesamt zwölf Wochen verbleiben die Stahltanks dann in einem Hochregallager, bis aus dem Rohtoxin das ungiftige Formoltoxoid geworden ist, der eigentliche Impfstoff. Er wird nun noch konzentriert und dann in die ganze Welt verschickt.

    [Quelle: Grit Kienzlen]