Am frühen Morgen, etwa zwischen sechs Uhr und sieben Uhr, beginnt Xaver Bayer seinen Tag. Nach dem Morgentee begibt er sich, weil er zu Hause nicht schreiben mag, auf die Straße. Und weil es in Wien kaum ein Lokal oder Café gibt, das am frühen Morgen geöffnet hätte und zudem keine laute Musik spielt, sucht sich Bayer "Unorte des Schreibens", wie er sagt: Tankstellen, Krankenhäuser, Gerichtskantinen, Trambahnen Schnellrestaurants - Orte, zu denen er zufällig gelangt.
"Dann habe ich in die Gegend geschaut und gewartet, bis mir irgendetwas aufgefallen ist. Und dann habe ich begonnen zu schreiben, ohne zu wissen, wohin mich das führt. Das habe ich über ein Jahr fast täglich gemacht. Ich habe mir dann im Nachhinein gedacht, dass es so etwas ist wie in der Musik die Free-Jazz-Improvisationen. Man fängt mit irgendetwas an und schaut, was dieser - in dem Fall - Ton oder Schwingung oder Gefühl mit einem macht, wohin es einen trägt. Und im besten Fall bin ich dann in eine Stimmung hineingekommen, in der dann ein Text entstehen kann, der auch nachher noch Bestand hat."
So führt uns Bayers Erzähler in den 111 Prosa-Miniaturen des Bandes "Geheimnisvolles Knistern aus dem Zauberreich" von der Bühne des Stadttheaters, auf der er sich unbemerkt unter die Schauspieler mischt, bis hin zum Supermarkt, in dem er sich in ein Werbemaskottchen verwandelt. Wir folgen diesen Ich-Instanzen in unterschiedliche Zeit- und Raumdimensionen, nehmen Teil an verschlungenen Reisen durch tagträumende Bewusstseinszustände und halluzinierende Assoziationsströme, die jede Ordnung der Welt zu zerreißen scheinen.
Zitat aus dem Buch:
"Mein Bankberater trägt heute ein groß kariertes Sakko. Das und seine schwarz gefärbten Haare lassen ihn wie einen ausrangierten Zirkusclown aussehen. Ich bin versucht, unter den Tisch zu blicken, ob Sägespäne an seinen Schuhen kleben. Ob die Narbe auf seiner Wange von einem Peitschenschlag des Dompteurs herrührt? Womöglich wegen der Seiltänzerin? Es ist keine leichte Arbeit, Clown zu sein, wie Zirkus insgesamt ein hartes Brot ist. Trotzdem reizt es mich, meinen Berater zu bitten, auch eine Stelle für mich in diesem Zirkus zu organisieren. Ich könnte die Manege kehren, die Kamele füttern, den Löwenkäfig entmisten. Sicher täte mir der Löwe leid. Ob der Zirkus auch einen Hungerkünstler beschäftigt? Ich könnte ihn heimlich mit Essen versorgen. Ich male mir aus, wie ich mit ausgeklügelten Methoden Leckerbissen in seinen Käfig schmuggle und ihn so, zum Erstaunen des irregeführten Publikums, monate-, gar jahrelang am Leben erhalte. Das heißt, wenn er mitspielt."
"Mein Bankberater trägt heute ein groß kariertes Sakko. Das und seine schwarz gefärbten Haare lassen ihn wie einen ausrangierten Zirkusclown aussehen. Ich bin versucht, unter den Tisch zu blicken, ob Sägespäne an seinen Schuhen kleben. Ob die Narbe auf seiner Wange von einem Peitschenschlag des Dompteurs herrührt? Womöglich wegen der Seiltänzerin? Es ist keine leichte Arbeit, Clown zu sein, wie Zirkus insgesamt ein hartes Brot ist. Trotzdem reizt es mich, meinen Berater zu bitten, auch eine Stelle für mich in diesem Zirkus zu organisieren. Ich könnte die Manege kehren, die Kamele füttern, den Löwenkäfig entmisten. Sicher täte mir der Löwe leid. Ob der Zirkus auch einen Hungerkünstler beschäftigt? Ich könnte ihn heimlich mit Essen versorgen. Ich male mir aus, wie ich mit ausgeklügelten Methoden Leckerbissen in seinen Käfig schmuggle und ihn so, zum Erstaunen des irregeführten Publikums, monate-, gar jahrelang am Leben erhalte. Das heißt, wenn er mitspielt."
Reisen durch eine Traumwelt
Xaver Bayer bewegt sich mit seinen fabulierenden Erzählinstanzen, mit verzweigten Wahrnehmungsketten und -dimensionen auf dem schmalen Grat zwischen absichtsvoller Täuschung des Lesers und kunstvoller Verzerrung der Wirklichkeit. Nicht umsonst stellt er seiner Prosasammlung ein Zitat aus dem Sacro Bosco, dem "Heiligen Wald" bei Rom voran. Ein mittelalterlicher Skulpturenpark, der den Betrachter bis heute im Unklaren lässt, ob dieser es mit Grotesken, mit Kunst oder mit mythischem Zauber zu tun hat. Xaver Bayer umgibt sich gern mit dem Rätselhaften, dem Uneindeutigen. Seine Ich-Instanzen oszillieren zwischen triefendem Hass und kindlicher Freude, zwischen Gotthaftigkeit und Selbst-Auslöschung. Das erzählende Ich sei dabei bloß ein Mensch unserer Zeit, der mit den Problemen unserer Zeit, mit diesem Rätsel namens Wirklichkeit zu kämpfen habe.
"Das Glück ist sicherlich, wenn man das Rätsel in sich trägt, dass das der Motor, die Quelle ist für das kreative Tun. Ich sehe das aber nicht ganz so, dass das erzählende Ich an Sinnlosigkeit leidet. Sondern ich sehe das eher, dass es sich mit einem Problem konfrontiert sieht, mit der zunehmenden Unwirklichkeit der Welt zurande zu kommen, also mit dem Phänomen, dass einem die Wirklichkeit immer absurder vorkommt."
Was diese "Unwirklichkeit der Welt" ausmacht und inwiefern das Leben in der Parallelwelt eine echte Alternative ist, das bleibt stets im Wagen. Er sei ein Medium von zugetragenen Geschichten und Erlebnissen, die er mit einer ordentlichen Portion Xaver Bayer versehe und zu Papier bringe, sagt Bayer. Das ist für einen Schriftsteller nicht wirklich ungewöhnlich. Nach der kunstvollen Zerstörung einer kohärenten Realitätswahrnehmung, nach freilich sehr fantasiereichen und oft genug äußerst amüsanten Reisen durch Bayers Traumwelt stellt sich dem Leser am Ende doch die Frage: Was hält diese Textsammlung zusammen? Haben Bayers Gedankenreisen ein Ziel abseits der Feststellung, dass die Mainstream-Realität äußerst unbefriedigend ist und sabotiert werden muss?
"Zum einen dass man durch das Schreiben auf Dinge kommt, die einen selbst betreffen. Die schriftliche Selbstbeobachtung führt einen schon weiter. Zum anderen habe ich schon den Impetus, mit meiner Literatur etwas bewirken zu wollen. Wie, möglicherweise: Die Tochter der Frau eines Politikers findet dieses Buch in ein paar Jahren in einer Ramschkiste, kauft es für einen Euro, liest es und ist von irgendetwas darin so angetan, dass sie beginnt, darüber nachzudenken. Dann gibt sie es ihrer Mutter, und die ist vielleicht genauso angetan und beeinflusst ihren Mann, der wiederrum Entscheidungen zu treffen hat. Das wäre vielleicht eine konkrete Möglichkeit, aber vielleicht ist das auch nur eine Wunschvorstellung."
Wacher Blick für's Detail
Zitat aus dem Buch:
"Meine Gedanken haben heute einen unverbindlichen Plauderton. Sie folgen mir wie eine Schar Schulkinder, denen ein Ausflug in den Vergnügungspark versprochen worden ist. Ich liebe es, wie sie, manche Hand in Hand, mit ihren bunten Jacken und Jausenbeuteln, sich tummeln und zur Geduld ermahnt werden müssen. Eines von ihnen hat diese Brillen, bei denen das eine Glas zugeklebt ist. Ein anderes hat ein verdrehtes Bein und humpelt. Das Haar eines Mädchens ist kurz geschoren, weil es Schuppenflechte hat. Ein anderes trägt ein Hörgerät und wirkt immer ein bisschen verloren. Zusammen durchschwärmen wir die Stadt, und die Blicke der Liebenden fliegen uns zu wie zahme Jungvögel, die gestreichelt werden wollen."
"Meine Gedanken haben heute einen unverbindlichen Plauderton. Sie folgen mir wie eine Schar Schulkinder, denen ein Ausflug in den Vergnügungspark versprochen worden ist. Ich liebe es, wie sie, manche Hand in Hand, mit ihren bunten Jacken und Jausenbeuteln, sich tummeln und zur Geduld ermahnt werden müssen. Eines von ihnen hat diese Brillen, bei denen das eine Glas zugeklebt ist. Ein anderes hat ein verdrehtes Bein und humpelt. Das Haar eines Mädchens ist kurz geschoren, weil es Schuppenflechte hat. Ein anderes trägt ein Hörgerät und wirkt immer ein bisschen verloren. Zusammen durchschwärmen wir die Stadt, und die Blicke der Liebenden fliegen uns zu wie zahme Jungvögel, die gestreichelt werden wollen."
Was an Bayers Texten überzeugt, ist der äußerst wache Blick für's Detail, die zum Teil geradezu empathischen Beschreibungen kleinster Alltagssituationen und ein beeindruckendes Reservoir an Fantasie. Ob diese labyrinthischen Reisen durch die eigene Wahrnehmung ein Ziel haben, oder ob es allein um das Sich-Entfernen geht, wieso man diese Reisen eigentlich antritt und welche Erkenntnisse oder auch nur Fragen sie aufwerfen - das bleibt leider oft genug im Dunkeln. So erscheinen viele von Bayers Miniaturen wie bloße literarische Fingerübungen. Immerhin lässt sich an ihnen ablesen, wie allein die poetische Kraft der Sprache eine ansonsten geheimnisvoll im Ungefähren bleibende Prosa über das "Zauberreich" zusammenhält.
Xaver Bayer: Geheimnisvolles Knistern aus dem Zauberreich. Jung und Jung, August 2014, 204 Seiten