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Yishai Sarid: "Monster"
Das Virus der Erinnerung

Trotz Erinnerungspolitik schwindet das historische Bewusstsein - das ist der Kern des Romans "Monster" des israelischen Autors Yishai Sarid. Die These seines Protagonisten: Die heutige junge Generation ist nicht imstande, eine humanistische Lehre aus dem Holocaust zu ziehen.

Von Sigrid Brinkmann |
Zu sehen ist der Autor Yishai Sarid und sein Roman "Monster".
Organisiertes Gedenken mit gespaltenen Gefühlen (Autorenfoto: Daniel Tchechik/ Cover: Kein und Aber)
Yishai Sarids Protagonist ist ein Historiker, der liebend gern die Alte Geschichte erforscht hätte. Er gab seinen Wunsch auf, nachdem ihm ein Universitätsdekan zu verstehen gegeben hatte, dass "die einzige realistische Möglichkeit, als Historiker in Israel zu leben" eine Spezialisierung im Fach Holocauststudien sei. Da der Protagonist mit Frau und Kind in Tel Aviv leben möchte, willigt er ein. Nun rekapituliert er in Briefform, wie er sich wider Willen mit dem "Virus der Erinnerung" infizierte. Sein Adressat ist der Direktor der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem. Sarid nennt ihn den "offiziellen Repräsentanten der Erinnerung".
"Der Holocaust ist eine stark prosperierende Branche. Es gibt jede Menge Stipendien für dessen Erforschung und Aufmerksamkeit ist gesichert. Der Holocaust hat sich mehr und mehr in unseren Seelen eingenistet, er ist Teil der kollektiven israelischen Psychologie geworden und das auf seltsame Weise."
Sarids Protagonist führte im Auftrag von Yad Vashem israelische Schülergruppen über Friedhöfe, durch einst jüdische Wohnviertel und die Konzentrations- und Vernichtungslager in Polen. Nachvollziehbar beschreibt Sarid das Unbehagen, das den Historiker packt, wenn er an die Jugendlichen denkt, die übermüdet zwischen Grabsteinen umhertappen und selbst vor dem Krematorium nicht von ihren Smartphones lassen können. Der Autor erinnert sich an gespaltene Gefühle, die ihn bei seiner ersten organisierten Reise zu den Konzentrationslagern bewegten.
Stärke als Lehre des Holocaust
"1983 war ich mit einer Jugenddelegation in Polen. Ich war 17 Jahre alt. Wir haben an den Gedenkfeiern zum 40. Jahrestag des Warschauer Ghettoaufstandes teilgenommen. Wir waren die ersten Jugendlichen, die nach Polen geschickt wurden. Man hat uns Auschwitz und andere Lager gezeigt. Als Jugendlicher kann man das nicht verkraften. Es ist einfach zu furchtbar. Gleichzeitig bedeutete diese Reise für uns eine Unterbrechung des Schuljahres. Wir wollten auch Spaß haben. Erwachsene Begleiter haben immer Angst, dass die Jugendlichen aus dem Hotel abhauen, Wodka trinken und Krach machen, was ja irgendwie nachvollziehbar ist. Die einzige Lektion, die man als junger Mensch von einer solchen Reise mitnimmt, lautet: Du musst stark, stark, stark sein."
Zu zeigen, wie sehr sich die Erinnerungspolitik und das geschichtliche Bewusstsein entkoppelt haben, ist Dreh- und Angelpunkt des Romans "Monster". Yishai Sarid treibt den Gedanken, dass die heutige junge Generation nicht imstande sei, eine humanistische Lehre aus dem Holocaust zu ziehen, auf die Spitze. Aufgefordert, den Erkenntnisgewinn der Lagerbesichtigungen zu resümieren, lässt er einen Jugendlichen antworten:
"Ich denke, zum Überleben müssen wir auch ein bisschen Nazis sein. (...) Die Lehrer taten schockiert und warteten darauf, dass ich die Drecksarbeit für sie erledigte, das Ungeheuer anging, das sie und seine Eltern großgezogen hatten."
Der Autor zeigt, dass der konstante Appell, für die Wehrhaftigkeit des Staates Israel einzutreten, das moralische Urteilsvermögen schwächt und sogar eine Verrohung von Denken, Fühlen und Sprechen bewirken kann.
"Seltsamerweise höre ich sie gerade in Majdanek, auf dem wenige Hundert Meter langen Weg von den Gaskammern zu Mausoleum und Krematorium, über Araber reden. In Flaggen gehüllt flüsterten sie: Araber, so müsste man es mit den Arabern machen. Nicht immer, nicht bei allen Gruppen, aber häufig genug, um mir im Gedächtnis zu bleiben. (....) Sie sangen traurige Lieder und beteten für die Seelen der Ermordeten, als sei das alles ein Beschluss des Himmels gewesen, deuteten jedoch nicht mit Fingern auf die Mörder. Die Polen waren ihnen viel eher verhasst."
Kein Hass auf Deutsche
"Psychologisch gesehen haben wir uns nie an den Deutschen gerächt. Das muss man klar sagen. Sie sind die Mörder und wir sind die Opfer, aber irgendwie sind wir Freunde geworden. Warum bleiben die Deutschen von Rachegefühlen verschont? Es ist hart für mich, darüber zu sprechen. (...) Wir mögen das höfliche, sehr erfolgreiche, moderne Deutschland und darüber vergessen wir die Vergangenheit. Das ist die Wahrheit. Freunde erzählen mir, wir waren in Berlin, wir haben Museen besucht, Nachtclubs und Restaurants – als hätte es den Holocaust nicht gegeben, als wären wir wieder im Berlin der Zwanziger Jahre. Das ist sehr seltsam. Und dann kommt noch dieses Fasziniertsein von Europäern, von blonden Menschen dazu. Wir möchten ihnen ähneln und fühlen uns stärker mit ihnen verbunden als mit unseren dunkelhäutigen Nachbarn."
"Monster" ist ein finsterer Roman. Er passt in eine Zeit, in der Leiter von Gedenkstätten, gesellschaftliche Gruppen wie auch die Politik über neue Konzepte der Geschichtsvermittlung nachdenken müssen. Zeitzeugen sterben, Wissen geht verloren, das historische Bewusstsein schwindet. Mit seinem Roman appelliert Yishai Sarid daran, den Unterschied zwischen Opfern und Tätern niemals zu verwischen. Das Buch ist getragen von der Überzeugung, dass ein jeder prüfen muss, wann er aufhören sollte zu verstehen und wann Handeln geboten ist. Eher beiläufig bindet der Autor auch alltägliche Lebensprobleme in Israel in den großen reflexiven Monolog eines Mannes ein, der schließlich aufhört zu sublimieren.
Yishai Sarid: "Monster".
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama.
Verlag Kein & Aber, Zürich, 176 Seiten, 21 Euro