Ziel der damaligen Regierung sei nicht gewesen, dass mit Hartz IV gefordert und gefördert werde - sie wollte den Niedriglohnsektor ausbauen, meint Butterwegge: "Gerhard Schröder hat sich und seine rot-grüne Koalition auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos 2005 dafür gelobt, mit der Einführung einen der effektivsten Niedriglohnsektoren Europas geschaffen zu haben."
Nachschub für den Niedriglohnsektor
Die Reform habe nur in Details Verbesserungen gebracht. Hauptsächlich aber schaffe Hartz IV immer weiter Nachschub für den Niedriglohnsektor, da die Leistungsbezieher jeden noch so schlecht bezahlen Job annehmen müssten. Außerdem kritisierte Butterwegge die scharfen Sanktionen, die bei Nichterfüllung der hohen Anforderungen drohten.
Der jetzt beschlossene Mindestlohn stellt für ihn keine Lösung dar. "Das wäre vielleicht vor zehn Jahren eine Möglichkeit gewesen, Hartz IV nach unten abzusichern." Jetzt käme er erstens zu spät, außerdem sei er zu niedrig und kenne zu viele Ausnahmen.
Das Interview in voller Länge:
Jürgen Zurheide: Das Wort Hartz IV alleine, es spaltet. Auf der einen Seite sagen viele, das ist die Erfolgsgeschichte überhaupt, der Grundstein dafür, dass es Deutschland besser geht, die Arbeitslosigkeit gesunken ist und mehr Arbeitsplätze als je zuvor da sind. Auf der anderen Seite gibt es nicht wenige, die sagen, es gibt mehr Minijobs, prekäre Beschäftigung, die Armut insgesamt in der Gesellschaft hat zugenommen, und sie sagen, das hat eben auch mit Hartz IV zu tun. Was ist nun richtig? Die Frage wird schwer zu beantworten sein. Wir wollen heute Morgen mit einem der Kritiker sprechen, der sagt und jetzt in einem Buch gerade noch geschrieben hat: "Auf dem Weg in die andere Republik". Ich begrüße Christoph Butterwegge, Professor der Universität in Köln. Guten Morgen, Herr Butterwegge!
Christoph Butterwegge: Ja, guten Morgen, Herr Zurheide!
Zurheide: Herr Butterwegge, jetzt will ich Sie mal ganz bewusst fragen als jemand, der sich häufig und kritisch, nicht zuletzt jetzt gerade noch geäußert hat: Gibt es gar nichts, was positiv ist?
Butterwegge: Na, es gibt in dieser riesigen Reform auch kleine Details, die Verbesserung gebracht haben, zum Beispiel für Sozialhilfeempfänger, die jetzt Zugang haben zu den Leistungen der Bundesagentur für Arbeit. Also Vermittlungstätigkeiten, Beratung. Aber das hätte man mit einem Federstrich bewerkstelligen können, dieses Recht einzuräumen den Sozialhilfeempfängern, stattdessen hat man aber ein riesiges Gesetzespaket geschnürt, in dem ganz, ganz viele Verschlechterungen sind. Dass Menschen, die lange gearbeitet haben, eben nicht mehr wie bis zum 31. Dezember 2004 die Arbeitslosenhilfe bekommen auf der Grundlage ihres letzten Gehalts, beispielsweise wenn sie jahrzehntelang gearbeitet hatten, dann sichergestellt zu werden bis zur Rente, sondern jetzt bekommen sie nach relativ kurzer Zeit des Bezuges von Arbeitslosengeld I das Arbeitslosengeld II, anders ausgedrückt Hartz IV, auf dem Niveau der früheren Sozialhilfe. Und ich meine, das ist ein Absturz, der da erlebt worden ist für viele Hunderttausende. Was nicht aufgewogen wird durch einige kleine Detailverbesserungen.
Zurheide: Auf der anderen Seite, ich habe es auch gerade gesagt, es gibt mehr Beschäftigung, weniger Arbeitslosigkeit. Das führen Sie anders als viele zumindest der herrschenden wirtschaftspolitischen Kommentatoren nicht auf Hartz IV zurück und auf diese Reform?
Butterwegge: Nein, absolut nicht. Ich vermag gar nicht einzusehen, wenn im letzten Jahr in Deutschland mehr Kinder geboren worden sind und die Zahl der Störche zugenommen hat, beweist das eben nicht, dass der Klapperstorch die Babys bringt, sondern das eine hat mit dem anderen gar nichts zu tun. Dass wir relativ gut im Vergleich zu anderen europäischen Ländern aus der globalen Finanz- und Weltwirtschaftskrise herausgekommen sind, das hat damit zu tun, dass man Konjunkturpakete aufgelegt hat, dass man noch einen halbwegs funktionierenden Kündigungsschutz hat, dass das Kurzarbeitergeld verlängert worden ist, dass es Arbeitszeitkonten in den Betrieben gab. Also alles Maßnahmen, die mit Hartz IV überhaupt nichts zu tun hatten. Und ich finde diesen Kurzschluss verwunderlich, dass überall in der Gesellschaft oder fast überall angenommen wird, Hartz IV sei dafür verantwortlich. Es gibt ganz, ganz viele Gründe anzunehmen, dass Hartz IV dazu überhaupt nichts beigetragen hat.
Zurheide: Jetzt sagen Sie, wir sind längst auf dem Weg in eine andere Republik, die prekären Beschäftigungsverhältnisse habe ich auch vorhin angesprochen. Rund ein Viertel, also fast so viel wie in den Vereinigten Staaten ist es inzwischen in der Bundesrepublik Deutschland. Warum hat das aus Ihrer Sicht mit Hartz IV zu tun?
Butterwegge: Ja, weil Hartz IV immer Nachschub für den Niedriglohnsektor erzeugt. Man hat ganz scharfe Zumutbarkeitsregeln mit Hartz IV eingeführt, man muss jeden Job annehmen, auch wenn er nicht tariflich oder ortsüblich bezahlt wird. Und das bedeutet natürlich, jemand ist gezwungen, eben auch solche prekären Beschäftigungsverhältnisse – Minijobs, Midijobs, Leiharbeit, Zeitarbeit, Werkverträge und Ähnliches mehr – anzunehmen, um die Erfordernisse zu erfüllen, die es bei Hartz IV gibt, um in den Leistungsbezug hineinzugeraten. Und es gibt ein scharfes Sanktionsregime zusätzlich. Also, wer Pflichtverletzung begeht, wer Stellen nicht annimmt oder Weiterbildungsangebote ausschlägt, der bekommt starke Abzüge, wenn er jung ist sogar beim zweiten Mal, alle Leistungen gestrichen, sowohl die Geldleistungen als auch die Zuschüsse für die Miete und die Heizkosten.
Zurheide: Auf der anderen Seite gibt es inzwischen den Mindestlohn, oder es wird ihn geben jetzt im kommenden Jahr. Wird damit nicht ein Grundkonstruktionsfehler, wenn man Ihnen denn folgt, wird der nicht beseitigt, den man eigentlich schon eher hätte beseitigen können, aber immerhin, er wird jetzt beseitigt ... Wird der was ändern?
Butterwegge: Ja, das wäre vielleicht vor zehn Jahren eine Möglichkeit gewesen, Hartz IV gewissermaßen nach unten sozial abzusichern. Aber ...
Zurheide: Klammer auf: Das ist übrigens nicht passiert, weil auch die Gewerkschaften das damals nicht wollten, das muss man, glaube ich ...
Butterwegge: Ja, einige Gewerkschaften hatten Sorge um die Tarifautonomie. Aber ich denke, auch damals gab es schon Gewerkschaften wie die NGG, also Nahrung, Genuss, Gaststätten, die das gefordert haben, auch ver.di. Der Mindestlohn, wie er jetzt kommt von der Großen Koalition, der ist zu niedrig, der kommt zu spät und der kennt viele Ausnahmen. Und gerade für Langzeitarbeitslose, also die von Hartz IV Betroffenen, gilt der Mindestlohn ein halbes Jahr lang nicht. Und das bedeutet natürlich, es wird Drehtüreffekte geben. Das heißt, Unternehmen, die auf Lohn-Dumping setzen, werden Langzeitarbeitslose einstellen, ein halbes Jahr lang unterhalb des Mindestlohns von 8,50 Euro bezahlen, und dann einen neuen einstellen. Und das heißt, gerade Langzeitarbeitslose haben gar nichts vom Mindestlohn. Und auch die Aufstocker, also Menschen, die Hartz IV zusätzlich zu niedrigen Löhnen beziehen, auch die fallen – so sagt die Bundesagentur für Arbeit selbst – nur zu fünf Prozent aus Hartz IV heraus durch diesen Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro. Er müsste einfach höher sein, um seine Funktion erfüllen zu können.
Zurheide: Was müsste denn aus Ihrer Sicht passieren, damit das, was die Initiatoren ursprünglich mal wollten – und wir wollen ja nun nicht unterstellen, dass sie das nicht wollten –, sie wollten fördern und fordern gleichzeitig, was müsste passieren, damit das wirklich geschieht und wirklich Menschen mehr in vernünftige Arbeit kommen?
Butterwegge: Na, also, erst mal würde ich das schon unterstellen. Und ich zeige in meinem Buch ja auch über Hartz IV und die Folgen, dass Gerhard Schröder beispielsweise in Davos auf dem Weltwirtschaftsforum im Januar 2005 sich und seine rot-grüne Koalition dafür gelobt hat, dass man einen der effektivsten Niedriglohnsektoren in Europa geschaffen habe. Man wollte mit Hartz IV nicht die Langzeitarbeitslosigkeit bekämpfen – heute ist jeder dritte Arbeitslose ein Langzeitarbeitsloser –, sondern man wollte die Löhne senken und man wollte dafür sorgen, dass Arbeitslose noch stärker unter Druck geraten. Fördern und fordern war das Versprechen, aber gefördert worden ist sehr wenig. Ich hätte den Vorschlag, dass man Geld in die Hand nimmt, um einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor zu schaffen. Aber dazu müsste man natürlich auch eine andere Steuerpolitik machen, nämlich die stärker heranziehen zur Finanzierung von sozialen Problemen, die sich das leisten können. Also Gutverdiener, Spitzenverdiener, Kapitaleigentümer, Unternehmer, Manager. Diejenigen, auf die man auch, als Hartz IV gemacht wurde, Druck hätte ausüben können. Man hat aber stattdessen Druck eher auf die Schwächsten in der Gesellschaft ausgeübt.
Zurheide: Das waren die Wertungen von Christoph Butterwegge, der Hartz IV sehr kritisch sieht. Bevor ich mich von ihm bedanke, sage ich: In einer Woche werden wir hier mit Wolfgang Clement reden, der hat das alles initiiert, der hat dann möglicherweise eine andere Sicht. Herr Butterwegge, ich bedanke mich heute aber für Ihre Sicht der Dinge!
Butterwegge: Bitte schön!
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