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Yanis Varoufakis
Der Minotaurus "Wall Street"

Yanis Varoufakis ist der neue Finanzminister Griechenlands. Seinen Blick auf die Finanzwelt legte der Professor für Wirtschaftswissenschaften in seinem Buch "Der globale Minotaurus" nieder, das 2012 in Deutschland erschien. Darin präsentiert Varoufakis eine bemerkenswerte und inspirierende Interpretation globaler Finanzkrisen.

Von Mirko Smiljanic | 02.02.2015
    Yanis Varoufakis steckt lachend ein Blatt Papier in die Innentasche seiner Jacke.
    Der neue griechische Finanzminister Yanis Varoufakis. (picture alliance / dpa / Yannis Kolesidis)
    Minos, ein Sohn des Zeus, bat Poseidon als Zeichen seiner Königswürde um ein Wunder. Er versprach, was auch immer er ihm schicke, er werde es dem Meeresgott opfern. Poseidon sandte ihm daraufhin einen prächtigen Stier. Der gefiel Minos jedoch so gut, dass er ihn leben ließ und stattdessen ein minderwertiges Tier opferte. Poseidon - über den Verrat erbost - verwünschte daraufhin Minos' Frau Pasiphaë: Sie verliebte sich in den Stier und gab sich ihm hin. Mit dramatischen Folgen: Neun Monate später gebar sie Minotaurus, ein Ungeheuer, dem die Athener blutigen Tribut zollen mussten.
    "Die Metapher vom Globalen Minotaurus kam mir während endloser Gespräche mit Joseph Halevi über das, was die Welt nach den Wirtschaftskrisen der 1970er-Jahre bewegte. Dabei kristallisierte sich allmählich eine kohärente Sicht des Weltwirtschaftssystems heraus, in der die amerikanischen Defizite eine zentrale und auf paradoxe Weise beherrschende Rolle spielten. Der Trick dabei war, zu verstehen, wie Amerika das anstellte und auf welche tragische Weise der Erfolg dieser Strategie die amerikanische Vorherrschaft stärkte und zugleich die Saat zu ihrem möglichen Ende legte."
    Eine Ahnung vom Ende war der Crash von 2008. Was war geschehen? War die Globalisierung unbeherrschbar geworden? Die Gier der Broker grenzenlos? Natürlich war das so, aber aus Sicht des Ökonomen und heutigen griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis spielte das nur eine untergeordnete Rolle. Scharfzüngig beschreibt er in seinem Buch "Der globale Minotaurus" ein anderes Szenario. Seit die internationale Währungsordnung mit ihrer Bindung an den US-Dollar - das "Bretton-Woods-System" - Anfang der 1970er-Jahre zusammenbrach, kletterten das Haushaltsdefizit des amerikanischen Staates und das Handelsbilanzdefizit der amerikanischen Wirtschaft unaufhaltsam. Folge: Die Wall Street brauchte immer mehr Geld.
    "Angetrieben durch das doppelte Defizit Amerikas, spuckten die führenden Überschussökonomien der Welt (Deutschland, Japan und später China) Güter aus, und die Amerikaner verschlangen sie. Fast 70 Prozent der Gewinne, die diese Länder weltweit einstrichen, wurden dann in Form von Kapitalströmen an die Wall Street zurück in die Vereinigten Staaten transferiert."
    Je mehr Tribute an den Minotaurus "Wall Street" flossen - das Geld also billig war - desto weniger konkurrenzfähig wurden die Vereinigten Staaten. Alles finanzierten sie auf Pump: die Einfamilienhäuser im Mittleren Westen ebenso wie die Kriege in Afghanistan und im Irak.
    "Solange ‚der Globale Minotaurus' sich robuster Gesundheit erfreute, hielt ‚er' die Weltwirtschaft in einem Zustand des ausgeglichenen Ungleichgewichts. Aber als das unausweichliche Schicksal ‚ihn' ereilte und ‚er' 2008 in einen komatösen Zustand verfiel, stürzte die Welt in eine schwelende Krise."
    Nur wenige wirtschaftswissenschaftliche Bücher sind so eloquent, bissig und verständlich geschrieben, wie "Der globale Minotaurus". Auf knapp 300 Seiten präsentiert Varoufakis eine bemerkenswerte Interpretation globaler Finanzkrisen. Er geht zurück auf den Schwarzen Freitag von 1929, zeigt im Detail, wie die USA mit dem Bretton-Woods-System die weltweiten Einkommensunterschiede für sich nutzten, und er bietet mit dem "Überschussrecycling" eine erste Lösung.
    "Im Allgemeinen besteht jedes ökonomische System aus Einheiten, die eher Überschüsse produzieren, und anderen, die eher Defizite erzeugen. Damit das System im Gleichgewicht bleibt, muss es Mechanismen zum Überschussrecycling haben, die dafür sorgen, dass die Überschüsse von der Zukunft in die Gegenwart fließen, von den städtischen Zentren in die ländlichen Gebiete, von den entwickelten Regionen in die weniger entwickelten und so weiter."
    Vergleichbares schlägt Varoufakis auf internationaler Ebene vor - womit er bei den Eurobonds und dem Schuldenschnitt wäre. Darüber wird Griechenlands Finanzminister in den kommenden Wochen mit seinen EU-Kollegen diskutieren. Außerdem geht der Kampf gegen den waidwunden Minotaurus weiter: Ohne eine grundsätzliche Systemkorrektur sei der nächste Crash nur eine Frage der Zeit.
    "Vielleicht wird der Tod unseres Minotaurus Jahrhunderte später die Dichter und Mythenbildner inspirieren, sein Ende als Beginn eines neuen, authentischen Humanismus zu schildern."
    Durchaus möglich, dass Yanis Varoufakis - wir schauen zurück auf die Mythologie - dabei die Rolle des attischen Königssohns Theseus übernimmt. Er wollte den in einem Labyrinth eingesperrten Minotaurus töten, wagte sich aber erst in den Kampf, als Minos' Tochter Ariadne ihm ein Garnknäuel schenkte, mit dem er den Weg zurück zum Ausgang fand. Wer übernimmt in diesem Drama die Rolle der Königstochter? Angela Merkel? Ein rundum inspirierendes und empfehlenswertes Buch!
    Yanis Varoufakis: "Der globale Minotaurus. Amerika und die Zukunft der Weltwirtschaft", Verlag Antje Kunstmann, aus dem Englischen von Ursel Schäfer, 288 Seiten, 19,95 Euro, ISBN: 978-3-88897-754-1.