Silvia Engels: In diesen Tagen sind die Wirtschaftsteile der Zeitungen voll von Rückblicken auf die größte Finanzkrise der letzten Jahre. Der Grund: Am Samstag jährt sich der Zusammenbruch der Bank Lehman Brothers zum zehnten Mal: das war der 15. September 2008. Anlass für uns, auch schon auf dieses Ereignis zu schauen, und zwar mit Hilfe von Klemens Kindermann aus der Wirtschaftsredaktion. Warum ist dieser Stichtag für die jüngere Wirtschaftsgeschichte so wichtig?
Klemens Kindermann: Weil mit diesem Tag sozusagen die Kernschmelze für das Weltfinanz-System drohte. Es gab vorher Anzeichen durch die Immobilienkrise in den USA. Und ein paar Tage zuvor, am 7. September 2008 wurden bereits die beiden wichtigen Immobilienfinanzierer Fannie Mae und Freddie Mac verstaatlicht. Aber die Insolvenz von Lehman Brothers zeigte: Der Staat war hier nicht mehr bereit, einzuspringen. Die Folge war eine Weltfinanzkrise, in der alleine die sechs größten EU-Staaten und die USA nach neuesten Berechnungen 800 Milliarden Euro aufgewendet haben, um die Finanzbranche zu stützen. Vielleicht noch wichtiger: diese Krise – ausgelöst durch die Gier von Banken - hat das liberale Wirtschaftsmodell erschüttert, die Überzeugung, dass vor allem freie Märkte, Offenheit und Austausch den Wohlstand sichern. Jetzt reden wir über Abschottung und Zölle, über Abstiegsängste und Populismus – ganz sicher auch eine gesellschaftliche Folge dieser Finanzkrise.
Proteste in New York und Frankfurt geplant
Engels: Die Lehman-Pleite steht für die Auswüchse des Finanzsystems. Dagegen formierte sich Widerstand – die sogenannte Occupy-Wall-Street-Bewegung. Von ihr hört man nicht mehr viel?
Kindermann: Nein, aber das könnte sich an diesem Samstag ändern. Im Zuccotti Park im Finanzdistrikt New Yorks, wo damals 2011 die Proteste begannen, ist es zwar wieder ziemlich ruhig geworden. Aber am Samstag sollen angeblich wieder durch Aufrufe tausende nach Manhattan kommen. Auch in europäischen Städten soll es Aktionen geben, so auch am Bankenplatz in Frankfurt am Main. Ich habe Alfred Eibl von Attac gefragt, was da passieren soll:
"Im Prinzip geht es darum, noch mal darzustellen, dass eben das Finanzsystem den Aufgaben nicht gerecht wird. Wir werden mit Bulle und Bär, mit den Symbolen, die vor der Börse stehen – die haben wir nachgebaut -, einiges veranstalten."
Erstaunlicherweise gibt es aber – anlässlich des zehnjährigen Stichtages - offenbar auch ein Treffen von ehemaligen Lehman-Bankern in London – wie es heißt: zu Cocktails und Canapés.
Zweifel an Stabilität der Banken
Engels: Wie sind wir hier in Deutschland von der Finanzkrise betroffen worden?
Kindermann: In Erinnerung geblieben ist sicher der Auftritt von Kanzlerin Angela Merkel und des damaligen Finanzministers Peer Steinbrück am 5. Oktober 2008 in Stunden höchster Anspannung: Die Spareinlagen der Bürger sind sicher, versicherten sie. Das war ein psychologischer Schlüsselmoment zur Beruhigung von Sparern und Finanzsektor. Der Wirtschaftseinbruch danach war dennoch tief. Nach heutigen Schätzungen mussten durch Kurzarbeit und Milliardenhilfen mehr als 1,5 Millionen Jobs abgesichert werden. Was wir bis heute spüren: die Nullzinsen, mit der die Europäische Zentralbank gegen die Krise bis heute arbeitet: Sie lässt alle alt aussehen, die für ihr Alter vorsorgen.
Engels: Ist der Finanzsektor heute krisenfester aufgestellt?
Kindermann: Da noch mal der Blick in die USA: Da ist die Regierung Trump dabei, die Regulierungs-Gesetze für den Finanzsektor zu lockern, die als Lehre aus der Finanzkrise beschlossen worden waren. In Deutschland wurden zwar seit 2008 rund 50 Gesetze vom Finanzmarktstabilisierungs- bis zum Hochfrequenzhandelsgesetz auf den Weg gebracht. Aber ob die Banken wirklich genug Rücklagen haben, daran gibt es Zweifel. Alfred Eibl von Attac kritisiert, "dass noch immer insbesondere das europäische Bankensystem mit viel zu wenig Eigenkapital ausgestattet ist und dass die Risiken im Bankensystem immer noch zu groß sind."