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"Wunder von der Grotenburg" jährt sich zum 25. Mal

Es war vor 25 Jahren, in der Saison 1985/86, als der FC Bayer 05 Uerdingen Furore machte. Die damalige Krefelder Werksmannschaft traf im Europapokal der Pokalsieger im Viertelfinale auf Dynamo Dresden. Das Spiel in Sachsen ging 0:2 verloren, am 19. März 1986 kam es zum Rückspiel in der Krefelder Grotenburg-Kampfbahn.

Von Michael Kuhlmann | 19.03.2011
    Dresden hatte im Hinspiel deutlich vorgelegt; doch Wolfgang Funkel, Abwehrspieler von Bayer Uerdingen, hoffte noch auf eine Wende:

    "Wir waren damals enorm heimstark - wir haben sehr, sehr wenige Spiele verloren zuhause."

    Vielleicht noch mehr fieberte man an der Elbe dem Spiel entgegen. Dynamo-Verteidiger Andreas Trautmann:

    "Das waren unsere Highlights, neben dem Alltag in der Oberliga - wenn man das nicht erlebt hat, kann man das auch nicht begreifen, was da in Dresden los war vor so nem Spiel - das ist der blanke Wahnsinn."

    Und schon nach 58 Sekunden stieg die Stimmung in Dresden noch weiter. DDR-Radioreporter Wolfgang Hempel berichtete:

    "Freistoß für die Dresdner, von Pilz hereingetreten - hinten auf der langen Ecke ist Minge da und köpft in der ersten Minute ins Tor! 1:0 für Dynamo Dresden. Ein Sensationsstart - besser konnt's gar nicht gehen!"

    Auch wenn Uerdingen bald ausglich - die erfahrene Dresdner Elf agierte abgeklärt weiter. Der heutige Bochumer Trainer Friedhelm Funkel spielte damals im Uerdinger Mittelfeld:

    "Dynamo hat in der 1. Halbzeit - auch aufgrund dessen, dass wir viel zu euphorisch, viel zu offensiv, viel zu schnell versucht haben, eine Korrektur des Hinspielergebnisses zu erzielen, haben sie uns brutal ausgekontert."

    "Die Stärken waren sicher im Angriffsbereich, wir haben in dieser Saison sehr, sehr viele Tore geschossen in der Meisterschaft,"

    sagt Dresdens Kapitän Hans-Jürgen, genannt "Dixie" Dörner.

    In der 35. Minute machte Libero Hans-Uwe Pilz abermals einen Uerdinger Angriff zunichte. Radio DDR:

    "Jetzt können die Dresdner sogar noch eine Konterattacke führen, am rechten Flügel Kirsten, Achtung, was macht er - nach innen, und Tor! Das 2:1 ist da, Lippmann steht am langen Pfosten und schiebt den Ball ins Netz."

    Dass Linksaußen Frank Lippmann tags darauf in der DDR zum Staatsfeind werden würde, konnte da noch niemand ahnen. Erst einmal bereitete Lippmann noch vor der Halbzeit auch das 3:1 für Dresden vor. Den Uerdingern fehlten jetzt zum Weiterkommen fünf Tore:

    "Wir saßen natürlich in der Kabine mit hängenden Köpfen da und waren uns bewusst: Das können wir nicht mehr drehen!"

    Kurz vor der Pause allerdings war noch etwas geschehen: Der Dresdner Torwart Bernd Jakubowski wurde bei einem Zusammenprall mit Wolfgang Funkel schwer verletzt. Nun musste der unerfahrene Jens Ramme ins Tor:

    "Der Ersatztorhüter hatte sehr viele Schwächen bei hohen Bällen! Und wir hatten sehr viele große Spieler, bei Eckbällen oder bei Freistößen war uns bewusst nach ein paar Minuten, dass der Torwart sehr viele Schwächen hat, und das haben wir dann teilweise auch ausgenutzt."

    Trotzdem hielt Dresden das 3:1, bis zur 57. Minute. Dann aber ging es plötzlich Schlag auf Schlag: Innerhalb von neun Minuten führte Uerdingen 4:3:

    "Dann haben wir in der Tat uns in einen Rausch gespielt, und dann ist es oftmals so, dann hast Du als gegnerische Mannschaft, wenn die andere sich in einen Rausch spielt, überhaupt keine Möglichkeit mehr, da zu reagieren;"

    Und doch hielt Dynamo noch einmal zehn Minuten stand. Dann aber fiel das 5:3, und gleich darauf gab es einen - wenngleich umstrittenen - Handelfmeter. Radio DDR:

    "Und Wolfgang Funkel, der kann jetzt das sechste Tor für Uerdingen machen, und damit wäre der Gastgeber von heute abend im Halbfinale - er läuft an, ich schaue gar nicht hin - da hat Ramme richtig reagiert, ist in die richtige Ecke gesprungen, der Ball aber ist im Tor, und es steht nun 6:3 für Bayer Uerdingen, so sah's zur Pause nicht aus!"

    "Fakt ist eins: dass der Ungar Nemeth ne Stunde lang ordentlich gepfiffen hat - und er ist dann natürlich in dieser Phase, wo wir unter Druck geraten sind, wo die Uerdinger, wo das Publikum noch mal zurückgekommen ist, ist er dann natürlich mit umgeschwenkt auf die Uerdinger Seite. Aber jetzt zu sagen: Der Schiedsrichter hat dieses Spiel entschieden, wäre von unserer Seite ganz einfach vermessen."

    Immerhin- die Mannschaft um Hans-Jürgen Dörner konnte das Ergebnis noch offenhalten. Bis drei Minuten vor Schluss - bis zu den 15 Sekunden des Wolfgang Schäfer. Radio DDR:

    "Jetzt setzt sich ein Mann davon, das ist Schäfer mit Riesensätzen, er wird immer schneller, Dixie Dörner kommt nicht heran, Ramme geht aus dem Tor heraus, er schießt ihn an, und das ist die Entscheidung!"

    Eine bittere Niederlage für die Dresdner. In der folgenden Nacht freilich erlebte der Staat DDR noch eine besondere Demütigung. Und hier kommt der zweifache Torschütze Frank Lippmann wieder ins Spiel:

    "Wir waren auf dem Zimmer mit Bekannten damals, die sich im gleichen Hotel mit einquartiert hatten - Lippmann war dabei und ist dann irgendwann aus dem Zimmer gegangen, und dann haben wir die Nachricht gekriegt, dass er eben das Hotel verlassen hat ... ,"

    erinnert sich Verteidiger Andreas Trautmann - der damals IM der Stasi war. Lippmann selbst schilderte dem ARD-Reporter:

    "Im Prinzip bin ich mit der Mannschaft zurück ins Hotel gefahren und habe dieses dann gegen 2.30 Uhr verlassen - und habe mich dann nach Nürnberg begeben."

    Dynamo-Trainer Klaus Sammer hatte Lippmann nur auf Druck von Dresdner Spitzenfunktionären aus MfS und Volkspolizei aufgestellt. Jetzt aber wurde ausgerechnet Sammer offiziell zum Sündenbock gestempelt, für das verlorene Spiel und auch für die Flucht Lippmanns.
    Das DDR-Staatsfernsehen behandelte die Nacht von Uerdingen auf seine ureigene Weise: Aus der Originalreportage mit dem Zwischenstand 2:1 wurde der Torschütze Lippmann einfach herausgeschnitten:

    " ... und - das Tor zählt! ... ... Und dieses zweite Tor sollte doch nun endlich für Sicherheit sorgen, auch im eigenen Abwehrbereich."

    Ein Tor ohne Torschützen ... Nach seiner Republikflucht gab es somit für die DDR den Menschen Frank Lippmann schlichtweg nicht mehr.