In der Affäre hätten sich Journalisten nicht gegenseitig kontrolliert und die Vorwürfe geprüft. "Es geht um den gerechten Umgang mit einem Menschen", sagte Bundestagsvizepräsident Hintze. "Es war ein konstruierter Skandal, der erst vom Gericht mit dem Freispruch aufgelöst wurde."
Wulff sei einem Druck von falschen Vorwürfen ausgesetzt gewesen. Die politische Konsequenz des Rücktritts sei zwingend gewesen. Hintze mahnte, Lehren aus dem Fall Wulff zu ziehen. "Dass jemand mit falschen Vorwürfen so aus dem Amt gedrängt wird, darf sich nicht wiederholen." Es müsse ein Prozess des Nachdenkens einsetzen. Die Biografie, die Wulff heute in Berlin vorstellen möchte, könne einen wichtigen Beitrag zur kritischen Diskussion über das Online-Zeitalter und dem damit verbundenen Aktualitätsdruck leisten.
Das Interview in voller Länge:
Mario Dobovisek: Am Telefon mitgehört hat Peter Hintze. Für die CDU ist er Vizepräsident des Deutschen Bundestages und enger Vertrauter Christian Wulffs. Immer wieder hat er ihn bei öffentlichen Auftritten zum Beispiel in Talkshows verteidigt. Schön, dass Sie bei uns sind, Herr Hintze. Guten Morgen!
Peter Hintze: Guten Morgen, Herr Dobovisek.
Dobovisek: Sie sind nach wie vor mit Christian Wulff befreundet. Wie geht es ihm heute?
Hintze: Ich denke, dass er den heutigen Tag in dem Stil angeht, den Herr Götschenberg eben beschrieben hat: mit Mut und Klarheit. Für mich ist das Buch, was er heute vorstellt, ja ein ganz wichtiges Dokument zur Zeitgeschichte, weil es den Verlauf eines konstruierten Skandals nachzeichnet, den erst das Gericht mit seinem kristallklaren Freispruch wieder aufgelöst hat. Und ich glaube, das ist ein ganz wichtiges Buch, was er heute vorstellt.
Dobovisek: Ganz klar ist es ja noch nicht, wie es juristisch weitergeht, denn es kann möglicherweise noch eine Revision geben. Möchte Christian Wulff mit seinem Buch Rache nehmen an den Medien?
Hintze: Was er damit möchte und nicht möchte, denke ich, das müssen Sie heute Nachmittag ihn in der Pressekonferenz befragen. Das wird er auch sagen. Ich glaube, das Buch von Wulff kann einen ganz wichtigen Beitrag leisten zu einer kritischen Diskussion unseres Online-Zeitalters. Herr Götschenberg hat es ja eben schon ein bisschen beschrieben. Der große Vorteil, den wir heute haben, in der digitalen Politikvermittlung ist die Aktualität. Aber der Nachteil ist, dass diese Online-Wirklichkeit eine immer schnellere Produktion von Nachrichten erzwingt, eine permanente Erregung von Aufmerksamkeit, die Gefahr zur Oberflächlichkeit und dann die Gefahr, dass Unbedeutendes oder gar nicht Vorhandenes skandalisiert wird, und wenn man da rein gerät, dann kommt man schlecht raus. Ich meine, man muss jetzt mal fragen: Das hat es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch nie gegeben, dass letztlich eine Staatsanwaltschaft mit einem Vorwurf, von dem das Gericht hinterher gesagt hat, das trägt überhaupt nicht, das war gar nichts, einen Bundespräsidenten, ein Staatsoberhaupt aus dem Amt drängt und sich dabei ja auf die Medien bezieht.
Die haben ja gesagt, der Mediendruck war so groß, wir mussten es quasi machen, und ich finde, das ist eine Frage der politischen Kultur in Deutschland, dass wir das noch einmal diskutieren, und es ist das gute Recht von Christian Wulff, ja fast seine Pflicht, sich mit seiner Sicht der Dinge an die Öffentlichkeit zu wenden und damit jedem Menschen, dem Bürger, dem Journalisten, dem Historiker die Chance zu geben, nachzulesen, wie war es denn wirklich und wie konnte es dazu kommen. Das hat zumindest, hoffe ich, eine präventive Wirkung, nämlich dass in Zukunft, wenn eine solche Skandalisierungsspirale entsteht, von der Götschenberg eben sprach, die sich dauernd selbst bestätigt, dass man dann mal Halt sagt, denn die Presse hat ja in einem entscheidenden Punkt versagt, dass keiner mal kontrolliert hat, ist das, was der andere schreibt, eigentlich richtig, und dass es keinen gewundert hat, dass im Prozess hinterher kein Wort mehr von dem die Rede war, was am Anfang angeblich der Skandal war, und ...
"Es geht um den gerechten Umgang mit einem Menschen"
Dobovisek: Hätten die Hauptstadtjournalisten, Herr Hintze, denn Wulffs Rache verdient?
Hintze: Es geht erst mal um unsere politische Kultur, denke ich. Es geht um den gerechten Umgang mit einem Menschen. Das bleibt ja auch auf der Strecke. Ich meine, was das für den Menschen Christian Wulff bedeutet, einem solchen Druck von falschen Vorwürfen ausgesetzt zu sein und einer solchen öffentlichen Empörung, einem solchen Empörungsrausch ausgesetzt zu sein und ohnmächtig mit anzusehen, dass solche Unwahrheiten über einen verbreitet werden, das ist doch ganz schlimm. Und deswegen, finde ich, müssen wir ihm gerecht werden und müssen gucken, dass wir das als eine Situation verstehen, die uns in Zukunft davor schützt, noch mal in sie hineinzugeraten.
Dobovisek: Wenn sich ein Politiker wie Wulff in den Landtag stellt und sagt, er pflege keine geschäftlichen Beziehungen mit dem Geschäftsmann Egon Geerkens, und später kommt durch Recherchen von Journalisten heraus, dass er stattdessen von Geerkens Frau Geld für sein Haus erhalten hat, wie klingt das für Sie?
Hintze: Man kann natürlich über solche einzelnen Sachverhalte lange streiten und reden.
Dobovisek: Kritiker sagen, das ist eine politische Lüge!
Hintze: Wenn Sie mal sich mit den Gepflogenheiten im Landtag und Bundestag beschäftigen, dann ist es normal so, dass erst mal die Fragen beantwortet werden, die gestellt werden. Hinter der Frage stand eine andere Frage, nämlich ob die Sache möglicherweise nicht in Ordnung war. Es stellte sich jedenfalls am Ende heraus, es war alles in Ordnung. Und man kann deswegen, weil man sagt, hier hat ein Ministerpräsident im Landtag eine Frage zwar formal korrekt beantwortet, aber sie haben als Fragesteller was anderes gemeint - das ist eine Geschmacksfrage, ob man sagt, hätte er vielleicht anders herum antworten können -, aber deswegen Jahre später ein in Deutschland beliebtes und in der Welt anerkanntes Staatsoberhaupt aus dem Amt zu drängen und ein Verfahren zu eröffnen, von dem ein deutsches Gericht sagt, die Grundlagen dafür gab es gar nicht, das war jedenfalls nicht angemessen.
"Die Verhältnismäßigkeit völlig entglitten"
Dobovisek: Herr Götschenberg erwähnte gerade die Kritik an den Medien, auch die Kritik an Wulff selbst, aber erwähnte auch, dass sich die Politik sehr schnell einen schlanken Fuß gemacht hat, wie er sagte. Waren Sie enttäuscht über Ihre eigenen Parteifreunde in der CDU, in der Union, die sich einer nach dem nächsten von Wulff distanziert haben?
Hintze: Ich habe ja für mich die Entscheidung getroffen, das öffentlich weiter zu vertreten und den Finger auf die Wunde zu legen und zu sagen, schaut doch mal bitte hin, was hier eigentlich passiert. Andere haben das anders gehalten. Auf der anderen Seite: Wenn ein Staatsoberhaupt ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft zu gewärtigen hat, dann ist die politische Konsequenz, die Christian Wulff daraus gezogen hat, leider zwingend, und deswegen, finde ich, muss man die Suche nicht in der Politik starten, sondern sie muss da starten, wie konnte es passieren, dass so viele kluge Köpfe, die wir auch in den Medien haben, einfach vom anderen das jeweils abgeschrieben haben, für sich selbst das als Bestätigung genommen haben und keiner gefragt hat, stimmt das eigentlich, was wir schreiben.
Der Anfangsvorwurf, der löste sich im Laufe der ganzen Geschichte in Luft auf, und hinterher ist das Oktoberfest übrig geblieben. Da kann man vielleicht auch noch drüber streiten. Aber da ist doch die Verhältnismäßigkeit völlig entglitten. Und wenn wir den Ermittlungsaufwand sehen - das Gericht hat, glaube ich, vom Verfolgungseifer gesprochen, die Journalisten haben später von einem Ermittlungsexzess gesprochen -, dass Menschen da reingeraten, das dürfen wir eigentlich insgesamt in Deutschland nicht zulassen. Die Wächterfunktion liegt da im Wesentlichen bei den Medien. Die müssen da aufpassen, und manche, die „Süddeutsche Zeitung" beispielsweise hat es ja auch geschrieben, selbstkritisch, wir, die Medien haben da einen Fehler gemacht. Da ist der wesentliche Ort, an dem wir suchen müssen.
Dobovisek: Müssen Journalisten künftig auch durch den Gesetzgeber gestoppt werden, wenn sie zu weit gehen?
Hintze: Nein. Ich glaube, dass die Pressefreiheit in Deutschland ein hohes Gut ist, dass sie funktioniert, und ich hoffe und wünsche mir, dass das, was wir jetzt erlebt haben, auch so einen Prozess des Nachdenkens in Gang setzt und dass sich das nicht wiederholt.
Dobovisek: Wie wünschen Sie sich, dass sich diese Debatte fortsetzt in einer schnelllebigen Zeit? Sie haben es erwähnt: Online, sofort aktuell, alles muss weitergehen, alles muss schnell sein. Wo bleibt da der Raum für die Recherche, für das sich Besinnen?
Hintze: Ich fürchte, dass sich die Debatte nicht fortsetzt, weil in der nächsten Woche werden es wieder andere Themen sein, die uns beschäftigen. Aber ich wünsche mir, dass es so eine kollektive Erinnerung gibt, so ein kollektives schlechtes Gewissen in den Medien, zu sagen, da haben wir einem Menschen Unrecht getan und damit haben wir auch unserem Land und unserem politischen System Unrecht getan. Wenn jemand mit falschen Vorwürfen so aus dem Amt gezwungen wird, das darf sich nicht wiederholen. Ich glaube nicht, dass das eine lange Debatte gibt, aber ich hoffe, dass es so was wie so ein kollektives Gewissen in den Medien gibt, was aktiviert wird, wenn so was noch mal aufträte.
Dobovisek: Der Christdemokrat Peter Hintze ist Bundestagsvizepräsident und Vertrauter von Christian Wulff, der heute in Berlin sein Buch vorstellt. "Ganz oben, ganz unten" lautet der Titel. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Hintze!
Hintze: Bitte schön.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.