Viel Zeit ist nicht mehr bis zur Eröffnungsfeier in den Abendstunden. Und immer noch wird im Gängeviertel gesägt, gehämmert, geschraubt, dekoriert. Mittendrin, vor einer kleinen Bar im Innenhof, stehen Christine Ebeling und Hannah Kowalski, zwei Künstlerinnen und Mitglieder der Gängeviertel Genossenschaft:
"Wir stehen sozusagen vor der Quelle, dem Beginn des Gängeviertels, der 'Kaschemme'. Hier wird gerade unglaublich viel umgebaut. Da hinten entsteht der Kopf eines Fuchses, der dann das Bühnendach auf der großen Brache krönen wird. Es entstehen neue Orte. Wieder neue Orte. Ich wusste gar nicht, dass das Gängeviertel doch noch mehr Platz hat. Es kommen für den Geburtstag wieder neue Orte und Nischen zum Tragen beziehungsweise werden neu eröffnet. Ich bin selber ganz gespannt. Es passiert so viel, dass ich den Überblick selbst schon fast verloren habe."
"Und hier ist auch ein ganz wichtiger Ort: Hier ist die Küche, die uns gerade alle verpflegt. Das ist natürlich zentral. Jeden Tag wird jetzt für die Leute gekocht, die gerade aufbauen. Und es ist natürlich phantastisch, dass man nach zehn Jahren immer noch permanent neue Leute hat und neue Sachen entstehen. Wir hoffen natürlich, dass es niemals langweilig wird, dass es sich permanent verändert."
"Kulturelle Inbesitznahme" beeindruckt den Senat
Hannah bewegt ihren Oberkörper sachte vor und zurück, wiegt ihren kleinen Sohn im Rückentragetuch. Die Besetzung der zwölf historischen Backsteingebäude vor zehn Jahren verlief still und heimlich. Und offiziell, erklärt Christine mit einem Lächeln, sei es ja gar keine Besetzung gewesen:
"Wir haben es die ‚kulturelle Bespielung‘ genannt oder die ‚kulturelle Inbesitznahme‘. Wer die Häuser besetzt hat, das war die Kunst. Bilder, Skulpturen, Installationen, Musikerinnen, Musiker. Wir hatten eine über 5.000 Quadratmeter große Ausstellung inszeniert."
Und als Schirmherr hatten die 200 Kunstschaffenden den ebenfalls aus Hamburg stammenden Maler Daniel Richter gewinnen können. - Der Senat schickte jedenfalls nicht die Polizei in den bereits an einen niederländischen Investor verkauften Gebäudekomplex, sondern zeigte sich beeindruckt vom Engagement der Besetzer. Die damalige Kultursenatorin Karin von Welck war offen für Gespräche. In einer Zeit, in der eine lebendige Off-Szene und Subkultur in Marketingbroschüren als Standortfaktor der Hansestadt angepriesen wurde und die Mieten für eben diese Szene, für Ateliers und Freiräume kaum zu bezahlen waren.
"Immer noch so ein bisschen wie ein Wunder"
"Ich zum Beispiel habe nie damit gerechnet, dass man hier überhaupt bleiben kann. Es war so: Ok, das ist jetzt ein Happening, man macht das ein Wochenende! Man zeigt, was die Stadt an diesen Häusern verliert. Und das wir jetzt zehn Jahre später immer noch stehen, das ist immer noch so ein bisschen wie ein Wunder."
Hinter Hannah und Christine ragt die bunt bemalte Außenfassade der "Fabrique" in die Höhe, dem Herzstück des Gängeviertels. Hier finden Konzerte, Lesungen, Diskussionsabende statt. Vom vierten Stock aus sendet das FSK-Radio, das Freie Sender Kombinat. Es gibt große Ausstellungsflächen und Ateliers und Wohnungen, zu Preisen ab 5,80 Euro pro Quadratmeter. Es gibt Cafés, Fahrrad- und Siebdruckwerkstätten, einen Fahrradladen, einen alternativen Sexshop.
Aktivisten dürfen die nächsten 75 Jahre bleiben
Möglich gemacht hat das der Rückkauf der Gebäude vom niederländischen Investor durch die Stadt, die bis heute zusätzlich noch rund acht Millionen Euro in die Sanierung gesteckt hat. Nötig war aber auch die unentgeltliche Arbeit der vielen ehrenamtlichen Gängeviertel-Aktivisten. Wenn ab heute Abend eine Woche lang gefeiert wird, geht es natürlich um den 10. Geburtstag der Gängeviertel-Idee, aber ganz sicher auch um den endlich mit der Stadt ausgehandelten und unterschriebenen Erbpachtvertrag . Für die nächsten 75 Jahre dürfen sie bleiben, freut sich Hannah:
"Man kann einfach in die Zukunft planen und man kann einfach auch mit der Sanierung weitermachen. Die hatte ja gestoppt. Hier das Haus, dass wir sehen, die Speckstraße, direkt vor uns, da geht die Sanierung weiter. Das ist das erste Haus, das weiter saniert wird. Und dann geht es weiter mit der Planung der Schierspassage hier um die Ecke. Und das ist ja unglaublich wichtig, weil wir ja auch angetreten sind, um diese Häuser zu schützen und zu erhalten. Und deshalb müssen die dringend saniert werden."
Ein "gallisches Dorf" im sauberen Büroviertel
Immerhin seien die zwölf Gängeviertelhäuser, einstige Fabrik- und Wohngebäude, der letzte erhalten gebliebene Teil eines einst viel größeren, eng bebauten und vor allem von bitter armen Menschen bewohnten Quartiers. Heute ragen ringsum die ewig gleichen Stahl- und Glasbauten in den Himmel, umzingeln das bunte und längst noch nicht fertige Gängeviertel - ein "gallisches Dorf" im sauberen Büroviertel.