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Zapfstellen im Eismeer

Die Öl- und Gasförderung aus den flachen Schelfgebieten Norwegens hat ihren Höhepunkt überschritten. Auf der Suche nach neuen Lagerstätten dringen die Fördercrews in immer nördlichere und tiefere Gewässer vor. Und in bislang kaum berührte Lebensräume wie etwa die Inselwelt der Lofoten, Brutgebiet für Abertausende Seevögel und Kinderstube für gewaltige Schwärme von Hering, Köhler und Kabeljau.

Von Alexander Budde | 18.07.2010
    In den Hafen von Svolvær läuft an diesem Morgen ein Kutter aus dem Trollfjord ein. Ein Trupp Touristen strömt von Bord und hinein in die kleine Hauptstadt der Lofoten, mit ihren bunten Holzhäusern, die sich malerisch an senkrecht aufragende Granitfelsen schmiegen. Die Besucher zieht es ins nächste Fischlokal. Unterdessen ist die auf der Mole sitzende Inseljugend ernsthaft ins Gespräch vertieft. Es geht um ihre Zukunft im entlegenen Norden, um Fluch und Segen des schwarzen Goldes.

    "Viele von uns würden gern auf die Bohrinseln gehen, das ist gute Arbeit und gutes Geld. Aber leider gibt es eine strenge Auswahl. Du brauchst erstklassige Noten. Aus ganz Norwegen bewerben sie sich, doch nur die wenigsten werden genommen. "

    "Die schicken ihre Leute aus Oslo hoch. Von uns hier auf den Lofoten wird niemand Arbeit finden."

    "Überleg mal! Wir sind ein Teil von Norwegen. Ein Drittel unserer Steuereinkünfte stammt aus dem Ölgeschäft. Ohne Öl wären wir nicht so reich."

    "Wir haben vielleicht mehr Geld für die Sicherheit, aber das Unglück kann auch uns treffen. Wir sind nicht so abhängig, dass wir hier um jeden Preis bohren müssen."

    Seit mehr als zwei Jahrzehnten sind Energieunternehmen wie Exxon, Shell, BP und Statoil auf der Suche nach neuen Öl- und Gasfeldern, die eines Tages die erschöpften Reservoire in der Nordsee ersetzen sollen. Ihre Fördercrews stoßen in immer tiefere Gewässer des Nordens vor. In der Norwegischen See, der Barentssee sowie den Archipelen der Lofoten und Västerålen, die bislang noch als besonders sensible Gebiete vor der Ausbeutung geschützt sind, lassen Erkundungen auf gewaltige Lagerstätten der fossilen Energieträger hoffen.

    Gigantische Tankschiffe passieren die Naturidylle der Lofoten, randvoll mit Flüssiggas aus dem 300 Kilometer weiter nördlich gelegenen Snøvith-Reservoir. Nicht weit davon will das italienische Unternehmen Eni ab 2013 Rohöl fördern. Ein Konsortium unter Führung des russischen Gazprom-Konzerns bereitet die Ausbeutung des Gasfeldes Shtokman vor, das 500 Kilometer fernab von den Küsten unter dem Treibeis der Barentssee liegt.

    Der Meeresbiologe Harald Gjøsæter und seine streitbaren Kollegen am Meeresforschungsinstitut in Bergen sind emsig bemüht, der Gier Grenzen zu setzen. Die Einrichtung der Schutzgebiete um die Lofoten und Västerålen geht auf ihre Empfehlung zurück. Die Wissenschaftler horchen mit Echoloten in die Tiefe, beäugen die rätselhafte Kaltwasser-Koralle Lophelia pertusa, zählen Fischeier und nehmen genetische Proben. Gjøsæter beschreibt die arktischen Gewässer als einen bislang noch nahezu unberührten Lebensraum für Kleinstlebewesen, Fische und Seevögel.

    "Die Barentssee ist ein einzigartiges Ökosystem. Hier finden wir die weltweit größten Bestände von Kabeljau und Stint sowie vom Hering, in der frühen Phase seines Lebenszyklus. Die klimatischen Verhältnisse sind überaus günstig. Der warme Golfstrom kommt vom Westen und führt reichlich Nährstoffe und Plankton mit sich. Die großen Schwärme laichen vor den Küsten und die Jungfische wandern mit der Strömung."

    Auch ohne große Unfälle ist die Förderung von Öl und Gas aus Reservoirs tief unter dem Meeresboden ein schmutziges Geschäft. An den rund 100 Produktions- und Erkundungsanlagen in norwegischen Hoheitsgewässern kommt es immer wieder zu Leckagen, rügt die zuständige Aufsichtsbehörde in ihrem jüngsten Untersuchungsbericht. An jeder fünften der rund 2000 Zapfstellen auf dem Kontinentalsockel fielen den Kontrolleuren von Petroleumstilsynet Mängel durch Materialermüdung auf. Harald Gjøsæter:

    "Noch wissen wir wenig über die Langzeiteffekte, die durch austretende Schadstoffe entstehen. Fast alle Fischarten in der Nordsee haben Probleme mit der Reproduktion. Nicht auszuschließen, dass die Öl- und Gasförderung eine Ursache dafür ist. In der Barentssee erwarten wir eine deutliche Zunahme des Schiffsverkehrs. Fremde Organismen werden im Ballastwasser eingeschleppt und niemand kann sagen, wie sich das auf die heimischen Arten auswirken wird. Das Schlimmste aber wäre eine Ölpest in
    Wir setzen uns ganz entschieden dafür ein, die Tanker-Routen möglichst weit von den Küsten fernzuhalten."

    Im März 2006 verabschiedete das Storting, das norwegische Parlament, den ersten umfassenden Plan zur Verwaltung der arktischen Gewässer. Schon damals eine Belastungsprobe für die rot-grüne Regierung. Ingenieure und Fischer, Politiker und Forscher, Umweltschützer und Lobbyisten streiten nämlich seit vielen Jahren über die möglichen Folgen des Petrobooms.

    Svolvær Anfang Juni: Zur öffentlichen Anhörung über den Verwaltungsplan ist reichlich Politprominenz aus dem fernen Oslo angereist. 300 dicht bedruckte Seiten mit Messtabellen, Schautafeln und Satellitenbildern umfasst der jüngste Bericht zum Zustand des Ökosystems und zu den Risiken der Ölförderung, den 26 Forschungsinstitutionen unter Leitung von Bjørn Fossli Johansen vom Polarinstitut Anfang Juni in Svolvær präsentierten.

    "Bei einer Havarie vor Røst an der Südspitze der Inselgruppe zum Beispiel würde sich das Öl sehr schnell mit der Strömung entlang der Küste und bis in die Westfjord hinein ausbreiten. Besonders gefährdet wären die Seevögel. Bei denen registrieren wir einen dramatischen Rückgang der Populationen im Gebiet rund um die Lofoten und das Nordkap. Das kann mit dem Klimawandel zusammenhängen und mit dem veränderten Nahrungsangebot an Larven, Krill und Lodde."

    Umweltminister Erik Solheim preist erst die Schönheit der Landschaft und rühmt die zivilisierte Streitkultur seiner Landsleute. Dann wird der Minister von der Linkspartei deutlich: Die Ölpest im Golf von Mexiko, sagt Solheim, bereite ihm schlaflose Nächte:

    "Diese Havarie wurde nicht von einer dubiosen Firma in einem korrupten Entwicklungsland verursacht sondern von einem weltbekannten Petrokonzern unter Einsatz von Hochtechnologie in der fortschrittlichsten Industrienation. Die Frage muss erlaubt sein, ob sich Vergleichbares auch bei uns ereignen könnte. Ich bin der Meinung, wir sollten die Lofoten und Västerålen nicht für die Offshore-Förderung öffnen. Die Region hat unschätzbaren Wert für Tourismus und Fischerei. Wir können uns das Risiko einer verheerenden Ölpest nicht leisten."

    Die apokalyptischen Szenen im Golf von Mexiko gingen auch ihm zu Herzen, bekennt Ölminister Terje Riis-Johansen von der Zentrumspartei.

    "Wir schauen uns sehr genau an, was im Golf von Mexiko geschehen ist. Und wir werden keine Lizenzen in der Tiefsee vergeben, solange die Ursachen nicht restlos geklärt sind. Zugleich werden wir unser eigenes Verfahren zur Ausweitung unserer Aktivitäten fortsetzen. Die Förderung ist mit Risiken verbunden, davon kommen wir nicht los."

    Diese Erkenntnis wird den Zentrumspolitiker nicht davon abhalten, zwei Wochen später 94 Erkundungsblöcke in der Norwegischen See und in der Barentssee auszuschreiben. Eine mögliche Vorentscheidung über neue Förderlizenzen, wie Umweltschützer und Teile der Forschergemeinde empört monieren. Die küstennahen Gewässer der Lofoten sollen gleichwohl geschützt bleiben. Sigbjørn Aanes kann das nicht verstehen. Die Geologie im begehrten Zielgebiet sei bekannt, behauptet der Sprecher des Branchenverbands OLF, die ingenieurtechnischen Probleme seien zu bewältigen.

    "Wir vermuten, dass die potenziellen Fördergebiete um die Lofoten und Västerålen große Mengen an Öl und Gas enthalten. Wir reden vielleicht von sechs Milliarden Tonnen Öläquivalent. Die Lofoten sind das ganze Jahr über eisfrei, das Meer ist mit 200 bis 300 Metern nicht besonders tief. Zwar ist der Kontinentalsockel an dieser Stelle sehr schmal. Auch werden die Gewässer intensiv befischt. Aber wir würden uns an strenge Vorschriften halten, zum Beispiel nicht während der Laichsaison produzieren."

    An einträchtiges Wirtschaften und friedliche Koexistenz mag Bjørn Jensen aus Reine an der Südspitze der Lofoten nicht glauben. Auf seinem zehn Meter langen Kutter "Ken Stian" wagen sich Jensen seine kleine Crew seit bald drei Jahrzehnten hinaus in haushohe Wellen und in beißenden Wind. Der bärtige Norweger spricht für die Gewerkschaft der Küstenfischer, die sich vehement gegen die Umgarnung der Öl-Lobby wehrt.

    "Die seismischen Untersuchungen haben starken Einfluss auf die Fische. Die Industrie hat Studien vorgelegt, die das bestreiten. Aber das waren bestellte Gutachten. Wir Fischer sehen doch, dass der Fang ausbleibt. Die Pulse aus den Luftkanonen töten Plankton und Jungfische. Die großen Schwärme tauchen ab oder ziehen sich zurück. Von der Küste bis zum Abbruch des Kontinentalsockels in die Tiefsee sind es nur zwölf nautische Meilen. Auf diesen schmalen Fischgründen sollen die Förderanlagen operieren. Die Industrie bleibt uns die Antwort schuldig, wie das funktionieren soll."

    Ein gequältes Seufzen entfährt dem Fischer auf die Frage, was er von den existierenden Notfallplänen für Schiffbruch und Leckagen hält.

    "Keine Chance! Wir wären einfach hilflos! Hier vor den Lofoten gibt es aufgrund der Witterung vielleicht 20 Tage im Jahr, an denen man ausgelaufenes Öl auffangen könnte. Wir haben ganzjährig starke Strömungen. Und mindestens ein bis zwei Meter hohe Wellen. Die Barrieren würden nicht funktionieren. Gleichwohl erzählen uns die Behörden, wir hätten hier im Norden die weltbeste Bereitschaft."

    Im Notfall würde Sjur Knudsen das Kommando übernehmen. Der gelernte Marineoffizier und langjährige Produktionschef bei Statoil leitet NOFO, ein gemeinsames Krisenteam der Petroindustrie. Innerhalb kürzester Zeit, versichert der Norweger, könne man eine Flotte von zwei Dutzend Spezialschiffen sowie weitere Pumpsysteme aus strategisch platzierten Depots mobilisieren. Verstärkung käme von der Küstenwache, aus den betroffenen Gemeinden würden sich Freiwillige zur Säuberung der Strände in Marsch setzen. Mehrmals im Jahr wird der Ernstfall geprobt.

    "Ein Ölteppich kann sich innerhalb von 24 Stunden um das Hundertfache seiner ursprünglichen Größe ausbreiten. Deshalb muss man schnell reagieren. Wir haben Schiffe, die sich dauerhaft auf See in Bereitschaft halten. Wir haben die Erlaubnis, Chemikalien einzusetzen. Auch wollen wir künftig mehr Fischerboote beteiligen und Teams ausbilden, die das Öl vor der Küste abfangen, bevor es die Strände erreicht. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass Norwegen ein kleines Land ist. Für ein Desaster, wie wir es gerade im Golf von Mexiko erleben, bräuchten wir sehr viel mehr Material. Fraglich, ob Behörden und Industrie bereit wären, die damit verbundenen Kosten zu tragen."

    Zwar gelten in Norwegen weit strengere Grenzwerte und Auflagen als in den meisten anderen Förderländern. Von Havarien blieb man aber auch in der Nordsee nicht verschont. 1977 führte Materialermüdung an einem Sicherheitsventil der Bohrinsel Bravo zum gefürchteten Blow out. Dabei dringen große Mengen an Gas, Öl und Wasser unkontrollierbar in das Bohrloch ein. Durch das Steigrohr strömt das brennbare Gemisch an die Oberfläche. Bis man die Zapfstelle unter Bravo mit Schlamm und Zement versiegeln konnte, liefen 9000 Tonnen Öl ins Meer.

    2004 geriet die Förderplattform Snorre A in höchste Not. Diesmal trat Erdgas mit Urgewalt aus einem von 44 Bohrlöchern aus. Nur weil sich das um die Plattform blubbernde Gas nicht entzündete blieb die Nordsee damals von einer verheerenden Ölpest verschont, sagt Frederic Hauge, Gründer der einflussreichen Umweltorganisation Bellona.

    "Dringt Gas bis auf die Plattform, fehlt nur noch ein Funke zur Explosion. Dann muss man die Turbinen stoppen. Ohne Stromversorgung kann man keine Pumpen betreiben und keine Brände bekämpfen. Der Untergang von Snorre A hätte eine unvorstellbare Ölpest zur Folge gehabt. Im Golf von Mexiko hat man bislang weniger als ein Prozent des Öls aufgefangen. Dabei sind annähernd 2000 Schiffe im Einsatz und 40.000 Menschen an den Stränden. Ich begreife nicht, wie wir hier in Norwegen mit so einer Katastrophe fertig werden sollten."

    Beim Bohren fallen gewöhnlich große Mengen an Produktionswasser, Schlamm und Abraum an, das so genannte Kaks. Der staatliche Energiekonzern Statoil darf diesen mit Chemikalien und Schwermetallen belasteten Cocktail in ausgediente Bohrlöcher einleiten, statt ihn teuer an Land zu entsorgen. Norwegens stolze Vision des Zero Impact – also einer emissionsfreien Produktion - sei insofern reine Augenwischerei, betonen Umweltschützer wie Hauge.

    Zumal in mindestens 14 Fällen Risse und regelrechte Krater in der Geologie dieser Depots auftraten, wobei nach Schätzungen rund 60 Millionen Kubikmeter des Giftmülls ins Meer gelangten. Statoil habe die Leckagen zwar gemeldet, die Gefahren für die Umwelt seither aber systematisch heruntergespielt. Ein bewusstes Spiel mit dem Risiko und leider kein Einzelfall, meint Hauge.

    "Das so genannte blame game, in dem sich die Unternehmen BP, Transocean und Halliburton gerade gegenseitig die Schuld an der Deepwater-Havarie zuschieben, ist für Organisationen wie die meine ungemein lehrreich. Überall in der Branche registrieren die Behörden gravierende Regelverstöße, weil man unter Zeitdruck eine Menge Geld sparen kann. Ölarbeiter erzählen uns, dass die Sicherheit unter überlangen Schichten bei wachsenden Arbeitsaufgaben leidet. Subunternehmer kommen zum Einsatz, die überhaupt keine Ahnung von der Materie haben. Auch Statoil arbeitet mit hochkomplizierter Technik. Auch Statoil hüllt sich bei Unfällen in Schweigen. Wenn wir Norweger glauben, wir sind Weltmeister in allen Bereichen, wird uns das Unglück früher oder später einholen."

    Mit umgerechnet rund 350 Milliarden Euro beziffert die Norwegische Zentralbank den augenblicklichen Marktwert des Ölfonds, in dem sie die Einnahmen im Auftrag des Staates verwaltet. Allein der Staatskonzern Statoil hat im Vorjahr bei kräftig gesunkenen Preisen für Öl und Gas umgerechnet rund zwei Milliarden Euro nach Steuern verdient. Die Sorge um die Umwelt sei dabei stets ein wichtiger Faktor im Kalkül, betont Eli Aamot. Sie leitet die Forschungsabteilung von Statoil. Der Konzern ist stolz auf seine gute Erfahrung mit komplizierten Offshore-Projekten. Eli Aamot:

    "Ursprünglich nutzten wir mächtige Bohrinseln wie etwa beim Ölfeld Ekofisk in der Nordsee. Dann zogen wir hinauf in die Norwegische See: Norne war die erste schwimmende Produktionsanlage mit Zapfstellen auf dem Meeresgrund. Für das Gasfeld Kristin entwickelten wir unterseeische Installationen, die gewaltigem Druck und hohen Temperaturen standhalten. Ein Riesensprung nach vorn war auch Snøvith in der Barentssee: eine ferngesteuerte Förderanlage auf dem Meeresgrund, die Gas und Kondensat, also Leichtöl, durch eine lange Pipeline an Land pumpt."

    Melkøya, eine Insel vor Hammerfest am nördlichsten Zipfel Norwegens. Wo einst Schafe grasten, ging im Herbst 2007 die größte Erdgasverflüssigungsanlage Europas in Betrieb. Sieben Milliarden Euro hat das internationale Snøvith-Konsortium unter Führung des Statoil-Konzerns hier bereits investiert. Über das ganze, rund zwei Kilometer lange Eiland erstrecken sich die Gebäude – ein Kraftwerk zur Stromproduktion, Speichertanks sowie die gewaltige Kühlanlage. In diesem Monstrum aus Stahl und Aluminium wird das Erdgas auf minus 163 Grad herunter gekühlt, verflüssigt und auf die im Hafen bereitliegenden Tanker gepumpt. Weil die vom deutschen Mischkonzern Linde gebaute Kühlanlage zunächst nicht funktionierte, brannte man das Gas viele Wochen lang in einer weithin sichtbaren Fackel ab. Millionen Tonnen des Klimagifts Kohlendioxid wurden so in den Polarhimmel geblasen. Der große Aufwand bei Kühlung und Transport macht den Brennstoff etwa 30 bis 50 Prozent teurer als gewöhnliches Pipeline-Gas. Doch die Norweger setzen auf einen rapide wachsenden Markt. Auch den deutschen Endverbraucher wird die Energie aus dem Norden auf Dauer nicht kalt lassen, vermutet Rune Bjørnson, leitender Gas-Manager bei Statoil.

    "Wir sind heute der zweitgrößte Exporteur von Erdgas nach Europa. Deutschland ist mit Abstand unser wichtigster Abnehmer. In einem Markt der traditionell von Russland dominiert wird, haben wir uns als verlässliche Alternative vorgestellt. Und der Bedarf wird zunehmen. Nicht nur aus Gründen der Energiesicherheit, sondern auch um Klimaziele zu erreichen. Denn Erdgas hat von den fossilen Energieträgern die geringsten Emissionen."

    Im Operationsgebiet, 120 Kilometer vor der Küste, gibt es keine Bohrinseln. Die Produktion läuft über ferngesteuerte Förderanlagen in rund 300 Metern Tiefe. Die Zapfstellen, so genannte Templates, sind flach und robust gebaute Stahlkäfige am Meeresboden, die sich ohne Schaden von den Grundschleppnetzen der Trawler überrollen lassen. Über Glasfaserkabel laufen die Signale zu Technikern wie Monica Kaulsland. Sie steuert im Kontrollraum den Gasfluss über die Ventile der Pumpstationen am Meeresgrund bis hinein in die "Coldbox", dem Herzstück der Industrieanlage.

    "Es ist wichtig, die Anlage nicht zu schnell zu fahren, sonst steigt reichlich Sediment und Wasser mit nach oben. Und wir müssen stetig Frostschutzmittel einspritzen. Tun wir das nicht, bilden sich Gashydrate und die verstopfen uns die Leitungen. Das erfordert volle Konzentration. Der Operateur muss schnell und überlegt handeln, denn viele Ereignisse laufen gleichzeitig ab."

    Erdgas wie Methan, das fast immer auch in Erdölfeldern vorkommt, bildet unter hohem Druck und bei arktischen Temperaturen Hydrate, die Eiskristallen gleich den Rohrstrang verstopfen können. Wird das Gas beim Schmelzen schlagartig freigesetzt, kann es mit Urgewalt die Pipeline sprengen.

    "Gashydrate sind für die Branche eine echte Herausforderung. Wir haben einen Schritt weiter gedacht und das so genannte Cold Flow-Verfahren entwickelt. Da verbinden sich die Gas- und Wassermoleküle in einem speziellen Reaktor zu einem feinen Pulver, einer Art Trockenschnee. In dieser Form sind sie kein Problem. Wir brauchen keine Isolierung und keine Chemikalien und können den Fluss beliebig unterbrechen und wieder in Gang setzen."

    Kjell Arne Jacobsen vergleicht den Vorstoß in die Tiefe der Meere mit den Höhenflügen der Raumfahrt. Der Ölforscher am unabhängigen norwegischen Forschungsinstitut Sintef in Trondheim steht im Schatten einer gewaltigen Rohrleitung, die als ein Kilometer lange Versuchsschleife in einem wildromantischen Waldstück liegt.

    "Die neuen Fördergebiete sind kaum zugänglich. In der Arktis zum Beispiel gibt es keine Infrastruktur. Wer Öl und Gas über weite Distanzen transportieren kann, spart eine Menge Geld. In unserem weltgrößten Forschungslabor für Mehrphasenströmung haben wir gelernt, wie man verschiedene Stoffe wie zum Beispiel Gas und Wasser gemeinsam durch eine Leitung transportiert. Diese Fluide können sehr harmonisch strömen, aber auch Blasen bilden, die wir nicht so gerne sehen."

    Lasse Amundsen ist die Ruhe in Person. Der Mittfünfziger mit der Silbermähne mustert die Umgebung durch eine runde Brille. Im Gespräch formuliert der preisgekrönte Geophysiker so geschliffen wie in seinen Lehrbüchern. Von denen hat der Professor eine ganze Reihe verfasst. Für den Statoil-Konzern leitet Amundsen die weltweite Fahndung nach verborgenen Rohstoffen. Um den Meeresboden zu kartieren, fährt das Analyse-Team auf Schiffen hinaus. Luftkanonen senden Schallwellen geringer Frequenz in den Untergrund. Sie werden von den geologischen Formationen reflektiert. An Kabeln nachgeschleppte Hydrophone oder direkt auf dem Meeresboden platzierte Geophone fangen das Echo auf.

    Aus der Datenflut dieser Sensoren erzeugen leistungsstarke Computer eine dreidimensionale Abbildung der Geologie. So können sich Geologen, Geophysiker und Ingenieure ein Bild von den vermuteten Reservoirs machen, durch die virtuellen Formationen spazieren und kilometerlange Kanäle für die Bohrmeissel planen. Das weltgrößte Offshore-Unternehmen operiert in 40 Ländern und treibt immer gewagtere Erkundungen in der Tiefsee voran: im Golf von Mexiko wie vor den Küsten von Brasilien, Angola und Nigeria. Auch die kaum erforschten Kältezonen des Planeten hat Amundsen ins Visier genommen.

    "Die Herausforderung in der Arktis besteht schon in der Sammlung der Daten. Die nachgeschleppten Kabel mit den Hydrophonen können sich im Treibeis verfangen. Wie im Golf von Mexiko liegt das Öl auch in der Barentssee unter einer Schicht von Salz. Und Salz ist eine sehr komplexe Geologie, mit sehr viel größerer seismischer Geschwindigkeit als der umgebende Sandstein. Da wird die Struktur, in der sich die seismischen Signale ausbreiten, sehr kompliziert."

    Unterhalb des Salzes ist man blind, so drückt es Neil Hamilton aus. Der Norweger leitet das Arktis-Programm des WWF. Die Umweltorganisation fordert ein Moratorium für weitere Aktivitäten der Öl- und Gasförderung in der Arktis, solange es weder Notfallpläne noch die nötige Technik für den Krisenfall gibt.

    "Das Gebiet ist im Winterhalbjahr kaum zugänglich. Eis, Sturm und widrige Wetterverhältnisse würden die Bekämpfung eines Ölteppichs unmöglich machen. In der Kälte funktionieren die Maschinen nicht und die Bindemittel bleiben wirkungslos. Das Öl setzt sich in den Poren unter dem Eis fest. Es tötet Larven und Plankton, die wichtigste Nahrungsgrundlage für viele Fischarten der Arktis."

    Doch der weltweite Energiehunger gepaart mit nationalem Prestige lässt die Sorge um das filigrane Gleichgewicht der Polargebiete verblassen. Norwegen steht mit seinen Gebietsforderungen nicht allein. Auch Dänemark, Kanada, Russland und die USA drängen in eine der letzten unberührten Regionen der Erde. Vor der Westküste Grönlands haben die Konzerne Exxon, Chevron und Dong in diesen Wochen mit Erkundungsbohrungen in 300 Metern Wassertiefe begonnen. Die grönländische Selbstverwaltung hat ihnen die Erlaubnis erteilt. Die 56.000 Bewohner der Polarinsel hoffen auf die wirtschaftliche Unabhängigkeit von der einstigen Kolonialmacht Dänemark.

    Die Schätze des Ewigen Eises sollen unter allen Umständen geborgen werden, da sind sich alle Kontrahenten einig. Der Kampf gegen die Erderwärmung spielt in den Planspielen der Strategen allenfalls eine untergeordnete Rolle. Einen internationalen Schutzvertrag nach Vorbild der Antarktis, wie ihn das Europaparlament fordert, lehnen die arktischen Fünf grundsätzlich ab. Elisabeth Walaas, Staatssekretärin im norwegischen Außenministerium, betont aber, dass die Anrainer allen wirtschaftlichen Interessen zum Trotz auch an die Umwelt denken.

    "Wir brauchen eine bessere Zusammenarbeit bei der Seenotrettung und klare Regeln für die Navigation, weil der Schiffsverkehr stark zunehmen wird. Und wir müssen uns auf gemeinsame Prinzipien verständigen, wie wir die Rohstoffe mit möglichst geringen Folgen für die Umwelt ausbeuten. Mit unserem Nachbarn Russland tauschen wir uns seit vielen Jahren über unsere Interessen im hohen Norden aus. Das könnte vielleicht eine Inspiration auch für andere Länder sein."

    Bislang genießen die Norweger ihren Wohlstand in vielfacher Hinsicht auf Kosten der Umwelt. Zwar hat sich das Fünf-Millionen-Volk bis zum Jahr 2030 verpflichtet, seine CO2-Emissionen so weit zu neutralisieren, dass sie netto bei Null liegen. Doch hinter dem grünen Versprechen verbirgt sich eine bittere Wahrheit, dämpf Neil Hamilton vom WWF die Begeisterung. Milliarden an Forschungsmitteln gingen für die Jagd nach den Rohstoffen drauf, statt die Offshore-Kompetenz für erneuerbare Energiequellen wie die Windkraft zu nutzen. Norwegens Kampagnen zum Schutz der Regenwälder seien lediglich ein Beispiel dafür, wie man sich mit Petrodollars ein gutes Gewissen erkauft. Ein wirklich mutiger Schritt mit Signalwirkung wäre es, die Förderung zu drosseln oder gar auf die Schätze des ewigen Eises gänzlich zu verzichten, meinen Umweltschützer wie Hamilton.

    "Ich bin mir nicht sicher, ob die Schlacht schon geschlagen ist. Die Haltung der Staaten ist glasklar: sie beanspruchen die Arktis als ihr Hoheitsgebiet. Auch die Ölindustrie will uns einreden, dass die Würfel schon gefallen sind. Aber es gibt auch viele andere Stimmen, die sagen: Lasst uns die Chance nutzen, die letzte große Wildnis unseres Planeten zu bewahren. 30 Millionen Quadratkilometer zu Lande und zu Wasser, ein Lebensraum von unschätzbarem Wert. Und ein Ort, der Millionen Menschen überall auf der Welt am Herzen liegt. Rohstoffe sind wichtig, aber die Politik entscheidet."


    Hinweis: Die ursprünglich geplante Sendung Pollenplage. Über die dramatische Zunahme von Allergien wird am Sonntag, 25. Juli, 16:30 Uhr, gesendet.
    Umweltprotest auf den Lofoten
    Umweltprotest auf den Lofoten (Alexander Budde)
    Durch zerklüftetes Gebiet wird sich die untermeerische Pipeline des Ormen Lange-Feldes vor Norwegen winden.
    Untermeerische Pipeline im Ormen-Lange-Feld. (Hydro)
    Plattformen im Gasfördergebiet Sleipner vor der norwegischen Küste.
    Konventionelle Förderplattformen im Sleipnir-Feld (Statoil)