Gemächlich, von zwei Pferden gezogen, zuckelt der postgelbe Wattwagen von Neuwerk aus über die weite dunkelgraue Fläche, über den Meeresboden der Nordsee, der bei Ebbe trocken liegt. Das Ziel: die Vogelwarte auf der kleinen Insel Scharhörn. Dicht an dicht, soweit das Auge reicht: kleine Sandhäufchen, die Hinterlassenschaften der Wattwürmer. Sie zeigen, wie produktiv dieser Lebensraum ist, erklärt der Leiter des Nationalparks Klaus Jahnke vorn auf dem Kutschbock:
"Die Wahrheit ist, dass die Produktivität dieses Lebensraums ungefähr vergleichbar ist mit der des tropischen Regenwaldes. Eine sehr hohe Dynamik, die hier drinsteckt. Das, was der Wissenschaftler als Turnover-Rate bezeichnet. Sozusagen die Geschwindigkeit, mit der alles wieder umgesetzt wird, die ist so extrem hoch hier, dass man gar nicht sieht, was alles produziert wird. Aber es wird produziert."
Die Grundlage für die immense Biomasse unter dem Wattboden bilden Milliarden von braun-grünen, mit dem bloßen Auge kaum erkennbaren Kieselalgen.
"Und die nächsten, die dann daran fressen, sind ganz, ganz kleine Krebse oder auch kleine Würmer oder kleine Schnecken und so weiter. Und die wiederum werden dann gefressen von den Vögeln zum Beispiel."
Inseln werden größer
Den Nationalpark Hamburgisches Wattenmeer gibt es schon seit 1990. Als UNESCO-Weltnaturerbe wurden die Wattflächen auf niedersächsischem und schleswig-holsteinischem Gebiet vor genau zehn Jahren anerkannt. Der Hamburger Teil folgte zwei Jahre später. Und seitdem, erklärt Nationalparkleiter Jahnke, hätte das Areal eine erstaunliche Entwicklung durchgemacht. Ganz ohne Zutun des Menschen:
"Viele Dünenbereiche haben sich entwickelt zu Salzwiesen-Bereichen. Es gibt mittlerweile auf Nigehörn Bäume, die da wachsen. Dass das alles so schnell passiert, davon sind wir erstmal nicht ausgegangen."
Überrascht hat die Naturschützer auch das Wachstum von Scharhörn und Nigehörn. Früher gab es die die Sorge, die Inseln könnten durch Sturmfluten langsam weggespült werden. Heute beobachten Peter Jahnke und seine Kollegen, wie die Inseln größer werden und zusammenwachsen.
Die Kutsche verlässt den Wattboden, rumpelt über den Sandboden von Nigehörn, dann durch einen Pril, also einen breiten Bach im Watt und erreicht Scharhörn. Ein schmaler Weg führt zur Vogelstation. Brandseeschwalben, Heringsmöwen und Austernfischer segeln über die grüne Dünen-Landschaft. Seit Anfang März macht der 24jährige Jan-Luca Roth seinen Bundesfreiwilligendienst als Vogelwart auf der Insel. Wohnt sechs Monate lang ganz allein auf Scharhörn:
Sturmtaucher, Eistaucher und Wellenläufer
"Jetzt ist das meiste, dass ich mich hier auf den Inseln kaum bewegen kann. Wenn, dann in der Verlandungszone zwischen den beiden Inseln unterwegs bin, weil die ganzen Brutvögel hier sind. Das wäre eine zu große und intensive Störung, wenn ich ständig hier durchs Gebiet laufe, die immer hochscheuche. Es käme zu vielen Brutaufgaben. Und das wollen wir natürlich nicht."
Die Einsamkeit macht Jan-Luca Roth nicht zu schaffen. Im Gegenteil. Braungebrannt, mit Schirmmütze, dickem Strickpulli und Fernglas vor der Brust erzählt der junge Vogelwart von den heftigen Stürmen, die er hier draußen schon erlebt hat.
"Die ganzen seltenen Vögel, die man sonst fast nie zu Gesicht bekommt, dunkler Sturmtaucher, Eistaucher, Wellenläufer, kann man alle beobachten, wenn man sich dann einfach hinstellt. Und auch die ganzen anderen Zug- und Rastvögel: Tausende Limikolen und die ganzen Möwen… alles ist ganz dicht, weil die ganze Insel zur Hälfte verschwindet. Alles kommt viel näher, rückt viel dichter zusammen, das Wetter ist extrem. Und wenn dann noch die Sonne rauskommt und man einen genialen Blick hat, ich hatte dann noch einen Regenbogen – alles ein bisschen sehr romantisch dann in dem Moment, aber sehr genial, einfach so dicht dran zu sein!"
Eine Dreiviertelstunde später geht es zurück zum Wattwagen. Noch vor dem Einsetzen der Flut muss das Watt wieder durchquert werden. Neben dem Wagen mit den angespannten Pferden zeigt der Vogelwart die drei Gitterboxen mit den Fundstücken seiner Spaziergänge auf der Insel:
"Alles Mögliche. Man kann sich das gar nicht vorstellen! Leuchtstoffröhren aus den Tankern, Bälle vom Strand, Kanister, in denen Öl, irgendwelche Flüssigkeiten transportiert werden, Plastiksäcke. Viele Glasflaschen auch. Das sind so die Hauptsachen, die man hier findet. Aber ich habe auch schon Spritzen gefunden zum Beispiel."
Jan-Luca Roth greift sich die ersten Wasserkanister, die der Wattwagen mitgebracht hat. Sein Vorrat für die nächste Woche. Fließend Wasser gibt es auf Scharhörn nicht. Dafür aber, freut sich der Vogelwart, ein schnelles Internet und vor allem: viel Natur, Ruhe und Einsamkeit.