vermisse: goldene wälder durchsetzt mit geistern,
schürfwundenfreiheit,
vermisse: halbprofil schlüsselbeinaugen
blicke, ziehe schlussfolgerungen wie leichen
aus dem fluss, bitte
rekonvertiere mich, bitte reiß alles
von den wänden was nicht magie verspricht
(Gedicht von Pernille Leu)
Alles von den Wänden reißen, was nicht Magie verspricht: wer äußert solche Forderungen, wer schreibt sie auf? Jeden Monat senden rund hundert Jugendliche aus ganz Deutschland ihre Gedichte an den Bundeswettbewerb Lyrix. Eine Monatsjury liest die Texte. Mehrmals im Jahr kommen die Gewinner zusammen. Mitmachen kann jeder zwischen zehn und zwanzig Jahren.
Die Jugendliche Josefine Berkholz: "Ich glaub, ich war 14 oder 15 und noch relativ jung - und ich weiß aber, glaube ich noch, dass das Beeindruckendste damals schon war, dass es wirklich andere Menschen gibt, die das tun, die irgendwie atmen und Personen sind, und man irgendwie auch über die Sachen, die man da macht sprechen kann mit Leuten und diese Sachen zusammen machen kann."
Ruta Dreyer: "Als ich das erste Mal eingeladen wurde war ich 15 Jahre alt, also das war letztes Jahr und ich hab mich so riesig gefreut weil- vor allem weil ich halt die Möglichkeit habe, durch Lyrix andere Schreibende kennenzulernen. Vorher war Lyrix halt immer nur das nur diese Internetseite Lyrix. Der Austausch war so eine Riesenerfahrung für mich. Andere Menschen kennenzulernen, die auch schreiben, wir waren dann zum Beispiel in dieser Schreibwerkstatt am Wannsee. Und es gab all diese Riesenerfahrungen, die dann plötzlich vor mir waren. Ich hab dann das Programm bekommen und war total geflasht."
Vor allem von den Freundschaften, die aus den Werkstätten heraus entstanden sind berichten die Lyrix -Preisträger Josefine Berkholz, Ruta Dreyer und Kai Gutacker.
Kai Gutacker: "Es hat ne halbe Stunde gedauert und es entstanden irgendwelche Texte auf Servietten und irgendwelchen Schmierpapieren. Und man fängt auf einmal an, zusammen zu schreiben und sich übers Schreiben kennenzulernen."
Vor allem von den Freundschaften, die bei den Werkstätten entstanden sind, berichten die Lyrix-PreisträgerInnen Josefine Berkholz, Ruta Dreyer und Kai Gutacker.
ich will moleküle befragen die in ihrer summe meine gefühle ergeben/
salzige wortwellen fließend das leere dokument hinter dem vorhang füllen lassen/
wieder staubpulver glitzern sehen und staubkörner knistern hören und staubflockenschnee begreifen
(Gedicht von Aaron Schmidt-Riese)
Jeden Monat gibt es auf der Internetseite www.bundewettbewerb-lyrix.de eine Schreibaufgabe, die eine Zeile aus einem zeitgenössischen Gedicht als Thema vorgibt. Seit seiner Gründung 2008 hat sich der Wettbewerb immer weiter entwickelt:
"10 Jahre ist einfach.. ist 'ne lange Zeit." Sagt Christian Sülz, Deutschlandfunk, eines der Gründungsmitglieder von Lyrix. Im Jahr 2008 trifft er sich mit Eva Hertzfeldt vom Deutschen Philologenverband und die erste Idee zu Lyrix wird - bei viel Kaffee an einem langen Nachmittag - entwickelt.
"Also dass wir mit Lyrix zehn Jahre Jubiläum feiern haben wir gar nicht absehen können im ersten Jahr. Lyrix ist letztlich als spontane Idee entstanden, angelehnt an den Deutschlandfunk Lyrikkalender den es damals gab, und wir haben uns, also Deutschlandfunk gemeinsam mit dem Deutschen Philologenverband überlegt: wie kann man eigentlich mit diesem Kalender auf Jugendliche zugehen, und mit denen ins Gespräch kommen über Lyrik, und was sie unter Lyrik verstehen, wie sie Lyrik im Unterricht wahrnehmen. So ist die Idee zu diesem Wettbewerb entstanden, aber wirklich nur auf 1 Jahr begrenzt."
"Natronsee"
Durch den Natronsee erstarrt der Silberreiher
Landein nur alkalisches Gebiet
Mit den Schiffen begann die Havarie
Nun gehen am Ufer die Menschen zu Bruch
Verkalkte Träume von reiner Luft
und Wasser
versalzt durch weißes Gift
Man sieht nur verhärtete
Menschenleben,
die konservierte Emotionen halten-
Tag für Tag bleibt das Beten, dass jemand das
Land wieder urbar machen wird
Landein nur alkalisches Gebiet
Mit den Schiffen begann die Havarie
Nun gehen am Ufer die Menschen zu Bruch
Verkalkte Träume von reiner Luft
und Wasser
versalzt durch weißes Gift
Man sieht nur verhärtete
Menschenleben,
die konservierte Emotionen halten-
Tag für Tag bleibt das Beten, dass jemand das
Land wieder urbar machen wird
(Gedicht von Laura Schiele)
Christian Sülz: "Das Projekt hat sich aber inzwischen extrem geändert und mittlerweile steht die zeitgenössische Lyrik im Vordergrund. Und aus unserer Sicht hat das dem Projekt sehr sehr gut getan und wir merken auch, dass die Formen der Gedichte, die uns erreichen vielfältiger werden."
"Keine Gefahr"
es relativiert sich schon alles
wo sie schlacke den sandstrand mit schutt überzieht
wo die häuser nicht mehr pastellfarben sind hier
lässt es sich aushalten
hier lässt es sich glauben das wäre hier nicht
eine insel ein schwindel
der uns komplett aus der umlaufbahn kickt
ist es das meer das da rauscht oder ein autobahnkreuz voraus
hier lässt es sich glauben wir wären hier nicht
in gefahr
(Gedicht von Josefine Berkholz)
"Auf dem Bahndamm"
auf dem bahndamm hinterm haus ziehen züge überland
bringen ratternd diesen ort ins wanken lassen einen leichten wind
zurück der die scheiben klirren lässt. bist du noch da? fragt mutter
und tastet nach dir. und hier sind die gepackten koffer
und die fremde hinterm hauptbahnhof. wenn ich bleibe
kommst du dann zurück? aber du bist längst ein rattern
hinterm haus als mutter ihre koffer packt und in die andre richtung fährt.
bringen ratternd diesen ort ins wanken lassen einen leichten wind
zurück der die scheiben klirren lässt. bist du noch da? fragt mutter
und tastet nach dir. und hier sind die gepackten koffer
und die fremde hinterm hauptbahnhof. wenn ich bleibe
kommst du dann zurück? aber du bist längst ein rattern
hinterm haus als mutter ihre koffer packt und in die andre richtung fährt.
draußen ziehen die septembervögel knapp der hitze hinterher
heimwehkrank nach einem heim das niemand kennt.
heimwehkrank nach einem heim das niemand kennt.
(Gedicht von Ansgar Riedißer)
Gedichte von Josefine Berkholz und Ansgar Riedißer. 2009 wurde das Projekt zunächst um ein Jahr verlängert, dann förderte das Bundesministerium für Bildung und Forschung ein weiteres Jahr, weil die Resonanz und die Anzahl der eingeschickten Gedichte überwältigend waren. Von Beginn an richtet sich Lyrix besonders an den Nachwuchs an literarische Ersttäter, aber genauso auch an junge Lyriker, die regelmäßig schreiben und bei Lyrix jeden Monat neue Schreibanreize finden.
Carl Christian Elze: "Das Prinzip ist ja so, dass jeden Monat eine Zeile aus einem zeitgenössischen Gedicht vorgegeben wird, quasi als Schreibanlass- ich kann mir vorstellen dass das einigen hilft, den Texten eine Struktur zu geben - andere schwimmen aber auch ganz frei um dieses Thema herum und machen ihr eigenes Ding und das ist auch schön, dass sie so frei agieren können."
Carl Christian Elze, Lyriker und Monatsjuror: "Ich finde es sehr sehr spannend, wie Lyrix früher Monatsthemen gesucht hat und wie das heute ist - früher gab es einfach Monate, da hieß es 'Herbst' oder 'Nacht' und manchmal hatte schon das Gedicht das dazu passte, und heute sind es Themen wie 'Der Morgen war voll frischer Röstung' und das ist spannender weil die Gedichte sich sehr viel stärker daran abarbeiten müssen - und die Gedichte haben sich geändert- ich glaub früher war mehr Eichendorff."
"Mich freut vor allem dass es Lyrix weiter gibt, und dass also die Möglichkeit da ist für Jugendliche, mit ihren Gedichten sich an eine Adresse zu wenden über die sie mit anderen zusammenzukommen." Sagt der Dichter Nobert Hummelt. Seit vielen Jahren leitet er zusammen mit anderen DichterInnen und Dichtern die Lyrix Werkstätten:
"Die sitzen mit dem Kugelschreiber da oder mit 'nem Bleistift und haben Bücher dabei und gehen runter an den See. Und das ist eigentlich das Schöne was da gleichgeblieben ist."
Einmal im Jahr werden die Gewinner ins Literarische Colloquium Berlin an den Wannsee eingeladen. Es gibt Workshops speziell zu den Gedichten, allgemein zu Fragen der Bühnenpräsenz und Lesungen. Dabei ist der Wettbewerbsgedanke vielleicht auch irreführend, sagt Katja Eder, die zusammen mit Carolin Kramer seit einigen Jahren die Geschäftsführung und das Programm des Wettbewerbs übernommen hat:
"Also es gibt ja kein Ranking, es werden zwölf im Jahr eingeladen und die begegnen sich dann und da gibt es nicht Platz 1-12, sondern alle sind eigentlich prämiert. Insofern glaube ich, dass der Wettbewerbsgedanke nicht so im Vordergrund steht- das sagen auch die anderen Teilnehmer von kulturellen Wettbewerben, dass eigentlich im Vordergrund steht: ich bin dabei, ich kann mich austauschen, und nicht: ich hab die allerbeste Idee oder das allerbeste Gedicht"
"Und das ist schön, zu sehen, dass es auf einmal Leute gibt die man fragen kann: hast du das Gefühl dass das passt? Und denen man das zutraut." Moritz Schlenstedt, ehemaliger Lyrix-Preisträger.
"Also zu meiner Zeit gabs nichts Vergleichbares, kein Lyrix, zu DDR Zeiten nichts vielleicht- in der Schule. Das gab es leider überhaupt nicht, ich war ganz alleine mit dem Schlamassel. Ich wollte einfach Songtexte schreiben, ich wollte eine Band gründen." Sagt der Dichter Carl Christian Elze, Mitglied der Monatsjury.
"Ich wollte Sänger werden. Aber das hat dann leider nicht so gut geklappt und dann war ich plötzlich der Einzelkämpfer, weil es ja trotzdem Freude gemacht hat, diese Klangkörper im Mund zu erzeugen, das war was ganz Elementares, diese Lust am Reimen, die ich jetzt auch wieder bei vielen jüngeren Lyrix TeilnehmerInnen sehe, diese Reimlust, die ja aus der zeitgenössischen deutschen Lyrik weitgehend verschwunden ist, die finden wir aber hier jeden Monat. "
"Ferner von hier"
ich greife in die biegung deiner hüfte
die kante ist so scharf wie knapp vor einer schlucht
ich lege eine hand auf deine brust
ich küsse dein gesicht
als gäbe es ein wir in diesem zimmer
und ein draußen
gäbe es nicht
(Gedicht von Josefine Berkholz)
Carl Christian Elze: "Aber das scheint mir so der normale Weg zu sein, dass man mit dieser Lust am Reimen anfängt und dann ein bisschen müde wird und dann wieder andere Wege findet."
Norbert Hummelt: "Dann führt man Gespräche, die sind vielleicht in der Pause, oder beim Mittagessen oder auf dem Weg zu Bahn, und da fällt mir noch was ganz anderes ein, dass ich sagen kann: Lies doch das mal, kennst du das, oder hast du da schon mal deine Nase reingesteckt?"
Carl Christian Elze: "Man erfährt ja so viel in diesen Gedichten, auch was gibt es da für Abgründe in Familien, oder natürlich Liebe spielt auch schon eine Rolle, Verlassensein, die ersten Erfahrungen mit unglücklicher Liebe.
Ich halte das für eine ganz wichtige Erfahrung zu erkennen, dass Gedichte so etwas können. Das ist auch wieder so eine eigene Erfahrung, dass sie - ich sag das jetzt mal ganz pathetisch, dass sie mich gerettet haben auf irgendeine Weise. Und diese Rettungsversuche sehe ich bei einigen- das beeindruckt mich."
"Dass ich Apfelsaft mag"
Ich wollte Dir nur sagen
dass ich Spiegeleier mag
und Apfelsaft -naturtrüb.
Und dass ich manchmal nachts aufgestanden bin
und dann auf dem Dachboden
Mamas alte Kisten durchsucht habe
nach irgendetwas, das
noch nicht kaputt war.
Ich wollte dir noch sagen,
dass ich es schön fand wie
wir beide ganz weit raus fuhren aufs Land,
wo keiner mehr wohnen will
wegen der Atomkraftwerke.
Wie wir in der Sonne saßen
und die Wolkenberge durchsuchten
nach irgendetwas, das
nicht vorbeiziehen wird.
Ich wollte dir noch sagen,
dass ich noch oft an diese Tage denke,
an denen wir versuchten,
so tief auf den Boden des Teichs zu tauchen
dass wir unsere Hände im Schlamm vergraben konnten.
Wie wir die feuchte Erde untersuchten
nach irgendetwas, das
noch nicht verwest war.
Ich wollte dir noch sagen,
dass die Wände hier sehr grau sind,
grauer als dein Strickpullover.
Und dass ich manchmal nachts aufstehe,
weil das Licht an ist.
Dass ich nicht mehr weiß,
ob es Tag oder Nacht ist
und einsam bin
dass niemand mit mir spricht.
(Gedicht von Victoria Helene Bergemann)
Norbert Hummelt: "Auf jeden Fall will derjenige der schreibt woanders hin. Ganz sicher ist es für junge Schreibende wichtig, etwas zu machen, was nichts mit der engsten Schule zu tun hat, mit der engsten Umgebung oder der Familie zu tun hat, weil da natürlich auch die Problemfelder sind. Und durchs Schreiben wird man erstmal dessen inne, dass man überhaupt jemand ist, der das macht, der schreibt, der das Bedürfnis hat, sich hinweg zu katapultuieren. Im Schreiben erlebt man sich ja doch als jemand der oder die alleine und für sich ist, und sich ausprobiert, und das ist schon, um überhaupt seinen Ort zu finden ganz wichtig, und der ist definitiv anders als der Ort wo man war, bevor man geschrieben hat."
Eigentum
deine hand zieht zoegerlich
grenzen;
grenz-wertig
ist dieses spiel der persoenlichkeitspunktierten ICH DU HAUT strukturen
irrend//irrsinnig
zwischen diesen grenzen
ist mein kopf eine beule
vom gegen-die-wand-laufen, gegen-die-wand-der-intimitaet
hautfaeden durch den raum
bis unter deine tuer
deine hand ein fluoreszierendes moralvakuum
identitaetsimprovisation meiner sterblichen ueberreste
(ist mein koerper jetzt deiner weil du ihn beruehrt hast)
(Gedicht von Ruta Dreyer, Lyrix Preisträgerin)
Josefine Berkholz: "Ich finde es dann immer wahnsinnig faszinierend wenn gerade in diesem unzulänglichen Ding Sprache, wenn man sie präzise benutzt, und anders benutzt, sich Dinge zeigen können die man sonst nicht sagen kann."
Es sind viele Fragen die in den Lyrix Gedichten gestellt werden- entscheidend ist der sprachliche Zugang, das Bild, das erzeugt wird.
"Ich sitze ja auch über den Texten in der Monatsjury und dann findet da jemand so eine ganz präzise Wendung in einer sprachlichen Novität und das aus dem Gehirn von so einem Teenager, ich finds phantastisch." Chris Susan Moeller von der Veranstaltungsreihe Kabeljau und Dorsch mit der auch Lyrix gemeinsame Lesungen veranstaltet.
"Wenn ich Lyrik lese such ich nach Bildern, ich suche nach Momentaufnahmen, das ist eine wichtige Sache, die es für mich ausmacht und diese Bilder müssen nicht zusammenhängen, das ist das Schöne bei Lyrik. Für mich hat Lyrik fast noch mehr mit Wahrnehmung zu tun, im Sinne einer Momentaufnahme." Josephine Bätz, Lyrix-Alumni.
Kai Gutacker: "Es gibt hunderte verschiedene Formen von Liebe zwischen Menschen und es ist immer nur das eine doofe Wort. Und dann kommt ein Gedicht oder ein Vers darauf, dieses Gefühl ganz anders zu erklären, oder aus einer ganz anderen Sichtweise- und das sind glaub ich diese wichtigen Momentaufnahmen, die man dann auch mitnimmt ."
Josefine Berkholz: "Es gibt so ein anders gucken und ein anders sprechen und das ist mit Lyrik zu tun, ich weiß gar nicht was zuerst kommt."
Norbert Hummelt: "Das ist auch für mich selber im Schreiben auch ganz wichtig gewesen, was ist das eigentlich, wie kann man das benennen, erstmal Namen für die Dinge finden, damit fängt eigentlich alles an. "
Moritz Schlenstedt: "Ich weiß nicht was ein Lyriker ist."
Josefine Berkholz: "Ich hab das Gefühl bei Lyrik stärker noch als in anderen Formen, dass es ein Schreiben aber auch ein Komponieren ist. Vielleicht kann man aber auch ganz anders Gedichte schreiben."
"ist das ein nein"
ist das ein nein ist das ein rudel
dünnbeiniger tiere mit flimmerndem pelz
heute sehr früh fehlte mir ein abschiedsschmerz.
dann schlief ich und erwachte mit der frage
ob ich sie einatmen kann, meine welt. ein,
zwei freunde noch, die ich grüßen muss.
dünnbeiniger tiere mit flimmerndem pelz
heute sehr früh fehlte mir ein abschiedsschmerz.
dann schlief ich und erwachte mit der frage
ob ich sie einatmen kann, meine welt. ein,
zwei freunde noch, die ich grüßen muss.
da wandert er, mein fluchtreflex. mit den andern
impulsen im pelz. es ist ein nein von ungezähmter zärtlichkeit
impulsen im pelz. es ist ein nein von ungezähmter zärtlichkeit
(Gedicht von Ansgar Riedißer)
Josephine Bätz: "Ich muss das Bild auch gar nicht vollständig verstehen- solange ich da bin und in dieser Atmosphäre und in der Momentaufnahme, das ist das was mich anspricht und das ist auch das was ich versuche."
Josefine Berkholz: "Es tritt eine andere Facette von Sprache hervor, die normalerweise gar nicht so viel Aufmerksamkeit bekommt. Es gibt so ein paar Leute, die schreiben Gedichte, die sind so schön. Ich hatte ein paar Mal so Momente, wo ich dachte: was kann man denn mit Vokalen machen für abgefahrene Dinge, die Art wie du die Buchstaben aneinander reihst macht mir Gefühle, wow! Und das ganz unabhängig von der Semantik."
Zusammen mit dem deutschen Museumverband werden jeden Monat auch Schulklassen in Museen in ganz Deutschland eingeladen. Es gibt ein Objekt, das die Kuratoren des Museums aussuchen, und eine zeitgenössischen Dichterin oder ein Dichter wird eingeladen, in den Räumen des Museums mit den Schülern zu schreiben. Es geht darum, Schreibanlässe zu geben. Und die Angst vor Versen und Zeilen zu nehmen.
Ruta Dreyer: "Ich hatte das schon oft mit vielen Leuten, das sie so zu mir meinten, ja ich würd auch gern Gedichte schreiben, und dann meinte ich so, na dann machs doch, und die Personen meinten dann zu mir, ne ich kanns nicht, ich kann nicht schreiben. Aber das glaub ich halt nicht weil, wenn man das Bedürfnis hat zu schreiben und dann wirklich aus sich heraus schreibt, dann kommt da auch auf jeden Fall was Authentisches bei raus. Und ich mein, das gibt's einfach nicht, dass man nicht schreiben kann. Und ich glaub dass viele Menschen mit Schreiben so was Hohes verbinden, so Goethe, und dass sie denken, dass es sowas elitemäßges ist, was man nicht einfach so machen kann, und dass es einfach so weit entfernt ist. Man muss aber einfach ne Verbindung zu Lyrik finden und einfach merken dass es was total Nahes ist, was, sobald man es für sich entdeckt und damit anfängt, was überhaupt nicht hoch ist."
"Friedhelms truck stop"
Sie, mit Augenringen, raucht vor
einer quietschgelben Spielhalle
Laster neben der Waschanlage
Er, in Friedhelm’s Truck Stop, isst
Schnitzel ab drei Euro hinter
verdorrten Pflanzen auf der Terrasse
Überfüllte Mülltonnen
Männer in orangefarbenen Westen
Rostige Metallplatten im Wind
Mitten darin ein grüner Fleck Wiese
Wildrosenknospen
Unverdorrt, unberührt, rein
einer quietschgelben Spielhalle
Laster neben der Waschanlage
Er, in Friedhelm’s Truck Stop, isst
Schnitzel ab drei Euro hinter
verdorrten Pflanzen auf der Terrasse
Überfüllte Mülltonnen
Männer in orangefarbenen Westen
Rostige Metallplatten im Wind
Mitten darin ein grüner Fleck Wiese
Wildrosenknospen
Unverdorrt, unberührt, rein
(Gedicht von Alison Kuhn)
die große liebe für uns
war eine geistersehnsucht
bloß/ ein sich im augenblick verflüchtigender / schatten der
von erlösungsstrategien und
reichweitendimensionen träumt
ich sterbe im stehen
und verflüssige eigene worte
(Gedicht von Ruta Dreyer)
Christian Sülz: "Wir haben bei Lyrix seit zwei Jahren eine Geschäftsstelle die alles rund um den Wettbewerb organisiert und das ganze Projekt inhaltlich weiterentwickelt und die Monatsthemen kuratiert. Das sind die Carolin Kramer und Katja Eder und das sind auch die beiden, die seit zwei Jahren sowohl in der Lyrikszene und die beiden Gesichter sind, die die Preisträgerinnen und Preisträger als das Lyrix Projekt wahrnehmen."
ich trage einen Haufen Innereien mit mir rum
dir Alarm schlagen und auf die Straße kotzen wollen
so schlecht steht es um uns
aber keine Revolution bietet Anhaltspunkte
wir sitzen alle im selben Tanker
(Gedicht von Elena Sofie Böhler)
Tatsächlich hat man das Gefühl, dass die Gedichte, so unterschiedlich sie auch sind, doch Anfänge sind, Geschichten, die zuvor noch nicht erzählt worden sind, oder dass diese Gedichte neben der Lust am Sprachspiel und am Klang auch eine Suche abbilden: nach einer Stimme, die jene Erfahrungen, die oft ungebremst und wuchtig aufscheinen, halten kann.
"Schmerz ist ein..."
Schmerz ist ein Meer zum Ertrinken also
stellt sie sich das Echte vor
scharf kantig blau so kalt fast gefroren fast
schneidet man sich an ihm
wir zeichnen ihr mit Creme die Wolken aufs Gesicht
die hinter ihren Augen dunkel lauern
kämmen sie zart wie die Wellen das Wasser
aufgestobener Sand schmirgelt über ihre Haut
als sie Richtung Düne rennt
sie kann wieder laufen und schreit
(Gedicht von Julia Weber)
Christian Sülz: "Es ist also ein Projekt das nie stillstand, das immer wieder etwas verändert und neu aufgestellt und neue Stränge hinzugedichtet hat, und sonst, ich glaube wenn wir bei dem Konzept geblieben wären, dann wäre es heute kein Bundeswettbewerb und würden auch nicht dieses zehnjährige Jubiläum feiern."
Ruta Dreyer: "Ich muss sagen, dass ich am liebsten Gediche von Lyrix- Teilnehmern lese, und ich finde die Gedichte auch richtig gut von den anderen. Und ich hab noch keinen Lyriker oder keine Lyrikerin gefunden, die mein Vorbild sind oder so, und ich find's einfach am schönsten, von Menschen in meinem Alter und von Menschen die ich kenne die Gedichte zu lesen."
Carl Christian Elze: "Man soll diesen Prozess durchleben und noch andere Lyrikplaneten betreten und ganz viel kennenlernen."
"Flut"
versengte haut
ein präzises
nachglühen in den atemwegen
züngelt auf in der verwaisten brise
aufrecht stehst du
als strandgut im zenit
dann wolken wie luftballons
an nieselschnüre geknotet
flutrauschen
häutet stück für stück
deine beschlagene Ohrmuschel
(Gedicht von Anile Tmava)
Norbert Hummelt: "Nun stehen die ja auch erst am Anfang. Und man sollte da nicht zu stark immer das Ziel vor Augen haben, aus mir wird mal ein großer Dichter oder eine große Dichterin. Wenn überhaupt dann besteht ja die Chance darin, ein ganz starkes Bedürfnis für sich selber zu haben: Ich möchte mit Sprache mir die Welt erklären und überhaupt mich besser zurechtfinden, denn ohne dieses Schreiben wäre ich verloren. Das ist viel wichtiger als der Beifall von außen."
Carl Christian Elze: "Ist doch ganz einfach oder? Man muss es nur sagen: Na ein Lyriker, der kann ja gar nicht anders, der muss ja Gedichte schreiben, um nicht auseinander zu fallen."