"Siehst du den Berg?" – "Ja" – "Da ist Immenstadt und dann ist der Gegenhang. Da hat der Berg eine Spitze. Oder die Spitze ist keine Spitze, ein Rücken. Und links davon ist so eine schimmerige Fläche. Das ist der Bodensee. Der zieht sich da von links nach rechts, aber rechts sieht man nur geahnt, und dann ganz weit bis Konstanz."
Ein Wahnsinns-Panorama tut sich da auf vor uns, vor meiner Gastgeberin Doro Egenrieder und mir. Wir sind schon fast bis zum Ziel gewandert, bis zum Grüntenhaus. Aber hier, auf einem Plateau, bleiben wir eine Weile stehen, sehen dichte Wälder, grüne Wiesen und Berge, so weit das Auge reicht. Das ist für mich als Flachlandbewohner und Großstädter ungewohnt. Aber auch Doro Egenrieder findet immer noch etwas Besonderes an dem, was sie da vor sich hat.
"Ich muss schon immer staunen und gucken. Und auch wenn man das schon Hunderte Male gesehen hat, entdeckt man irgendwas immer wieder. Ach, der hat ja gemäht da drüben, wieso ist denn der Wald da so eckig abgeschnitten, war das schon immer so? Irgendwas entdeckt man immer. Oder ganz einfach nur die Wetterstimmung. Die ist ja nie gleich. Wolke ist nicht gleich Wolke und Nebel nicht gleich Nebel. Da gibt’s immer was zu gucken."
Viel zu gucken und vor allem zu hören gibt es auch auf den Weiden kurz vor dem Grüntenhaus. Knapp 30 Kühe von Bauern aus der Region sind hier auf der Alpe, also auf Weiden am Hang, die nicht das ganze Jahr über bewirtschaftet werden. Doro Egenrieder und ihr Mann Lutz sorgen als Älpler dafür, dass die Kühe den Sommer über die richtigen Wiesen abfressen, dass sie gesund und vollzählig bleiben.
"Wenn keine Bauern mehr wären, die ihre Rinder auf Alpen schicken würden, dann würden die Wanderer bald keine Aussicht mehr haben. Weil dann würde alles in kürzester Zeit zuwachsen. Und die Älpler sind eben auch die, die halt durchlaufen mit 'ner Zwicke oder mit 'ner Säge und die kleinen Bäume abschneiden, dass das wirklich offen bleibt. Und 'ne gewisse Weideplanung machen, damit halt wirklich jede Weide gescheit abgefressen wird. Manchmal geht man ja auch noch mit einer Sense nach und jagt das Kreuzkraut, wie man so sagt."
Sensen und Kreuzkraut rupfen– das sind dann auch gleich die richtigen Stichwörter für meine Zeit als freiwilliger Helfer rund ums Grüntenhaus. World-Wide Opportunities on Organic Farms, also WWOOF, das ist zum großen Teil harte körperliche Arbeit – was mich als eher unpraktisch veranlagten Büromenschen ganz schön fordert. "Boah, ist das anstrengend. Fast drei Stunden Sensen. So langsam reichts mal echt."
Spätestens in diesem Moment, an einem meiner ersten WWOOF-Tage, noch sehr früh am Morgen, da frage ich mich ernsthaft, was ich hier eigentlich mache, mitten in den Bergen, als Wwoofer, also sozusagen als freiwilliger Öko-Bauer auf Zeit. Aber erstens muss das eben sein mit dem Sensen, und zweitens ist das auch gar nicht so schlimm, meint mein Chef Lutz Egenrieder.
"Das ist 'ne klassische Arbeit für Wwoofer. Und ich denke, Sensen ist auch 'ne ganz schöne Arbeit, wenn man mal in den Rhythmus reinkommt. Hier ist ein gutes Trainingsfeld, aber ich merke, wenn ich's das erste Mal wieder mach, das ist genauso mühsam wie für jeden anderen auch."
Mühsam trifft es ganz gut, man könnte aber auch sagen: sehr, sehr anstrengend. Immer schön aus der Hüfte. Nicht hacken. Sensen! Und nicht an die vielen kleinen Wunden an meiner Hand denken, die nur durch schlechte Sens-Technik kommen. Und auch nicht an das ganze Gras, das ich nicht abgemäht habe, sondern nur plattgedrückt. Praktische Arbeit, die ich noch nie vorher gemacht habe – so sieht am Grüntenhaus zumindest für mich ein großer Teil vom Wwoofen aus, vor allem bei der Heu-Ernte.
Mit Jesse, meinem Mit-Wwoofer aus Australien, mühe ich mich zum Beispiel ganz schön ab, den riesigen Haufen Heu irgendwie in die Scheune zu hieven. "There’s lots of dust in my mouth. And it’s not very fun. I wanna be doing other things at this time." – "But you can’t." – "No, because I have to get the hay inside."
Aber auch wenn wir beide mit dem staubigen Heu zu kämpfen haben und ich genau wie Jesse gerne andere Dinge machen würde: Wir bringen die Arbeit natürlich zu Ende, und sind am Ende stolz darauf. Sowieso hat gerade Jesse schon einiges hinter sich, ist absolut routiniert bei der Sache: Als ich ankomme, ist er schon seit sechs Wochen als Wwoofer im Einsatz, obwohl er eigentlich nur zwei bis maximal vier Wochen bleiben wollte. Verlängert hat Jesse vor allem wegen der Berglandschaft.
"Das absolute Highlight hier war bisher, als ich Gämse fotografiert habe und die wirklich ganz nah rangekommen sind. Das war richtig aufregend. Und bei der Arbeit hatte ich bis jetzt am meisten Spaß da ganz oben auf dem Berg, als wir mit dem Vorschlaghammer Zaunpfähle in den Boden gehauen haben. Da fühlst du dich unglaublich stark, während du da auf dem Berggipfel die Pflöcke reinrammst und siehst, wie rundherum die Sonne untergeht."
Der Sonnenuntergang war aber nicht der eigentliche Beweggrund, warum Jesse als Wwoofer ins Grüntenhaus gekommen ist. Eher, dass man als Wwoofer seine eigene Arbeitskraft tauscht gegen ein Bett und Verpflegung, und nur die Anreise selbst bezahlen muss.
"Ich wollte ganz einfach erstmal Geld sparen, um länger in Europa bleiben zu können. Wenn du von einem Ort zum anderen reist, tauchst du nie wirklich in die Kultur eines Landes ein, bleibst immer außen vor, an der Oberfläche. Aber beim Wwoofen klappt das, da bin ich eingetaucht in die deutsche Kultur."
Aber auch wer im eigenen Land wwooft, kann eintauchen in etwas ganz anderes, etwas das dann wie in meinem Fall nichts zu tun hat mit hektischer Großstadt, mit Büro, mit Alltag. Wobei auch am Grüntenhaus manchmal einiges los ist, vor allem am Wochenende, wenn die Wanderer ins Grüntenhaus kommen, um einzukehren oder gleich dort bleiben für eine Nacht. Trotzdem ist alles viel ruhiger und dreht sich um ganz andere Dinge als sonst; nämlich vor allem um die Landwirtschaft. Aber bis die Wwoofer, also in den meisten Fällen Stadtmenschen, auf diesem Gebiet eine wirkliche Hilfe sind, vergeht etwas Zeit; weil sich die meisten erst an die ungewohnten Aufgaben gewöhnen müssen - meint meine Chefin Doro, als wir gerade zusammen nach den Kühen schauen.
"Manchmal muss man mehr erklären als man selber so gleich, fällt einem nicht auf, dass man das erklären müsste. Weil du einfach sagst: Du nimmst einen Eimer, gehst und machst das. Und dann steht er da und weiß überhaupt nicht, was er machen soll. Weil er erstens die Pflanze nicht kennt, die er da holen soll. Oder dass mal einer einen Elektrozaun auf eine Art zugemacht hat, dass wir den nicht mehr aufgekriegt haben."
Die meisten Arbeiten als Wwoofer sind dann aber doch relativ simpel. Wobei man auch erstmal wissen muss, was die sieben Schafe und die 20 Hühner so brauchen oder dass man sich von den drei forschen Zwergziegen nicht alles bieten lassen muss.
Im Stall die Hinterlassenschaften der Kühe wegzuschippen braucht dann aber wirklich keine weitere Erklärung…
…eine kranke Kuh ist auch schnell versorgt mit frisch gesenstem Gras…
…und selbst das Kreuzkraut erkenne ich irgendwann gefühlt aus 100 Metern Entfernung und steche dann wirklich nur die giftige Pflanze raus und nicht auch noch den halben Berg dazu. Am Ende habe ich mich gut gewöhnt ans Wwoofer-Sein, ans Leben auf dem Grünten; ans angenehme Kaputt-Sein am Abend, und natürlich an diese beeindruckende Bergkulisse. Und dass man sich gerade daran sehr schnell und sehr gut gewöhnen kann, das bestätigt an meinem letzten Abend dann auch meine Gastgeberin Doro Egenrieder noch einmal.
"Ganz oft, wenn richtig viel los war am Wochenende und endlich am Abend alles geputzt ist, dann sitze ich am Abend in der Gaststube am Fenster und gucke Richtung Sentis. Aber das kann ich dann locker anderthalb Stunden machen, und mir dann drüber Gedanken machen, ob jetzt die Nacht von links kommt oder ob rechts der Tag geht. Das kann ich ziemlich lange zugucken. Und da geht der Mond gerade auf. Und da die Sonne unter. Was willst du mehr? Brauchst keinen anderen Platz mehr."