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Zehn Jahre Lehman-Pleite
"Die Bankenkrise ist in Deutschland noch gar nicht überwunden"

Eigentlich stecke Deutschland immer noch in der Finanzkrise, sagte Gerhard Schick, finanzpolitischer Sprecher Bündnis 90/Die Grünen, im Dlf. Viele der Faktoren, die 2008 eine Rolle spielten, seien auch heute noch da. Zudem erfasse die Krise auch weitere gesellschaftliche Bereiche, etwa die private Altersvorsorge.

Gerhard Schick im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker |
    Der Grünen-Politiker Gerhard Schick am 10.9.2016 beim Kleinen Parteitag in Berlin.
    Gerhard Schick über die Entwicklung seit Beginn der Finanzkrise vor zehn Jahren. (imago / IPON)
    Ann-Kathrin Büüsker: Bei verschiedenen Ökonomen, Analysten und Publizisten ist zu lesen, dass ein solcher Dominoeffekt wie bei der Lehman-Pleite jederzeit wieder möglich wäre. Im Prinzip "Die nächste Finanzkrise kommt bestimmt" – ist das nicht etwas apokalyptisch?
    Gerhard Schick: Wenn man es ganz nüchtern analysiert, was waren die Faktoren, die 2008 zu diesem Ausbruch der Krise geführt haben und zu dieser Kette von Bankenpleiten, dann kann man sich ja anschauen, sind diese Faktoren heute noch da. Und dann sieht man, wir haben immer noch Großbanken, die global tätig sind und wo man nicht weiß, was würde man eigentlich bei einer Schieflage genau mit denen machen. Wir haben immer noch eine viel zu hohe Schuldenlast auf unserer Wirtschaft, private und öffentliche Schulden im Verhältnis zur realen Wirtschaftsleistung. Das ist immer noch nicht in einem guten Verhältnis. Und wir haben immer noch Provisionsberatung, mit der schlechte Produkte verkauft werden an Bürgerinnen und Bürger, die dann nicht wissen, welche Risiken sie vielleicht dann in den Büchern haben. So muss man einfach nüchtern sagen: Viele der Faktoren, die 2008 eine Rolle gespielt haben, sind heute noch da. Und dann wäre es falsch zu meinen, wir seien völlig in Sicherheit. Es gibt aber auch Fortschritte.
    Büüsker: Ja, Herr Schick. Darauf würde ich auch gerne ganz kurz zu sprechen kommen, weil die Politik hat ja durchaus ein paar Maßnahmen getroffen, ein paar Lehren gezogen. Es gibt jetzt auf EU-Ebene einen einheitlichen Bankenabwicklungsmechanismus. In Deutschland wurde noch mal die Einlagensicherung verbessert. Sind das Maßnahmen, die tatsächlich helfen können?
    "Ein wirklicher Erfolg ist die Europäische Bankenunion"
    Schick: Ein wirklich großer Erfolg, der allerdings gegen den Willen der Bundesregierung durchgesetzt werden musste, ist die Europäische Bankenunion. Inzwischen werden europäische Banken von einer europäischen Aufsichtsbehörde angeschaut und können nicht mehr die verschiedenen nationalen Aufsichtsbehörden gegeneinander ausspielen. Das schafft Stabilität, denn in einem einheitlichen Wirtschaftsraum, wie Europa es ist, kann es nur funktionieren, wenn es eine Bankenaufsicht gibt, und nicht, wenn verschiedene Aufsichten nebeneinander herarbeiten. Das ist ein großer Erfolg.
    Ansonsten haben wir sehr, sehr viel Papier beschrieben. Es sind viele Gesetze gemacht worden. Aber die Quantität sagt ja nicht, ob damit das eigentliche Ziel erreicht worden ist. Ich will das an einem Beispiel mal deutlich machen: Natürlich müssen die Banken heute mit mehr Eigenkapital wirtschaften als vor zehn Jahren. Aber ist es wirklich genug, wenn sie jetzt nicht mehr zu 97 Prozent ihre Aktivitäten mit Schulden finanzieren, sondern im Durchschnitt mit 96 Prozent? Ist dadurch schon Stabilität erreicht? – Wir meinen, wir brauchen auf jeden Fall eine effektive Schuldenbremse für Banken, sodass die Banken mindestens zehn Prozent ihrer Geschäfte mit Eigenkapital finanzieren müssen. Damit wären sie ja immer noch weniger eigenkapitalfinanziert als die meisten realwirtschaftlichen Unternehmen, aber es wäre deutlich stabiler.
    Büüsker: Geht es aber nicht letztlich bei Bankgeschäften immer auch um Risiko?
    Schick: Natürlich geht es um Risiko, aber es geht darum, dass es genug Verlustpuffer gibt, falls Risiken eintreten. Denn wenn der Verlustpuffer zu klein ist, dann bedeutet das Kippen einer Bank, dass in einem Domino-Effekt, wie wir in 2008 gesehen haben, dann immer auch die nächste Bank kippt. Und das macht es gefährlich. Deswegen muss jede einzelne Bank einen Verlustpuffer haben, der groß genug ist. Und wir wissen aus früheren Krisen, wenn Banken zehn Prozent Eigenkapital oder mehr haben, dass dann fast alle früheren Fälle von Bankpleiten hätten abgefedert werden können mit dem eigenen Verlustpuffer der Bank. Und dass dann nicht die Steuerzahler ran müssen. Und das muss doch unser Ziel sein, dass der Steuerzahler nicht mehr für Bankenpleiten haften muss.
    Büüsker: Der ehemalige Finanzminister Peer Steinbrück hat kürzlich dem "Handelsblatt" gegenüber gesagt - mit Rückblick auf die Maßnahmen, die auch er zur Finanzkrise mitverantwortet hat: "Vielleicht hätten wir in der Tat mehr Banken verstaatlichen oder zwangskapitalisieren sollen", ein bisschen dem Vorbild der Vereinigten Staaten folgen. Wäre das aus Ihrer Sicht der richtige Weg gewesen 2008?
    "Bankenrettung in Deutschland extrem teuer"
    Schick: Ja. Es war ein Fehler, dass in Deutschland unter Peer Steinbrück man gemeinsam mit den Bankmanagern nach einer Lösung gesucht hat. Und damit konnten die Banken bei der Bankenrettung Konditionen durchsetzen und Vorschläge machen, die gut für die Banken waren, aber schlecht für den Steuerzahler. Das ist einer der Gründe, warum die Bankenrettung in Deutschland so extrem teuer geworden ist. 68 Milliarden Euro – das ist schon eine sehr ärgerlich hohe Summe. Was hätte man mit dem Geld alles anderes machen können. In der Schweiz zum Beispiel bei der Großbank UBS, die kippte, da sind die Schweizer anders reingegangen. Und die sind aus der Rettung der UBS mit einem Plus rausgegangen. Das ist in Deutschland leider nicht gelungen. Wir haben ein fettes Minus.
    Büüsker: Ich würde gerne noch mal beim Beispiel USA bleiben, weil da sehen wir jetzt ja, dass es den Banken nach zehn Jahren Finanzkrise bedeutend besser geht. Die stehen bedeutend besser da als die deutschen Kreditinstitute. Wenn wir uns die Commerzbank angucken, die Deutsche Bank, denen geht es ja nicht gut.
    Schick: Korrekt! Die Bankenkrise ist in Deutschland tatsächlich noch gar nicht überwunden. Wir sind immer noch dabei, den Bankensektor zu stabilisieren. Zurzeit wird zum Beispiel über die NordLB diskutiert, und Abwicklung oder Verkauf bei der HSH Nordbank sind auch noch auf dem Weg. Noch ist keine endgültige Lösung gefunden worden. Das zeigt, dass es in Europa und gerade auch in Deutschland nicht gelungen ist, nach 2008/2009 zügig aufzuräumen, sondern dass wir eigentlich immer noch in der Finanzkrise stecken. Und das Schlimme ist: Die frisst sich jetzt in weitere gesellschaftliche Bereiche weiter. Im Moment ist es so, dass vor allem Lebensversicherungen und Pensionskassen diese Niedrigzins-Situation spüren. Die Finanzkrise kommt bei der privaten Altersvorsorge an. Und ich befürchte, da wird es in nächster Zeit noch einige unangenehme Nachrichten geben.
    Büüsker: Gleichzeitig haben wir ja im Zuge der Niedrigzins-Politik der Notenbanken immer mehr Kredite, und zwar auf der ganzen Welt. Kredite sind spottbillig, global wächst der Schuldenberg. Ich meine, das kann ja nicht ewig so weitergehen. Ist da eine neue Krise nicht im Prinzip sogar vorprogrammiert bei dieser globalen Verschuldung?
    "Schuldenniveau ist ein riesen Problem"
    Schick: So ist es! Das hohe Schuldenniveau ist ähnlich wie 2008 ein Riesenproblem und kann eine neue Krise auslösen. Ich sehe auch ganz stark, wie die Krise jetzt durch die ansteigenden Immobilienpreise bei vielen Familien ankommt. Dadurch, dass Finanzinvestoren versuchen, in sichere Anlagen zu gehen – und deutsche Immobilien gelten als sichere Anlagen -, verdrängen sie, wenn es um den Verkauf geht, normale Familien mit ihrem Einkommen. Und so müssen jetzt immer höhere Mieten und Kaufpreise gezahlt werden und so werden Immobilien praktisch vom Gebrauchsgut, was jeder braucht, um ein Dach überm Kopf zu haben, zu einem Finanzanlageprodukt. Das ist eine Fehlentwicklung, die problematisch ist. Sie bedeutet auch eine Umverteilung von unten nach oben. Deswegen treffe ich sehr, sehr viele Menschen, die sagen, wir müssen endlich diese Finanzkrise in den Griff kriegen. Und ich finde, da ist jetzt auch zehn Jahre nach Ausbruch dieser Krise höchste Zeit.
    Büüsker: Und wie würden Sie vorgehen, wenn Sie jetzt den ersten Schritt machen müssten?
    Schick: Meine Analyse ist, in den letzten zehn Jahren sind zwar die richtigen Themen immer wieder angegangen worden. Aber wenn es an den Kern des Problems ging, ist es immer wieder der Finanzbranche gelungen, uns auszubremsen, weil das Kräfteverhältnis sich nicht geändert hat. Auf der einen Seite finanzkräftige Institute, Banken, Versicherungen und Fonds. Und auf der anderen Seite wenige Spezialisten und unabhängige Sachverständige aus der Wissenschaft oder auch aus der Politik, die versucht haben gegenzuhalten.
    Ich glaube und mit mir auch diejenigen, die mit mir die Bürgerbewegung Finanzwende gründen: Es geht nur, wenn Bürgerinnen und Bürger mitmachen, wenn sie das nicht wenigen Spezialisten überlassen, sondern wenn sie ihren Teil dazu beitragen, dass endlich eine Finanzwende gelingt.
    Büüsker: Sie ziehen jetzt ja die Konsequenzen aus der Finanzkrise aus zehn Jahren und der Arbeit daran, und verlassen zum Jahresende den Bundestag, gehen in diese Bürgerbewegung, arbeiten da. Ehrlich gesagt, mein erster Impuls war zu denken: Auweia, der verlässt den Bundestag, also eigentlich den Ort, wo Politik gemacht wird. Ist das nicht ein unglaubliches fatales Zeichen, da zu sagen, ich kann hier nichts bewegen?
    Schick: Das ist nicht mein Grund, zu wechseln. Ich habe hier viel bewegt und ich bin begeisterter Parlamentarier. Aber ich habe sehr viele Menschen getroffen in den letzten Jahren, die mir gesagt haben, da muss dringend was passieren. Aber letztlich, wenn ich dann im Bundestag bin, und ich merke, wie die Finanzbranche wieder was durchgedrückt hat, da können die mir in dem Moment gar nicht helfen.
    Die Bürgerbewegung Finanzwende ist ein Angebot, dass all diejenigen, die sagen, ich kenne mich zwar nicht super aus, aber ich will, dass sich da was ändert, jetzt auch wirklich ihr politisches Gewicht einbringen können in die Diskussion. Und ich glaube, wir haben ein gutes Vorbild. Bei der Petition zur Finanztransaktionssteuer vor einigen Jahren haben Zehntausende mit ihrer Unterschrift gezeigt, sie wollen, dass der Finanzsektor endlich auch seinen Teil zur Finanzierung unserer gesellschaftlichen Aufgaben trägt und deswegen einen Finanztransaktionssteuer eingeführt wird. Und es ist gelungen, das auf den Verhandlungstisch zu bringen.
    Ich glaube, in dieser Art und Weise können wir auch noch bei mehr Themen, wenn viele Leute mitmachen, es schaffen, dass wir die Finanzmärkte wieder in den Dienst der Gesellschaft stellen, eine wirkliche Finanzwende organisieren.
    Büüsker: Das Ganze ist ein unglaublich komplexes Thema. Das stellen wir, glaube ich, auch in diesem Interview wieder fest. Sie haben gerade diejenigen angesprochen, die sich nicht so richtig auskennen, aber vielleicht was bewegen wollen. Dass jetzt in den vergangenen zehn Jahren aus Ihrer Sicht so wenig passiert ist mit Blick auf die Regulierung von Banken, liegt das vielleicht einfach auch daran, dass viele Bürgerinnen und Bürger das ganze System überhaupt nicht mehr durchblicken?
    Schick: Ja, das hat sicher was damit zu tun. Aber genau diese Komplexität ist ja auch das Problem, was wir lösen müssen. Dieser Finanzsektor hat sich verselbständigt an vielen Stellen. Das sind komplizierte Produkte, die kein Mensch mehr verstehen kann, teilweise auch die Aufsichtsbehörden nicht. Und wir müssen es schaffen, diesen Sektor wieder so zu gestalten, dass wir verstehen, was da passiert, dass Aufsichtsbehörden wieder einen Durchblick haben, dass es auch gelingt, Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen und sie sich nicht hinter dieser Komplexität verstecken können. Aber das wird nur gelingen, wenn wir das Kräfteverhältnis ändern. Deswegen meine ich, diese Komplexität ist genau auch ein Teil des Problems, was wir korrigieren müssen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.