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Zählung in Berlin
Weniger Obdachlose als erwartet

Bis zu 10.000 obdachlose Frauen und Männer in Berlin - das war die Schätzung von Hilfsorganisationen vor einer Zählung Ende Januar. Die lieferte jedoch eine weitaus geringere Zahl. Nun gibt es Kritik an der Datenerhebung - auch ganz grundsätzliche: Man hätte das Geld sinnvoller ausgeben können, heißt es.

Von Anja Nehls | 07.02.2020
Berlin: Zwei Obdachlose liegen an einer Hauswand auf einer Matratze und schlafen.
In der "Nacht der Solidarität" zählten Helfer nur knapp 2.000 Obdachlose in Berlin (picture alliance/dpa/Paul Zinken)
Von fünf bis 10.000 obdachlosen Menschen, die in Berlin dauerhaft auf der Straße leben oder im Winter in Notübernachtungen der Kältehilfe unterkommen, waren Hilfsorganisationen bis jetzt ausgegangen. Knapp 2.000 sind nun in einer Nacht in der vergangenen Woche von ehrenamtlichen Helfern gezählt worden. Dass sich nun 8.000 Menschen vor den Zählern versteckt haben, hält Berlins Sozialsenatorin Elke Breitenbach für unwahrscheinlich, aber alle hätte man in dieser Nacht eben nicht zählen können: "Ich weiß auch von Zählerinnen und Zählern, dass sie beispielsweise quasi Wagenburgen mit Autos gesehen hatten, wo man gesehen hat, dass da auch Menschen drin geschlafen haben. Aber wir hatten auch ganz klare Vorgaben gemacht. Und dann war auch klar, da wird jetzt nicht an den Wagen geklopft und die Menschen befragt."
In der "Nacht der Solidarität" hat Berlin als erste Stadt in Deutschland mit Hilfe von 2600 Freiwilligen die Obdachlosen auf der Straße gezählt. Knapp über 800 Menschen wurde dabei gefunden, die unter Brücken, auf Bänken, In Hauseingängen oder Zelten schliefen. Dazu kamen knapp 1000 in den Notübernachtungen und Wärmestuben und 160 in S- und U-Bahnen und Bahnhöfen. Henning Widelak war als ehrenamtlicher Zähler dabei. Normalerweise arbeitet er fürs Grünflächenamt, jetzt hat er ganz andere Seite seiner Stadt entdeckt: "Dieser Kontrast von Reichtum, brutalem Reichtum und wahnsinniger Armut, das ist das, was mich eigentlich hier besonders mitnimmt und was ich erschütternd finde."
Noch nicht alles ausgewertet
Auf Fragebögen vermerkt wurde, wo die Menschen schlafen, wie alt sie sind, wo sie herkommen, und wie lange sie schon keine Wohnung mehr haben – wenn sie sich freiwillig befragen ließen und darüber war die Meinungen der Obdachlosen an der Bahnhofsmission am Zoo durchaus unterschiedlich: "Guter Wille, ja das würde ich schon bescheinigen. Durch die Zählung verbessert sich nichts, das ist jetzt Thema und das geht dann drei Wochen durch die Presse und dann ist vorbei. Umso mehr Zählungen sind, umso besser. Umso mehr kann man auch denjenigen helfen, verstehst du, denen, die Hilfe brauchen."
Erst ein Teil der Fragebögen ist bis jetzt ausgewertet worden. Mit Hilfe der Ergebnisse will Berlin das Hilfsangebot für die Obdachlosen besser anpassen. Dass über die Hälfte der Obdachlosen aus EU-Staaten stammt, hatte Senatorin Elke Breitenbach erwartet. Dass sei eine Herausforderung, mit der die Städte und Gemeinden nicht alleine gelassen werden dürften: "Viele dieser Menschen haben keinen Anspruch auf Leistungen, das führt automatisch dazu, dass wir ihnen nicht nachhaltig helfen können, sie nicht nachhaltig unterstützen können, weil sie ausgeschlossen sind aus diesem Hilfesystem. Das heißt, die Bundesregierung steht hier tatsächlich auch in der Verantwortung zu handeln. Auch sie müssen die gleichen Leistungen in Anspruch nehmen können, wie alle anderen Menschen, die auf der Straße leben."
Geringer Frauenanteil
Elke Breitenbach setzt jetzt auf mehr Beratungsangeboten in Sprachen wie Bulgarisch oder Rumänisch und will demnächst ehemalige Obdachlose als Lotsen auf die Straße schicken: "Wir gehen davon aus, dass Menschen, die mal Obdachlose waren, eher einen Zugang haben zu jetzigen obdachlosen Menschen, weil sie deren Situation auch nochmal anders kennen und eine andere Ansprache finden, für eine niedrigschwellige Ansprache und eine Verweisberatung in andere Beratungsstellen. Ganz klar, die dürfen selbst nicht beraten, denn wir wollen hier nicht Sozialarbeitende ersetzen."
Dass nur 14 Prozent der Obdachlosen Frauen sind, hatte die Sozialsenatorin Elke Breitenbach zunächst überrascht. Maria, die jetzt über 60 Jahre alt ist und 17 Jahre auf der Straße gelebt hat, wundert das hingegen nicht: "Wir wissen, dass Frauen zu 50 Prozent versteckt irgendwo unterkommen. Wir wissen, dass die Zahlen bei Kindern und Jugendlichen noch viel größer sind, dass man sie zu 90 Prozent nicht erfassen kann, dass nur zehn Prozent irgendwo sind."
Kritik an Statistiken
Das Problem sieht auch Susanne Gerull, Armutsforscherin an der Alice Salomon Hochschule für soziale Arbeit, die die Zählung mitinitiiert hat. Weil bei der Straßenbefragung Privatgelände nicht betreten werden durfte, soll zusätzlich noch eine Unterbringungsstatistik erstellt werden: "Das heißt, wir versuchen dann nochmal die Hilfeeinrichtungen zu befragen, die dann auch nochmal nach dem Stichtag gucken, wie viele Menschen angeben, dass sie zum Stichtag eben in keiner Unterkunft waren. Und da können wir wieder einen Teil der Couchsurfer, einen Teil der Menschen, die in Kellern und Dachböden leben erfassen, aber eben auch nicht alle, denn nicht jede Person, die draußen lebt ist auch im Hilfesystem."
Für Maria, die sich in der Selbstverwaltung wohnungsloser Menschen engagiert ist das Erfassen und Zählen der Obdachlosen dabei ohnehin herausgeschmissenes Geld. Man brauche keine Statistiken, sondern Wohnungen: "Dieses Geld, was hier ausgegeben wird, könnte man sicherlich günstiger anwenden, indem man jemanden direkt hilft. Und wenn es nur zwei oder drei sind, die von diesem Geld eine Wohnung bekommen hätten, hätten zwei oder drei viele Probleme weniger.
Über acht Millionen hat Sozialsenatorin Breitenbach für die niedrigschwellige Obdachlosenhilfe im Jahr zur Verfügung. Wie das Geld nun passgenauer eingesetzt werden kann, soll auf eine Fachtagung und einer Strategiekonferenz im Frühjahr besprochen werden. Die Zählung soll im Sommer kommenden Jahres wiederholt werden.