"Ich liebe Wurzen! Es ist eine schöne Stadt, eine ruhige Stadt, aber mit nicht guten Menschen, nicht mit guten Leuten. Nazis."
Amir Hussein Amiri ist 17, vor zwei Jahren ist er mit seinen Eltern und drei Geschwistern nach Deutschland geflüchtet. In Wurzen gefalle es ihm eigentlich gut, sagt er, er habe viele Freunde und arbeitet auf seinen Hauptschulabschluss hin. Aber:
"Wenn wir auf der Straße laufen oder irgendwo einkaufen gehen … wir kennen sie nicht, die sagen einfach zu uns Kanake, Scheiß-Ausländer und so weiter. 'Geh weg aus Deutschland, geh weg aus Wurzen', sagen sie zu uns, und das ist kein gutes Gefühl."
Am Alten Friedhof sitzen die Rechten
Auch angegriffen worden sei er mehrfach schon. Etwa am Bahnhof, wenn er abends nach dem Sport aus Leipzig wieder in Wurzen angekommen sei. Der direkteste Weg in die Stadt führt durch den Alten Friedhof, eine wenige hundert Meter lange Parkanlage. Ein beliebter Treffpunkt. Dort sitzen regelmäßig rechtsextreme junge Männer, sagt Amiri.
"Sie kommen in der Nacht, wenn es dunkel geworden ist, um acht, neun oder zehn Uhr. Wenn es dunkel ist, kommen sie. Aber wenn es hell ist, sind sie weniger dort, weil sie wollen nicht, dass jemand sie erkennt. Sie trinken dort Bier, die hören Musik, und wenn ein Ausländer durchläuft, dann schlagen sie sich vielleicht und sagen schlechte Worte."
Vom alten Friedhof ging eine Auseinandersetzung aus, die Wurzen Anfang des Jahres bundesweit in die Schlagzeilen brachte, auch weil es nicht die erste ihrer Art war. Laut Polizeibericht gerieten im Park am Bahnhof Deutsche und Migranten verbal aneinander, danach verfolgte eine Gruppe Deutscher die Migranten zu deren Wohnung, wo sie unter anderem eine Scheibe einschlugen und auch Bewohner verletzten. Nach weiteren Auseinandersetzungen an dem Abend gab es Verletzte auf beiden Seiten.
Bürgermeister: "Wurzen bildet keinerlei Ausnahme"
Wurzens Oberbürgermeister Jörg Röglin würde gern über den wirtschaftlichen Aufschwung seiner Kleinstadt reden. Aber immer wieder musste er in den vergangenen Wochen erklären, was bei ihm in der Stadt los ist. Röglin, der als unabhängiger Kandidat gewählt wurde und später in die SPD eingetreten ist, sieht sich und seine Stadt zu Unrecht an den Pranger gestellt:
"Und ich glaube das, was an Wurzen immer festgemacht wird, ist einfach, dass wir dort einen Ruf weg haben, aber dass wir dort mitnichten Modellstadt sind oder so. Sondern, dass wir hier schlicht und ergreifend diese Dinge, ja dass die Dinge hier zum Vorschein kommen, dass diese Auseinandersetzungen zum Vorschein kommen. Und ich stehe nach wie vor auf dem Standpunkt, Wurzen bildet dort keinerlei Ausnahme."
Röglin verweist auf den Bericht des Landesamtes für Verfassungsschutz, wonach Wurzen, anders als in den 1990er-Jahren, kein Schwerpunkt der rechtsextremen Szene sei:
"Natürlich gibt es hier Strukturen, die auch gefestigt sind. Und wir kennen auch die ganzen Protagonisten dieser Strömungen. Das kennen wir schon. Unabhängig davon glaube ich, dass die in Wurzen nicht anders sind, als dass von mir aus in Leipzig, woanders in diesem Land auch so sind. Es gibt überall diese Strukturen, die auch so sind."
Die einen nennen es Rassismus, die anderen nicht
Und was ist mit dem Alltagsrassismus, wie ihn Flüchtlinge in Wurzen regelmäßig erleben? Röglin erzählt die Geschichte einer älteren Frau, die ihre neuen Nachbarn aus Eritrea auf die Hausordnung und das Reinigen des Hausflurs hingewiesen habe. In einem vielleicht etwas rustikalen Ton. Er sei sicher, sagt der 47-jährige Familienvater, dass diese Frau ihm gegenüber genauso resolut aufgetreten wäre.
"Ich will damit nicht entschuldigen, wenn auf dem Fußballplatz irgendwie Affenrufe laut werden. Das entspricht nicht meiner Erziehung, das will ich auch in keiner Weise entschuldigen. Wir müssen bloß, was die Rassismusdebatte anbetrifft, mehr Ehrlichkeit an den Tag legen und mal überlegen, was von dem, was wir gegenüber den ausländischen Mitbürgern, sagen und tun, was davon wirklich Rassismus ist, und was davon schlicht und ergreifend sogar eine Mentalitätsfrage ist."
Kein Kilometer ist es von der Stadtverwaltung zum Domplatz, wo in einem teilsanierten ehemaligen Haus des Domkapitels Begrüßungen in mehreren Sprachen hängen. Hier sitzt das Wurzener Netzwerk für demokratische Kultur. Man arbeite mit der Stadtverwaltung zusammen, auch wenn man nicht immer einer Meinung sei, sagt Mitarbeiter Ingo Stange:
"Dieser Alltagsrassismus, wenn man mit Geflüchteten ins Gespräch kommt, und mal danach fragt, hat, glaube ich, jeder und jede hier solche Erfahrungen gemacht. Vielleicht auf verschiedenen Leveln, aber… Und das kann man eigentlich nicht totschweigen. Das sollte man auch so benennen, wenn es Rassismus ist, dann sollte man es auch sagen. Und jetzt nicht irgendwie, ich sage mal herumeiern oder da drumherumreden."
Linke Landtagsabgeordnete: Rechte Szene bekommt Oberwasser
Zu zögerlich seien die Reaktionen des Oberbürgermeisters nach dem Vorfall am 12. Januar gewesen, findet Stange. Er ist sicher, "dass es hier um rassistische Angriffe ging. Mal abgesehen davon, wer wann wen geschlagen hat oder mit Messern verletzt hat, das muss aufgeklärt werden. Aber von vorneherein war für uns klar, in diesem Park, treffen sich Nazis, die schon seit Monaten Flüchtlinge provozieren, angreifen, schlagen."
Die rechtsextreme Szene in der Region habe in den vergangenen zwei Jahren wieder Oberwasser bekommen habe, so sieht es auch die Landtagsabgeordnete der Linkspartei Kerstin Köditz aus der Nachbarstadt Grimma. Sie beobachtet die Szene seit Jahren.
Gewalt richtet sich auch gegen Mitglieder des Netzwerks für demokratische Kultur. Dem Vorsitzenden Jens Kretschmar, der auch für die Linke im Stadtrat sitzt, wurden am Auto die Radmuttern gelöst, der Auspuff verklebt. Oberbürgermeister Röglin und die Vertreter des Netzwerks Demokratische Kultur haben sich gegenseitig öffentlich kritisiert, sich aber inzwischen wieder ausgesprochen. Mehr Absprachen mit der Polizei, mehr Zusammenarbeit in den Schulen, mehr Sozialarbeit, in vielem ist man sich einig.
"Im Moment haben wir in Wurzen keinen Frieden"
Die demokratischen Kräfte in Wurzen wollen an einem Strang ziehen. "Für Offenheit, Miteinander und Vertrauen" unter diesem Motto hatten gestern Stadtverwaltung, evangelische und katholische Kirche zu einem ökumenischen Friedensgebet eingeladen.
"Wir sind wegen Frieden nach Deutschland gefahren", sagt Flüchtling Amir Hussein Amiri. "Aber in diesem Moment haben wir in Wurzen keinen Frieden."