70 Jahre nach WM-Sieg 1954
Wie zwei Zeitzeugen das Wunder von Bern erlebten

Es war das Wunder von Bern: Vor 70 Jahren wurde die westdeutsche Nationalmannschaft sensationell Fußball-Weltmeister. Der Dortmunder Heinz Hiller und Jürgen Bertram aus Goslar haben das Spiel live erlebt – aus unterschiedlichen Perspektiven.

Von Matthias Friebe und Wolf-Sören Treusch | 04.07.2024
Die deutschen Fußball-Nationalspieler bejubeln einen Treffer im WM-Finale 1954 gegen Ungarn.
Am 4. Juli 1954 besiegte die westdeutsche Fußball-Nationalmannschaft im WM-Finale Ungarn mit 3:2 und wurde zum ersten Mal Weltmeister. (picture alliance / AP / Anonymous)
60.000 Menschen sind an diesem 4. Juli im Wankdorf-Stadion in Bern, es regnet in Strömen beim Finale der Fußball-WM 1954.
Unter ihnen auch der damals 19-jährige Heinz Hiller aus Dortmund: "Ich war in der Lehre. Mein Chef hatte für sich eine Karte besorgt. Es war eine kleine Firma, fünf bis sechs Leute und plötzlich frug er mich, ich weiß nicht, ob er krank war oder nicht durfte, ob ich fahren will."

Eintrittskarte für Finale kostet 7,50 Mark

Der junge Auszubildende muss nicht lang überlegen. "Ich sag: gerne. Und dann bin ich da hin. Mit dem Bus sind wir gefahren. Die Karte kostete 89 Mark und die Eintrittskarte 7,50 Mark – Stehplatz."
Vor dem Finale hatte er die WM in der Schweiz schon verfolgt, auf einem der zwei Fernseher im Dorf – in der Reithalle und im Schaufenster eines Radio- und TV-Geschäfts. Und dann sieht Hiller in Bern, wie die deutsche Mannschaft früh in Rückstand gerät.

Deutschland schnell 0:2 hinten

"Was wir befürchtet haben, ist eingetreten", kommentiert Herbert Zimmermann, als die Ungarn schnell 2:0 führen. Hiller erinnert sich an diese Situation: "Als es 2:0 stand, da hab ich gedacht, bis zur Halbzeit müssen wir das ausgleichen, sonst haben wir keine Chance."
Und genau das sollte dann auch eintreffen. "Gott sei Dank! Es steht nur noch 2:1. Und das sollte uns Mut geben", beschreibt damals Kommentator Zimmermann den Anschlusstreffer.

Striemen auf dem Rücken

Das Wunder von Bern nimmt seinen Lauf, Heinz Hiller mittendrin: "Als ich nach Hause kam, hatte ich lauter Striemen auf dem Rücken. Sagt meine Mama: Wo hast du das denn her? Da erinnerte ich mich, dass hinter mir eine Frau mit einem Schirm stand, die hat immer auf meinem Rücken rumgetrommelt."
"Deutschland ist Weltmeister und schlägt Ungarn im Finale mit 3:2 Toren", verkündet damals Kommentator Zimmermann.

WM-Triumph als Balsam für die deutsche Seele

Der spätere Journalist Jürgen Bertram verfolgt das Spiel nicht im Stadion, sondern im Schützenhaus seiner Heimatstadt Golsar in Niedersachsen – obwohl der damals 14-Jährige von seinem Vater Hausarrest bekommen hatte.
Doch als er nach dem Spiel wieder nach Hause kommt, erfährt er von seinem Vater ungeahnte Milde. "Ich glaubte, in seinem Gesicht einen gewissen Triumph über den deutschen Sieg erkennen zu können und ich blieb straffrei", denkt Bertram zurück. "Ich kann mir nur vorstellen, dass auch er über diesen Sieg froh war, weil er im Krieg eine Niederlage erlitten hatte und dass dieser Sieg zumindest geholfen hat, diese Niederlage zu kompensieren."
Das Wunder von Bern ist Balsam für die deutsche Seele. Es hilft, das nationale Selbstbewusstsein nach Nazi-Diktatur und Weltkrieg wieder aufzubauen.

Zuschauer singen erste Strophe des Deutschlandliedes

Im Berner Wankdorfstadion singen deutsche Zuschauer beim Abspielen der Hymne die erste Strophe des Deutschlandliedes, die wegen ihres Textes ausdrücklich nicht Teil der Nationalhymne ist.
Die Politik stimmt damals jedoch nicht mit ein in den "Wir-sind-wieder-wer-Patriotismus". Bundeskanzler Konrad Adenauer will das Land ins westliche Bündnissystem integrieren. Da passen derartige Töne nicht ins Bild.
Neun Jahre nach dem Krieg steckt das westdeutsche Wirtschaftswunder noch in den Kinderschuhen. Viele bezeichnen den Weltmeisterschafts-Triumph an diesem 4. Juli 1954 daher als das eigentliche Gründungsdatum der Bundesrepublik Deutschland.

Hiller seit 40 Jahren BVB-Dauerkartenbesitzer

Das Finale von Bern ist das einzige WM-Endspiel, das Heinz Hiller live im Stadion erlebt hat. Fußball spielt aber bis heute in seinem Leben eine Rolle. Seit 40 Jahren besitzt er eine Dauerkarte bei Borussia Dortmund, geht auch mit fast 90 immer noch hin.
"Ich war in Auxerre, ich war in Rom, in Manchester mit Jürgen Kohler Fußball-Gott und ich war auch in München." 1997, der BVB gewinnt die Champions-League gegen Juventus Turin, "wo der Ricken das Tor gemacht hat. Lupfen!"
Intensive Erinnerungen bis heute, dabei hat Heinz Hiller auch sonst viel erlebt. "Jugendträume hab ich mir erfüllt, Kilimandscharo bestiegen, Sahara-Durchquerung. Also ich hab so einiges in meinem Leben gemacht und erlebt und getan, immer aktiv gewesen."

Hillers Programmheft jetzt im Fußballmuseum

Einen besonderen Platz in seinem Herzen wird das Finale von Bern von 1954 aber immer haben. Das Programmheft von damals hat er jetzt dem Deutschen Fußballmuseum zur Verfügung gestellt.
Hiller erklärt: "Das liegt zu Hause bei mir rum. Ist natürlich nass, weil es den ganzen Tag geregnet hat. Aber das ist das Original, das hab ich 50 Jahre zu Hause aufbewahrt, auch immer gezeigt den Leuten. Und dann hab ich gedacht, was willst du damit zu Hause?"