Thielko Grieß: Am Telefon begrüße ich jetzt einen Prozessbeobachter, einen früheren Staatsanwalt und Richter und heutiges Mitglied der Chefredaktion der "Süddeutschen Zeitung", alles in einer Person – guten Morgen, Heribert Prantl!
Heribert Prantl: Guten Morgen, Herr Grieß!
Grieß: Alles andere als einen Freispruch für Christian Wulff wäre eine Überraschung, heißt es. Auch für Sie?
Prantl: Sehe ich auch so, nach dem ganzen Prozessverlauf drängt sich ein Freispruch auf, alles andere wäre extrem verwunderlich. Man muss ja sehen, dass von der ganzen Lawine der Schmähungen, der Beschuldigungen, der Verleumdungen, die es zunächst in einem Skandalisierungsprozess in der Öffentlichkeit gegeben hat, schon bei der Anklage nur ein Schneebällchen übrig geblieben war, und dieses Schneebällchen ist im Laufe der Verhandlungstage wirklich komplett zerschmolzen, es ist nichts mehr übrig geblieben, auch nichts von den 753,90 Euro, wegen deren es zur Anklage gekommen war. Es ist nichts übrig. Es zwingt sich ein Freispruch auf.
Grieß: Glauben Sie, dass die Staatsanwaltschaft Fehler gemacht hat und sich den Prozess gleich ganz hätte schenken können?
"Staatsanwaltschaft hat sehr ungut gehandelt"
Prantl: Ich hätte das Verfahren nicht mehr angeklagt nach dem Ergebnis der Ermittlungen. Man muss sagen, dass die Staatsanwaltschaft wirklich sehr ungut gehandelt hat, dass sie, ja, unanständig, parteiisch ermittelt hat. Die Ermittlungen waren extrem einseitig, auf, wenn man die Akten liest, wirklich auf fast lächerliche Weise parteilich. Der zuständige Generalstaatsanwalt Lüttig ist aufgetreten, als habe er einen persönlichen Kampf auszufechten mit Wulff, und er hat schon vor dem Prozess so getan als sei Wulff überführt, mit Zitaten, die wirklich nicht angehen. Er sprach davon, dass die Anklage eine lückenlose und plausible Kette von Beweisen sei. Wer die Anklage liest, weiß, dass es sich hier um Indizien handelt. Wer die Anklage in ihrem weiteren Schicksal verfolgt, sieht, dass die Indizien alle zerronnen sind. In so einer Situation erwarte ich mir von einer Staatsanwaltschaft, von einer souveränen Staatsanwaltschaft, dass sie einen Fehler zugibt. ich hätte mir von einer souveränen Staatsanwaltschaft erwartet, dass sie auf die Veränderungen, die sich ergeben haben, reagieren, den Freispruch beantragt. Dass sie das nicht selber gemacht hat, verstehe ich nicht.
Grieß: Es ist in den vergangenen Tagen, Herr Prantl, viel geschrieben worden über die Rolle von Staatsanwaltschaften, über die Funktion von Staatsanwaltschaften, ihre Kompetenzen, ihre Rechte, ihre Pflichten und mögliche Fehler in der Konstruktion. Jetzt ist es ja so, dass im Gerichtssaal der Oberstaatsanwalt Clemens Eimterbäumer die meiste Zeit verbracht hat, aber er hat auch seine Vorgesetzten. Ist Eimterbäumer eine bedrängte Figur?
Wenig Objektivität des Staatsanwalts im Verfahren gespürt
Prantl: Ja, ein Staatsanwalt in solchen Prozessen ist eine bedrängte Figur. Wir haben ja immer ein Prozessbild vom Staatsanwalt, der sich sehr auf die amerikanische Prozesssituation stützt, wie wir es ja von Filmen her kennen. Da ist der Staatsanwalt tatsächlich ein Gegner der Verteidigung, er ist Partei, er ist nur Ankläger. Im deutschen Prozess ist es ja anders. Der deutsche Staatsanwalt ist anders konstruiert. Er muss und soll zugunsten und zulasten ermitteln, er soll objektiv sein. Von dieser Objektivität hat man in diesem Verfahren wenig gespürt. Und für mich ist dieses Verfahren ein Exempel dafür, dass die Rechtsstellung des Staatsanwalts in Deutschland geändert werden muss, eine Forderung, die auch der Europarat erhebt. In Deutschland ist der Staatsanwalt nach wie vor weisungsgebunden, das heißt, er, der Sitzungsstaatsanwalt hängt nicht nur an der Leine seines Generalstaatsanwalts, sondern dieser Generalstaatsanwalt hängt wiederum an der Leine des Justizministers. Es gibt also ein politisches Weisungsrecht. Das wird natürlich – und das wird immer wieder betont – nicht so ausgeführt, dass das in den Akten steht: Herr Staatsanwalt, ich weise Sie an, Wulff endlich anzuklagen. Aber diese Dinge funktionieren viel subtiler, und ich bin ziemlich überzeugt davon, dass im Wulff-Verfahren ein solcher subtiler Mechanismus zur Anklage geführt hat.
Grieß: Wir erinnern uns an die Umstände des Rücktritts von Christian Wulff und erinnern uns auch daran, dass in vielen Medien ausführlich teils auch hämische Kritik am Verhalten Christian Wulffs geübt worden ist, und wir sehen jetzt, voraussichtlich heute Vormittag, dass juristisch davon, von den Vorwürfen, wenig übrig bleibt. Jetzt kritisieren Sie unter anderem die Staatsanwaltschaft. Könnte man da nicht sagen, es ist vielleicht an der Zeit, sich zurückzuhalten, Kritik leiser zu üben und so ein Urteil einfach mal abzuwarten?
Ermittlungsexzess als Folge eines Skandalisierungsprozesses in den Medien
Prantl: Natürlich wird man das Urteil abwarten müssen. Man macht sich seine Gedanken anhand des Prozessverlaufs und man hat auch Anlass zur eigenen Gewissenserforschung. Ich meine, der Ermittlungsexzess, wie ich ihn bezeichne, war ja auch Folge eines Skandalisierungsprozesses in den Medien, und die Art und Weise, wie wir, die Journalisten, den Fall Wulff diskutiert und behandelt haben, mit einer immer versesseneren Berichterstattung, über mehr oder weniger große Details von angeblicher Vorteilsannahme und Bestechlichkeit, auch da besteht Anlass zur Gewissenserforschung, weil – und das sage ich ganz deutlich – Pressefreiheit nicht dafür da ist, Journalisten lustvolle Gefühle zu verschaffen, und es ist auch nicht die Freiheit zur Selbstermächtigung und zur Selbstbefriedigung, die in einem Rücktritt ihren Höhepunkt findet. All den Eindruck konnte man teilweise bei den Skandalisierungsexzessen vor zwei Jahren schon haben.
Grieß: Herr Prantl, werfen wir noch einen Blick auf eine der Hauptfiguren noch einmal, Christian Wulff, einen der Angeklagten, wenn das so ist, dass er heute juristisch freigesprochen wird, ist es dann so, dass sich Wulffs Taktik, an die wir uns vielleicht auch noch gut erinnern, als richtig erweist, nämlich, Fehler nur dann zuzugeben, wenn es gar nicht mehr anders geht?
Prantl: Nein, die war nicht richtig.
Grieß: Warum nicht?
Wulffs salamimäßige Äußerungen
Prantl: Diese Art und Weise, wie er sich nur salamimäßig geäußert hat, hat, glaube ich, mit zum Rücktritt geführt. Ein völliges Offenlegen der ja nicht strafrechtlich relevanten Fehler, aber der vielen kleinen Fehler und Unregelmäßigkeiten, die es gegeben hat, hätte, glaube ich, dazu führen können, dass sich die Lawine nicht zur Lawine entwickelt hat. Wulff hat viele Fehler gemacht. Das nimmt nicht die Fehler der Medien und die Fehler der Staatsanwaltschaft weg, aber an der Art und Weise, wie es zum Rücktritt gekommen ist, hat er einen guten Teil auch selber Schuld.
Grieß: Aber wegen dieser verwickelten Geschichte, wegen dieser Fehler, die Wulff erst spät eingeräumt hat, ist es damals auch zu einer Diskussion gekommen über den Ehrensold, den Wulff bekommt. Das sind fast 200.000 Euro im Jahr. Halten Sie es jetzt, nachdem wir den Prozess jetzt bis zum voraussichtlichen Ende begleitet haben, für gerechtfertigt, dass der Ex-Präsident diesen Ehrensold bekommt?
Prantl: Natürlich! Ich habe schon damals die Diskussion nicht verstanden. Der Ehrensold ist dafür da, jemandem, der im Amt war, ob jetzt kurz oder lang im Amt war, ein Auskommen zu ermöglichen. Da gehe ich nicht her und lege jetzt eine moralische Latte an und sage, ach, hier, der Ehrensold geht nicht. Die zahlen den alten Ehrensold oder gar keinen Ehrensold. Die Debatte habe ich schon damals für unwürdig gehalten.
Grieß: Heribert Prantl, heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk, über das voraussichtlich bevorstehende Ende des Prozesses gegen Christian Wulff. Ich bedanke mich!
Prantl: Ich danke Ihnen!
Grieß: Einen schönen Tag!
Prantl: Guten Tag!
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Heribert Prantl ist Leiter des Ressorts Innenpolitik der "Süddeutschen Zeitung" und Mitglied der Chefredaktion.