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Yasmina Reza
"Die Beobachtung winziger Wirklichkeiten"

Die Französin Yasmina Reza ist derzeit die in Deutschland meistgespielte Dramatikerin. Doch schreibt sie auch Romane. In ihrem Bestseller "Glücklich die Glücklichen" gibt es nur Ich-Erzähler, 18 an der Zahl. Dazu habe sie sich "vollkommen aufgesplittert", sagte sie im Deutschlandfunk.

Yasmina Reza im Gespräch mit Christoph Vormweg |
    Die französische Autorin Yasmina Reza
    Die französische Autorin Yasmina Reza (dpa / pa / Peer Grimm)
    Christoph Vormweg: Madame Reza, in Ihrem Roman "Glücklich die Glücklichen" gibt die Schauspielerin Loula Moreno an einem Morgen ein Interview in einer Bar. Sie hat eine Nacht in Rage verbracht, weil sie auf ihren Liebhaber Darius eifersüchtig ist. Also bestellt sie Wodka. Von dem Moment an, wo ihr Liebhaber mit einer anderen Frau in der Bar erscheint, wird das Interview immer absurder. Erinnern Sie sich daran, was Sie zu dieser Episode inspiriert hat? Oder ist sie frei erfunden?
    Yasmina Reza: Sie sind der Erste, der mich das fragt. Nein, sie ist nicht frei erfunden. Aber mehr kann ich dazu nicht sagen.
    Vormweg: Dann also eine etwas unverfänglichere Frage: Warum haben Sie den Titel "Glücklich die Glücklichen" gewählt?
    Reza: Ich kannte seit Ewigkeiten dieses Gedicht "Apokryphes Evangelium" von Borges. Die Schlusszeile lautet "Glücklich die Glücklichen". Aber ich konnte mich nicht daran erinnern, an was sie anschließt. Also habe ich mir gesagt: Ich muss das nachschlagen. Und so habe ich die beiden Zeilen gefunden: "Glücklich die Geliebten und die Liebenden / und die auf die Liebe verzichten können". Und das war genau mein Thema. So wie ich es verstehe, sagt das Gedicht von Borges, dass die Fähigkeit, glücklich zu sein, eine Veranlagung ist. Sie hängt nicht von den Umständen ab. Das passte, wie mir schien, genau zu dem Buch. Und deshalb habe ich diese Formulierung auf der Stelle übernommen.
    Vormweg: Gibt es für Sie Glückliche in Ihrem Roman?
    Reza: Ich denke, es gibt keine durchgängig glücklichen Figuren in meinem Buch – genauso wenig wie im Leben. Es gibt Momente der Freude. Glück ist etwas sehr instabiles – wie alle Affekte. Ich bin aber überzeugt, wenn man das Buch wirklich danach absuchen würde, fände man viele Nischen des Glücks. Jedenfalls ist keine meiner Personen völlig glücksuntauglich.
    Gleiche Konzepte, unterschiedliche Produkte
    Vormweg: Madame Reza, welche existenziellen Momente reizen Sie am meisten als Romanautorin und als Dramaturgin? Vielleicht gibt es da ja einen Unterschied.
    Reza: Nein, ich würde nicht sagen, dass es da einen Unterschied für mich gibt. Ich positioniere mich nicht entweder als Theaterautorin oder als literarische Autorin. Ich habe immer das Gefühl, mehr oder weniger dasselbe zu machen mit dem Material – nur mit unterschiedlichem Endprodukt. Was die Figuren betrifft, habe ich im Grunde keine abweichende Konzeption. Ich glaube, es gibt zwei existenzielle Konstanten. Zum einen ist da die Einsamkeit. Ich rede hier nicht von Menschen, die allein auf einer Insel leben oder physisch einsam sind. Mich interessiert es zu beobachten, wie sich gesellschaftlich total eingebundene, also außerordentlich soziale Wesen einsam fühlen, einsam sind. Denn ich glaube, dass wir einsam sind, egal, was für Bindungen wir aufbauen. Zum einen ist also das Thema Einsamkeit allgegenwärtig. Zum anderen geht es um die Unfähigkeit, seine Nerven im Griff zu behalten. Ich schreibe immer über entschlossene Figuren, die nie ausbrechen, die aber trotzdem - aufgrund ihrer Nervosität, ihrer Impulsivität - Gefahr laufen, die Kontrolle zu verlieren. Ich schaffe Wesen, die so ein Naturell haben.
    Vormweg: Ihr Roman "Glücklich die Glücklichen" ist ein Roman in 18 Perspektiven, wenn ich richtig gezählt habe. Man könnte auch sagen: ein Roman, der in hoch konzentrierter Weise 18 Autobiografien in der Ich-Form erzählt. Warum haben Sie eine solche Multi-Perspektivität in der ersten Person gewählt?
    Reza: Ich habe mich vollkommen aufgesplittert. Aber da ich den Eindruck habe, mich in alle von mir entworfenen Figuren aufzusplittern, glaube ich, keine einzige Figur beschrieben zu haben, die nicht mehr oder weniger "ich" bin. Und vielleicht liegt hier ja auch die Beschränktheit des Schriftstellers, ich weiß es nicht. Ich habe den Eindruck, durch mich hindurch ein großes Puzzle zu schaffen. Die Form dieses Buchs ist im Grunde von Fernsehserien inspiriert. Ich mag solche Serien furchtbar gern, am liebsten amerikanische, weil sie am verblüffendsten sind, aber auch skandinavische. Sie erzählen nach dem Muster der Feuilletonromane der großen russischen Autoren eine Geschichte mit zahlreichen Figuren, die zu einer bestimmten Zeit verschiedene Dinge erleben. Ich fand, das ist eine sehr interessante Art zu erzählen: Jemand berichtet bestimmte Dinge aus seinem Blickwinkel – und dann ändert man diametral die Perspektive, indem man den sprechen lässt, der vorher von dem anderen beurteilt worden ist - und der auch noch über die Art und Weise nachdenken kann, wie er von dem anderen gesehen wurde. Das ist sehr selten in einem linearen Roman. Und zudem ist es sehr amüsant, eine Figurenkonstellation zu beschreiben.
    Kunst des Dialoges
    Vormweg: Ihr Roman spielt im bürgerlichen, oft jüdischen Pariser Milieu. Warum haben Sie dieses Milieu gewählt?
    Reza: Das Milieu ist ganz und gar nicht gleichförmig in meinem Buch. Das ist schon sehr sonderbar, dass ich oft lese: bürgerliches, ja großbürgerliches Milieu. Es gibt eine Arzthelferin, die offenkundig sehr bescheidener Herkunft ist, einen Spieler, der nicht aus diesem Milieu stammt, sondern aus dem Norden, es gibt mehrere Figuren aus Arbeiterverhältnissen, dann Großbürger, Industrielle. Soziologisch ist die Herkunft sehr verschieden, auch wenn die meisten Personen aus dem Middle-Class-Bürgertum kommen, in dem ich lebe. Das ist viel einfacher, über sein eigenes Milieu zu schreiben, weil man es versteht, die Leute zum Sprechen zu bringen. Man weiß einfach besser, wie sie sprechen, wie sie Sprache artikulieren. Da ich viel mit der Kunst des Dialogs arbeite, muss ich die Sprache bis in die allerletzten Feinheiten verstehen. Wenn ich mein Milieu verlasse, was ich oft tue, muss ich wirklich recherchieren: mit dem Ohr, durch die Begegnung mit den Leuten – um ihr Vokabular kennenzulernen, ihre Ausdrucksweise. Denn sonst wirkt das sehr leicht falsch. Und ich glaube, für den Übersetzer ist das eine der Finessen in meiner Schreibweise, die er wirklich orten muss.
    Vormweg: Sie haben einmal in einem Interview gesagt, dass Sie die Spuren in der menschlichen Komödie wie eine Insektenforscherin verfolgen.
    Reza: Ja, weil ich die Kleinigkeiten ins Auge fasse. Ich schaue mit ein Paar Schuhe an, den Inhalt eines Einkaufswagens, einen Stuhl – ich betrachte Bestandteile des Lebens, die wirklich extrem banal sind, bei denen man sich normalerweise nicht aufhält. Wenn man über wichtige Dinge reden will, dann redet man über die Gesellschaft, über den Krieg, über den Tod. Das ist nicht mein Ding. Natürlich kommt das in dem, was ich schreibe, vor. Aber auf zweiter Ebene. Die erste Ebene ist für mich die Beobachtung winziger Wirklichkeiten. Deshalb schreibe ich auch im Präsens. Ich nehme mir eine sehr einfache Situation vor, wo gar nichts passiert. Aber ich analysiere sie in ihren Verzweigungen. Ich beobachte die Gegenwart fast schon mit einer Lupe.
    Vormweg: Madame Reza, mit welchen Mitteln bringen Sie die komischen Seiten im Leben Ihrer Protagonisten zum Vorschein? Ich mag zum Beispiel besonders gern einen Satz wie: "Papa ist sehr glücklich in der Brève." - also in dem Fluss, in dem sich seine Asche befindet.
    Reza: Das fliegt mir zu. Dafür muss ich mich nie anstrengen. Auch mich bringt dieser Satz zum Lachen. Aber ich weiß, dass er wahr ist. Ich weiß, dass man das so sagen, dass er jemandem ganz spontan so rausrutschen kann. Sie werden bei mir niemals, auch nicht in meinen Theaterstücken, den Wunsch finden, dass ich vorsätzlich zum Lachen bringen will. Die Figur lacht über sich selbst, sagt einen alltäglichen Satz in einem bestimmten Kontext. Oft sind das stark geraffte Sätze, so wie dieser hier, Sätze, die eigentlich viel kompliziertere, vielsagendere, umfassendere Dinge ausdrücken wollen. Und die Raffung bringt zum Lachen. Wenn man sagt "Papa ist sehr glücklich in der Brève", dann steht dahinter, dass es sein letzter Wille war, dass seine Asche dort verstreut wird. Aber "Papa ist sehr glücklich in der Brève" ist schneller, stärker, frappierender. Und das ist lustig. Im täglichen Leben bin ich so. Ich habe die Fähigkeit, über so gut wie alles zu lachen. Sehr schnell. Meine Figuren ähneln mir auf dieser Ebene.
    "Nicht besonders diszipliniert"
    Vormweg: Jeder Schriftsteller hat seine Gewohnheiten. Wie organisieren Sie im Alltag Ihre kreativen Phasen?
    Reza: Nun, alles andere als Schreiben ist schon mal besser. Wenn man mir etwas Interessanteres vorschlägt, schreibe ich nicht. Ich bin nicht besonders diszipliniert. Ich bin nicht zum Schreiben verdammt. An trüben Tagen, wo nichts anders ansteht, schreibe ich etwa von halb drei bis halb acht. Aber es kommt auch vor, dass ich auf einem Flughafen in ein kleines Notizbuch schreibe, in einem Bahnhof, auf Reisen. Es gibt da keine wirkliche Disziplin. Und ich schreibe nicht sehr oft.
    Vormweg: Von welchem Moment an sind Sie zufrieden mit einem Prosatext?
    Reza: Niemals. Ich habe einmal gelesen - ich weiß nicht, von wem das ist, aber ich stimme dem völlig zu: Ein Buch ist abgeschlossen, wenn es einen anwidert. Es gibt den Punkt, wo Sie nicht mehr können. Sie haben das Maximum gegeben. Und voilà: Es ist abgeschlossen. Denn Sie können es nicht mehr besser machen.
    Vormweg: Letzte Frage: Haben Freunde von Ihnen Angst davor, sich eines Tages in Ihren Texten wiederzufinden?
    Reza: Nein, denn sie finden sich da alle wieder, aber unkenntlich gemacht und liebenswürdig. Ich verrate niemanden.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Yasmina Reza: Glücklich die Glücklichen.
    Roman. Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Hanser Verlag, München 2014, 176 Seiten, 17,90 Euro