Fernsehkanäle in aller Welt zeigen begeisterte Menschen in Tripolis und Sirte, der Geburtsstadt Gaddafis. Sie zeigen auf Straßen und Plätzen, auf Mauern, liegen sich in den Armen. Kämpfer sind zu sehen, die überall im Land die rot-schwarz-grüne Flagge hissen als Symbol eines neuen Libyen, nun endgültig ohne Gaddafi. Seit dem frühen Nachmittag flimmern aber auch Bilder über die Schirme, die an der Grenze des Erträglichen sind. Bilder von der Erschießung Gaddafis, von seinem blutüberströmten Körper, den die Sender teilweise minutenlang als Standbild zeigen.
Herzlich willkommen zu unserem "Hintergrund"! In den folgenden 18 Minuten wollen wir gemeinsam mit unseren Experten einen Blick nach vorne wagen, auf die Nach-Gaddafi-Ära. Aber zunächst einmal blicken wir zurück: Wer war der Mann, der nicht nur sein Heimatland Libyen fest im Griff hatte, sondern dem ganzen Kontinent seinen Stempel aufgedrückt hat? Hans-Michael Ehl hat für uns die wichtigsten Stationen zusammengetragen im Leben des Mannes, der sich selbst so gerne als Wüstensohn stilisiert hat.
Anfang März 2011 war Muammar al-Gaddafi noch sicher: Sein Volk, alle lieben ihn, sie werden sterben, um ihn zu beschützen. Da hatte er schon Demonstrationen für Reformen in Libyen brutal niederschlagen lassen, Demonstrationen, die in einen erbitterten Bürgerkrieg mündeten. Mindestens 30.000 Menschen sollen getötet worden sein, und Gaddafi selbst meldete sich mehrmals zu Wort. Berühmt seine Rede, in der er den Ratten, wie er die Rebellen immer wieder beschimpfte, drohte, sie zu jagen von Gasse zu Gasse, von Haus zu Haus. Findige Gaddafi-Kritiker mischten die Rede zum Revolutionshit.
Spott, den der Revolutionsführer so sicher nicht erwartet hat. 1942 wurde Gaddafi als Sohn einfacher Beduinen in der Nähe der Stadt Sirte geboren, 1969 wurde er als Retter umjubelt, der Colonel, der zusammen mit einigen Militärs den damaligen libyschen König Idris stürzte. Kurz darauf setzte er seine Vorstellungen einer direkten Demokratie durch, in der Volkskomitees über das Schicksal der Menschen und des Staates entscheiden sollen. Die Grundlagen seines Sozialismus fasste er im sogenannten "Grünen Buch" zusammen. Getrieben vom Hass gegen jede Form der Kolonialisierung, stand Gaddafi für die Eigenständigkeit afrikanischer Staaten ein und schreckte auch vor platten Erklärungen nicht zurück wie bei einer Rede im westafrikanischen Guinea 2007.
"Kennt ihr Pepsi-Cola und kennt ihr Coca-Cola? Wenn wir nach Pepsi-Cola oder Coca-Cola fragen, dann sagen sie immer, das sind amerikanische und europäische Getränke. Aber das stimmt nicht. Denn die Zutaten kommen aus Afrika, sie haben diese Zutaten billig gekauft, haben sie verarbeitet, und dann haben sie uns das teuer verkauft. Wir müssen selbst Cola herstellen und verkaufen."
Seine Vorstellungen von direkter Demokratie und Unabhängigkeit endeten in einer Diktatur, in der Gegner brutal mundtot gemacht wurden. Gaddafi bereicherte sich an den Einnahmen des Ölgeschäfts, sorgte aber auch dafür, dass der Lebensstandard der Libyer zu den höchsten in Afrika gehört. In einem Interview sagte seine Mutter einmal, sie sei sehr stolz auf ihren Sohn und auf seine Erfolge, aber eines könne sie nicht verstehen: Warum er immer darauf beharrt, dass sie erst dann statt des Beduinenzelts ein eigenes Haus bekäme, wenn jede andere libysche Familie ein Dach über dem Kopf habe. Gerüchte, wonach sein Vater ein korsischer Pilot gewesen sein soll, wurden nie bestätigt. Schon 2002 gab Gaddafi die entscheidenden Impulse und die entscheidenden Finanzen zur Gründung der Afrikanischen Union.
Als König der Könige Afrikas steckte er Milliarden in die Infrastruktur und den Tourismus in verbrüderten afrikanischen Ländern, ließ Straßen und Brücken bauen und gewann die Sympathie vieler Afrikaner. Auch deshalb wurde während des Bürgerkriegs lange darüber spekuliert, ob ein afrikanisches Land ihm Asyl gewährt. International fielen Schatten auf seine Biografie, als er sich als Terrorpate einen Namen machte. Gruppen wie die deutsche RAF und die irische IRA trainierten in Libyen, er unterstützte Rebellen im Tschad und in Ghana. Über Libyen sollen sowjetische Waffen nach Palästina gekommen sein und zahlreiche terroristische Anschläge soll er in Auftrag gegeben haben, das Attentat auf US-Soldaten in der Berliner Diskothek La Belle, der Anschlag auf eine US-amerikanische Passagiere, die über der schottischen Ortschaft Lockerbie abstürzte. Die Liste ist lang. Solche Verwicklungen wies er immer weit von sich. So sagte Gaddafi in einem Interview nach der Entführung einer ägyptischen Passagiermaschine nach Malta 1985, die ein blutiges Ende fand:
"Es ist ganz fremd, nach einer Beziehung zu suchen zwischen Libyen und diesem traurigen Vorfall. Unsere Politik und unsere Moral ist absolut gegen Flugzeugentführungen. Wir sind gegen solche Aktionen oder sogar Versuche, wir unterstützen nur den gerechten Kampf für die Freiheit in der Welt."
2003 kam das Umdenken. Gaddafi verzichtete auf Massenvernichtungswaffen, UN-Sanktionen gegen sein Land wurden aufgehoben. Westliche Staatschefs von Tony Blair bis Gerhard Schröder gaben sich in Tripolis die Klinke in die Hand, um vom Ölreichtum des Landes zu profitieren. Bei öffentlichen Auftritten fiel er immer durch seine außergewöhnliche, bisweilen provokative Garderobe auf. Beim G8-Gipfel 2009 in Italien hing an seinem Sakko ein Foto des Freiheitskämpfers Omar Muchtar, der hatte in den 20er- und 30er-Jahren gegen die Kolonialmacht Italien gekämpft. Dessen Sohn hat sich im Frühjahr 2011 übrigens auf die Seite der libyschen Rebellen gestellt, gegen Gaddafi.
Hans-Michael Ehl über den Mann, der immer bestrebt war Geschichte zu schreiben und der nun selbst Geschichte ist.
Für die libysche Übergangsregierung dürfte die Arbeit nun ohne Zweifel einfacher geworden sein. Viele von denen, die Gaddafi bisher noch die Stange gehalten haben, werden nun vermutlich die Hälse in eine andere Richtung wenden. Die Aufgaben werden damit allerdings nicht unbedingt weniger. Peter Philipp hat einige davon für uns zusammengetragen.
Bereits im August war die libysche Hauptstadt gefallen, die Führung des Nationalen Übergangsrates ließ sich zunächst aber Zeit, in die Hauptstadt zu kommen. Es dauerte Tage, bis die ersten führenden Vertreter der neuen Führung in Tripolis auftraten.
"Hiermit geben wir allen bekannt, dass es unser Ziel ist, einen demokratischen Staat einzurichten, der alle internationalen Beziehungen und Verpflichtungen respektiert."
Zumindest die militärische Führung des Übergangsrates sitzt weiterhin im ostlibyschen Bengasi. Von dort nahm der Aufstand gegen Muammar al Gaddafi im Frühjahr seinen Anfang, und Bengasi ist weiterhin das Machtzentrum der Erhebung. Dies wird sich jedoch ändern müssen, wenn der Übergangsrat die politischen Strukturen des Landes erfolgreich reformieren will: Geplant sind unter anderem die Schaffung einer parlamentarischen Demokratie mit Mehrparteiensystem und freie Wahlen innerhalb weniger Monate. Es muss sich aber noch zeigen, ob diese ambitionierten Pläne tatsächlich zu verwirklichen sind. Auch ohne Muammar al Gaddafi stehen aber neue Probleme bevor, die Libyen durchaus noch eine wechselhafte und gefährliche Zukunft bescheren dürften:
So muss das Land bei seinem politischen Neuanfang praktisch bei Null beginnen. Gaddafi hatte es während der 42 Jahre seiner Herrschaft meisterlich verstanden, das System auf seine Bedürfnisse zuzuschneiden. So hatte er dem Volk die Illusion gegeben, in einer basisdemokratischen "Volksgemeinschaft" zu leben – ohne Parteien, ohne Parlament und ohne gewählte Führung.
"Volkskongresse sind das einzige Mittel zum Erreichen einer Volksdemokratie. Alle heute in der Welt vorherrschenden Regierungssysteme sind undemokratisch, weil sie nicht diese Methode übernehmen."
Und hierbei verstand er es, die Interessen der verschiedenen Stämme zu befriedigen, die seit je das gesellschaftliche und politische System Libyens ausmachen. Gaddafi brauchte deren Zustimmung, denn er stammte selbst aus einem kleineren und relativ unbedeutenden Stamm. Der Übergangsrat hingegen wird von angeseheneren und stärkeren Stämmen in der ostlibyschen Cyrenaika angeführt, aber auch er wird sich mit den anderen Stämmen im Land arrangieren müssen, um die Einheit des Landes zu wahren. Wie kompliziert dies zu werden droht, haben die letzten Wochen gezeigt: Immer wieder reklamierten die örtlichen Widerstandskämpfer den Sieg über die Gaddafi-Truppen für sich und forderten entsprechende Machtbefugnisse in ihren eigenen Orten und in der künftigen Führung des Landes. Diese Widerstandsgruppen könnten hier und dort bereits in naher Zukunft zu einem Problem werden: Monatelang waren sie im Kampf um ihre Heimatorte oft ganz auf sich gestellt und haben bestenfalls von den Luftangriffen der NATO profitiert, kaum aber von der Führung des Übergangsrates in Bengasi. Und sie werden nicht so leicht bereit sein, sich dem Übergangsrat unterzuordnen. Notfalls könnte es mit diesen örtlichen Milizen sogar zu Kämpfen kommen, denn es halten sich seit einiger Zeit Gerüchte, dass Waffen und Munition in größerer Menge verschwunden seien – möglicherweise ein Hinweis darauf, dass verschiedene Gruppen von Kämpfern damit rechnen, dass ihr Kampf noch nicht beendet ist.
Größer noch als die Gefahr solcher bewaffneter Auseinandersetzungen ist freilich die des ideologischen Streits vor dem Hintergrund politischer und auch religiöser Differenzen: Die Ermordung des damaligen Militärchefs des Übergangsrates, Younes, vor einigen Monaten gab einen kleinen Vorgeschmack darauf: Younes wurde aller Wahrscheinlichkeit nach von islamistischen Extremisten aus den Reihen des Widerstandes ermordet. Die Tat ist nie völlig aufgeklärt worden, denn der Übergangsrat konnte zu der Zeit kein Interesse daran haben, interne Probleme an die Oberfläche durchbrechen zu lassen.
In der Folge zeigte sich dann allerdings auch, dass auch andere führende Mitglieder des Übergangsrates nicht unumstritten sind. So erklärte Ende September Mahmoud Jibril, ein weltweit angesehener Wirtschaftsexperte, der als amtierender Ministerpräsident des Übergangsrates fungiert hatte, dass er in der künftigen Regierung keim Amt übernehmen werde. Mit Jibril zog sich der wohl auch im Ausland am meisten respektierte Vertreter des Übergangsrates zurück. Die anderen sind für die breite Öffentlichkeit eher ein unbeschriebenes Blatt. Oder – wie der Vorsitzende des Übergangsrates, Mustafa Abdul Jalil – im Grunde vorbelastet: Der ehemalige Justizminister Gaddafis hatte unter anderem die Todesurteile gegen bulgarische Krankenschwestern unterschrieben, denen vorgeworfen wurde, libysche Kinder mit Aids infiziert zu haben. Jalil ist für seine konservativ-religiöse Haltung bekannt – nicht unbedingt die beste Voraussetzung für die Schaffung eines modernen, demokratischen Staatssystems. Bisher aber auch kein Hinderungsgrund für westliche Politiker, ihn zu umwerben und zu hofieren. So US-Außenministerin Hillary Clinton bei ihrem Überraschungsbesuch in Libyen vor wenigen Tagen.
"Ich freue mich, dass wir gemeinsam daran arbeiten, viele Milliarden Dollar eingefrorener Guthaben an Libyen zurückzugeben. Und ich freue mich, dass wir mit noch mehr Geld helfen werden, dass Libyen gefährliche Waffen sicherstellen und vernichten kann. Die US-Regierung und der Kongress stellen dafür 40 Millionen Dollar bereit."
Wie in anderen Ländern der Region ist die Hoffnung auf das Entstehen eines modernen Rechtsstaates denn wohl auch in Libyen fehl am Platz. Zumindest, wenn man dafür einen engen Zeitrahmen anlegt. Solche Veränderungen brauchen ihre Zeit. Mehr noch als in den meisten anderen Staaten des sogenannten "Arabischen Frühlings" ist das in Libyen der Fall. Wegen des gewaltigen Nachholbedarfs, wegen der noch nicht geregelten innerlibyschen Machtverhältnisse und wegen der ungeklärten großen Frage, wohin der Nationale Übergangsrat wirklich steuern wird.
Nicht zuletzt wohl auch, weil das Interesse des Auslandes an den internen Entwicklungen in Libyen nun vermutlich rapide nachlassen dürfte. Böse Zungen sagen dem Westen ohnehin nach, die NATO nur aus Eigeninteresse eingesetzt zu haben. Nämlich, um die Energiezufuhr aus Libyen zu sichern. Der Übergangsrat hat bereits wissen lassen, dass er den Militäreinsatz entsprechend honorieren werde. Da besteht wohl kaum Gefahr, dass dieselben Länder künftig kritisch mit dem Übergangsrat umgehen werden, wenn dieser seine hoch gesteckten Ziele nicht erfüllen sollte…
Der Weg ist nun also frei für einen Neuanfang in Libyen. Doch wie der aussehen kann, wie es weitergehen soll nach diesem Nullpunkt, da sind noch viele Fragen offen. Einige möchte ich jetzt Michael Lüders stellen, Islamwissenschaftler und Politologe und nicht zuletzt Libyen-Kenner.
Moderatorin:
Herr Lüders, die Ergreifung Gaddafis, die ja auch zu seinem Tod geführt hat, ist ein Triumph für die Rebellen, aber auch für einen großen Teil der libyschen Bevölkerung. Aber es ist natürlich auch ein großer Erfolg für die NATO. – Also, sicherlich nicht der Tod Gaddafis, aber seine Festsetzung. Kann sich der Westen einmal mehr bestätigt fühlen in seiner Libyen-Strategie?
Michael Lüders:
Nun, eine wirkliche Libyen-Strategie gab es nicht. Denn es ist ja schon sehr erratisch verfahren worden, angefangen mit der Abstimmung im Sicherheitsrat und den Schwierigkeiten der militärischen Koordination im Anschluss daran. Aber dann haben sich die Dinge für die NATO und für die Rebellen günstig gefügt, am Ende steht nun der Sieg der NATO und der Rebellen. Nicht auszudenken, das Ganze wäre schiefgegangen und die NATO hätte sich jetzt in einen monatelangen blutigen innerlibyschen Machtkampf verstrickt, so aber können die Interventionsmächte zufrieden sein. Sie hatten Glück im Unglück, sie haben gewissermaßen auf das richtige Pferd gesetzt. Und der Nationale Übergangsrat war sehr geschickt in seiner bisherigen Politik, als er nämlich die Stämme, die bislang Gaddafi unterstützt hatten, sukzessive auf seinen Seite gezogen hatte mit den entsprechenden Versprechungen, in einem künftigen, neuen Libyen ebenfalls beteiligt zu sein an der Verteilung von Macht und Ressourcen.
Moderatorin:
Was bedeutet denn der Tod Gaddafis für die westliche Sicherheitspolitik und die Zukunft auch des Bündnisses?
Lüders:
Ich glaube, dass es für die Zukunft des Bündnisses, für die NATO unerheblich ist, ob Gaddafi nun getötet worden ist oder ob er idealerweise vor ein Gericht gestellt worden wäre. Für die arabische Revolution allerdings ist das ein wichtiges weiteres Symbol. Denn es gab ja doch viele, die skeptisch wurden mit Blick auf den Erfolg der arabischen Revolution. Die ägyptischen Militärs versuchten, sie auszubremsen, diese Revolution, und in Syrien, im Jemen ist dieser Kampf noch längst nicht entschieden. Aber gerade in diesen beiden letztgenannten Ländern werden die dortigen Herrscher, Baschar al-Assad vor allem in Syrien, natürlich dieses Schicksal von Gaddafi sich zum Anlass nehmen, noch einmal die eigene Strategie zu überdenken. Denn es ist durchaus vorstellbar, dass die Gewaltherrscher dort genau so enden wie Gaddafi, wenn sie nicht rechtzeitig einlenken.
Moderatorin:
Im Moment, das muss man ja nun auch ganz deutlich sehen, ist Libyen natürlich noch weit entfernt von einer zivilen Gesellschaft, von dauerhaften demokratischen Strukturen ganz zu schweigen. Welche Unterstützung braucht denn das Land jetzt, wenn es um die Entwicklung dieser Strukturen geht, und was kann zum Beispiel die Europäische Union dazu beitragen?
Lüders:
Ich denke, im Wesentlichen muss es jetzt darum gehen, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Das Letzte, was die Europäer, die Amerikaner jetzt tun sollten, wäre, den Libyern Ratschläge zu geben, wie sie ihren künftigen Staat zu organisieren hätten oder innerhalb welchen Zeitrahmens Wahlen idealerweise stattfinden sollten. Das müssen die Libyer selber bestimmen. Man kann sicherlich im Hintergrund versuchen, die eine oder andere Empfehlung auszusprechen, aber alles, was nach einer direkten Intervention von außen aussehen könnte, würde die Position des Übergangsrates und der künftigen Regierung schwächen. Es würde dann der Eindruck entstehen, die libysche Regierung sei ein Lakai anderer Interessen. Und das wäre Wasser auf den Mühlen radikaler Kräfte, möglicherweise auch islamistischer Kräfte, die dann eine entsprechende Frontstellung versuchen könnten. Also, Hilfe für Libyen ja, aber diskret.
An Geld mangelt es nicht, Libyen hat genügend Ressourcen, die müssen jetzt freigegeben werden, die Milliardenbeträge, die im Ausland bislang noch eingefroren sind, aber ansonsten hat Libyen eigentlich gute Rahmenbedingungen, was das Finanzielle betrifft. Und die Bereitschaft der Menschen ist auch sehr groß, etwas Neues zu wagen. Beruhigend ist es vor allem zu sehen, dass es bislang nicht – von wenigen Ausnahmen abgesehen – zu Lynchmorden und Racheaktionen gekommen ist gegenüber den Anhängern des ehemaligen Gaddafi-Regimes.
Moderatorin:
Der Jubel ist ja im Moment groß auf den Straßen, in den Städten in Libyen. Aber mit ein wenig Abstand betrachtet: War es den Libyern wirklich zu wünschen, dass Gaddafi bei diesen Aktionen tatsächlich zu Tode kommt? Denn die juristische Aufarbeitung fällt ja damit quasi flach?
Lüders:
In der Tat. In der idealsten aller Welten wäre es besser gewesen, man hätte Gaddafi lebend vor Gericht gestellt und ihn konfrontiert mit seinen Verbrechen. Es gibt aber auch viele, die sagen, dass ein solches Szenario ein langes Siechtum der letzten Reste des Gaddafi-Regimes bedeutet hätte. Mit seinem Tod ist die Zäsur unmittelbar und ist völlig klar auch für den letzten, verbohrtesten Anhänger von Gaddafi, dass eine Ära zu Ende gegangen ist. Im Gefängnis hätte es möglicherweise noch Überlegungen gegeben, ihn zu befreien oder doch noch mal die Geschichte, das Rad der Geschichte zurückdrehen zu wollen. Jetzt ist der Kampf endgültig entschieden.
Aber Sie haben natürlich völlig recht: Eine Aufarbeitung der 42 andauernden Verbrechen dieser Regierung, unter der die Menschen wirklich furchtbar gelitten haben, wird jetzt wahrscheinlich erst einmal verdrängt werden von neuen Aufgaben und Zielen, insbesondere dem Wiederaufbau des Landes.
Moderatorin:
Vielen Dank, Herr Lüders, für Ihre Einschätzungen!
Herzlich willkommen zu unserem "Hintergrund"! In den folgenden 18 Minuten wollen wir gemeinsam mit unseren Experten einen Blick nach vorne wagen, auf die Nach-Gaddafi-Ära. Aber zunächst einmal blicken wir zurück: Wer war der Mann, der nicht nur sein Heimatland Libyen fest im Griff hatte, sondern dem ganzen Kontinent seinen Stempel aufgedrückt hat? Hans-Michael Ehl hat für uns die wichtigsten Stationen zusammengetragen im Leben des Mannes, der sich selbst so gerne als Wüstensohn stilisiert hat.
Anfang März 2011 war Muammar al-Gaddafi noch sicher: Sein Volk, alle lieben ihn, sie werden sterben, um ihn zu beschützen. Da hatte er schon Demonstrationen für Reformen in Libyen brutal niederschlagen lassen, Demonstrationen, die in einen erbitterten Bürgerkrieg mündeten. Mindestens 30.000 Menschen sollen getötet worden sein, und Gaddafi selbst meldete sich mehrmals zu Wort. Berühmt seine Rede, in der er den Ratten, wie er die Rebellen immer wieder beschimpfte, drohte, sie zu jagen von Gasse zu Gasse, von Haus zu Haus. Findige Gaddafi-Kritiker mischten die Rede zum Revolutionshit.
Spott, den der Revolutionsführer so sicher nicht erwartet hat. 1942 wurde Gaddafi als Sohn einfacher Beduinen in der Nähe der Stadt Sirte geboren, 1969 wurde er als Retter umjubelt, der Colonel, der zusammen mit einigen Militärs den damaligen libyschen König Idris stürzte. Kurz darauf setzte er seine Vorstellungen einer direkten Demokratie durch, in der Volkskomitees über das Schicksal der Menschen und des Staates entscheiden sollen. Die Grundlagen seines Sozialismus fasste er im sogenannten "Grünen Buch" zusammen. Getrieben vom Hass gegen jede Form der Kolonialisierung, stand Gaddafi für die Eigenständigkeit afrikanischer Staaten ein und schreckte auch vor platten Erklärungen nicht zurück wie bei einer Rede im westafrikanischen Guinea 2007.
"Kennt ihr Pepsi-Cola und kennt ihr Coca-Cola? Wenn wir nach Pepsi-Cola oder Coca-Cola fragen, dann sagen sie immer, das sind amerikanische und europäische Getränke. Aber das stimmt nicht. Denn die Zutaten kommen aus Afrika, sie haben diese Zutaten billig gekauft, haben sie verarbeitet, und dann haben sie uns das teuer verkauft. Wir müssen selbst Cola herstellen und verkaufen."
Seine Vorstellungen von direkter Demokratie und Unabhängigkeit endeten in einer Diktatur, in der Gegner brutal mundtot gemacht wurden. Gaddafi bereicherte sich an den Einnahmen des Ölgeschäfts, sorgte aber auch dafür, dass der Lebensstandard der Libyer zu den höchsten in Afrika gehört. In einem Interview sagte seine Mutter einmal, sie sei sehr stolz auf ihren Sohn und auf seine Erfolge, aber eines könne sie nicht verstehen: Warum er immer darauf beharrt, dass sie erst dann statt des Beduinenzelts ein eigenes Haus bekäme, wenn jede andere libysche Familie ein Dach über dem Kopf habe. Gerüchte, wonach sein Vater ein korsischer Pilot gewesen sein soll, wurden nie bestätigt. Schon 2002 gab Gaddafi die entscheidenden Impulse und die entscheidenden Finanzen zur Gründung der Afrikanischen Union.
Als König der Könige Afrikas steckte er Milliarden in die Infrastruktur und den Tourismus in verbrüderten afrikanischen Ländern, ließ Straßen und Brücken bauen und gewann die Sympathie vieler Afrikaner. Auch deshalb wurde während des Bürgerkriegs lange darüber spekuliert, ob ein afrikanisches Land ihm Asyl gewährt. International fielen Schatten auf seine Biografie, als er sich als Terrorpate einen Namen machte. Gruppen wie die deutsche RAF und die irische IRA trainierten in Libyen, er unterstützte Rebellen im Tschad und in Ghana. Über Libyen sollen sowjetische Waffen nach Palästina gekommen sein und zahlreiche terroristische Anschläge soll er in Auftrag gegeben haben, das Attentat auf US-Soldaten in der Berliner Diskothek La Belle, der Anschlag auf eine US-amerikanische Passagiere, die über der schottischen Ortschaft Lockerbie abstürzte. Die Liste ist lang. Solche Verwicklungen wies er immer weit von sich. So sagte Gaddafi in einem Interview nach der Entführung einer ägyptischen Passagiermaschine nach Malta 1985, die ein blutiges Ende fand:
"Es ist ganz fremd, nach einer Beziehung zu suchen zwischen Libyen und diesem traurigen Vorfall. Unsere Politik und unsere Moral ist absolut gegen Flugzeugentführungen. Wir sind gegen solche Aktionen oder sogar Versuche, wir unterstützen nur den gerechten Kampf für die Freiheit in der Welt."
2003 kam das Umdenken. Gaddafi verzichtete auf Massenvernichtungswaffen, UN-Sanktionen gegen sein Land wurden aufgehoben. Westliche Staatschefs von Tony Blair bis Gerhard Schröder gaben sich in Tripolis die Klinke in die Hand, um vom Ölreichtum des Landes zu profitieren. Bei öffentlichen Auftritten fiel er immer durch seine außergewöhnliche, bisweilen provokative Garderobe auf. Beim G8-Gipfel 2009 in Italien hing an seinem Sakko ein Foto des Freiheitskämpfers Omar Muchtar, der hatte in den 20er- und 30er-Jahren gegen die Kolonialmacht Italien gekämpft. Dessen Sohn hat sich im Frühjahr 2011 übrigens auf die Seite der libyschen Rebellen gestellt, gegen Gaddafi.
Hans-Michael Ehl über den Mann, der immer bestrebt war Geschichte zu schreiben und der nun selbst Geschichte ist.
Für die libysche Übergangsregierung dürfte die Arbeit nun ohne Zweifel einfacher geworden sein. Viele von denen, die Gaddafi bisher noch die Stange gehalten haben, werden nun vermutlich die Hälse in eine andere Richtung wenden. Die Aufgaben werden damit allerdings nicht unbedingt weniger. Peter Philipp hat einige davon für uns zusammengetragen.
Bereits im August war die libysche Hauptstadt gefallen, die Führung des Nationalen Übergangsrates ließ sich zunächst aber Zeit, in die Hauptstadt zu kommen. Es dauerte Tage, bis die ersten führenden Vertreter der neuen Führung in Tripolis auftraten.
"Hiermit geben wir allen bekannt, dass es unser Ziel ist, einen demokratischen Staat einzurichten, der alle internationalen Beziehungen und Verpflichtungen respektiert."
Zumindest die militärische Führung des Übergangsrates sitzt weiterhin im ostlibyschen Bengasi. Von dort nahm der Aufstand gegen Muammar al Gaddafi im Frühjahr seinen Anfang, und Bengasi ist weiterhin das Machtzentrum der Erhebung. Dies wird sich jedoch ändern müssen, wenn der Übergangsrat die politischen Strukturen des Landes erfolgreich reformieren will: Geplant sind unter anderem die Schaffung einer parlamentarischen Demokratie mit Mehrparteiensystem und freie Wahlen innerhalb weniger Monate. Es muss sich aber noch zeigen, ob diese ambitionierten Pläne tatsächlich zu verwirklichen sind. Auch ohne Muammar al Gaddafi stehen aber neue Probleme bevor, die Libyen durchaus noch eine wechselhafte und gefährliche Zukunft bescheren dürften:
So muss das Land bei seinem politischen Neuanfang praktisch bei Null beginnen. Gaddafi hatte es während der 42 Jahre seiner Herrschaft meisterlich verstanden, das System auf seine Bedürfnisse zuzuschneiden. So hatte er dem Volk die Illusion gegeben, in einer basisdemokratischen "Volksgemeinschaft" zu leben – ohne Parteien, ohne Parlament und ohne gewählte Führung.
"Volkskongresse sind das einzige Mittel zum Erreichen einer Volksdemokratie. Alle heute in der Welt vorherrschenden Regierungssysteme sind undemokratisch, weil sie nicht diese Methode übernehmen."
Und hierbei verstand er es, die Interessen der verschiedenen Stämme zu befriedigen, die seit je das gesellschaftliche und politische System Libyens ausmachen. Gaddafi brauchte deren Zustimmung, denn er stammte selbst aus einem kleineren und relativ unbedeutenden Stamm. Der Übergangsrat hingegen wird von angeseheneren und stärkeren Stämmen in der ostlibyschen Cyrenaika angeführt, aber auch er wird sich mit den anderen Stämmen im Land arrangieren müssen, um die Einheit des Landes zu wahren. Wie kompliziert dies zu werden droht, haben die letzten Wochen gezeigt: Immer wieder reklamierten die örtlichen Widerstandskämpfer den Sieg über die Gaddafi-Truppen für sich und forderten entsprechende Machtbefugnisse in ihren eigenen Orten und in der künftigen Führung des Landes. Diese Widerstandsgruppen könnten hier und dort bereits in naher Zukunft zu einem Problem werden: Monatelang waren sie im Kampf um ihre Heimatorte oft ganz auf sich gestellt und haben bestenfalls von den Luftangriffen der NATO profitiert, kaum aber von der Führung des Übergangsrates in Bengasi. Und sie werden nicht so leicht bereit sein, sich dem Übergangsrat unterzuordnen. Notfalls könnte es mit diesen örtlichen Milizen sogar zu Kämpfen kommen, denn es halten sich seit einiger Zeit Gerüchte, dass Waffen und Munition in größerer Menge verschwunden seien – möglicherweise ein Hinweis darauf, dass verschiedene Gruppen von Kämpfern damit rechnen, dass ihr Kampf noch nicht beendet ist.
Größer noch als die Gefahr solcher bewaffneter Auseinandersetzungen ist freilich die des ideologischen Streits vor dem Hintergrund politischer und auch religiöser Differenzen: Die Ermordung des damaligen Militärchefs des Übergangsrates, Younes, vor einigen Monaten gab einen kleinen Vorgeschmack darauf: Younes wurde aller Wahrscheinlichkeit nach von islamistischen Extremisten aus den Reihen des Widerstandes ermordet. Die Tat ist nie völlig aufgeklärt worden, denn der Übergangsrat konnte zu der Zeit kein Interesse daran haben, interne Probleme an die Oberfläche durchbrechen zu lassen.
In der Folge zeigte sich dann allerdings auch, dass auch andere führende Mitglieder des Übergangsrates nicht unumstritten sind. So erklärte Ende September Mahmoud Jibril, ein weltweit angesehener Wirtschaftsexperte, der als amtierender Ministerpräsident des Übergangsrates fungiert hatte, dass er in der künftigen Regierung keim Amt übernehmen werde. Mit Jibril zog sich der wohl auch im Ausland am meisten respektierte Vertreter des Übergangsrates zurück. Die anderen sind für die breite Öffentlichkeit eher ein unbeschriebenes Blatt. Oder – wie der Vorsitzende des Übergangsrates, Mustafa Abdul Jalil – im Grunde vorbelastet: Der ehemalige Justizminister Gaddafis hatte unter anderem die Todesurteile gegen bulgarische Krankenschwestern unterschrieben, denen vorgeworfen wurde, libysche Kinder mit Aids infiziert zu haben. Jalil ist für seine konservativ-religiöse Haltung bekannt – nicht unbedingt die beste Voraussetzung für die Schaffung eines modernen, demokratischen Staatssystems. Bisher aber auch kein Hinderungsgrund für westliche Politiker, ihn zu umwerben und zu hofieren. So US-Außenministerin Hillary Clinton bei ihrem Überraschungsbesuch in Libyen vor wenigen Tagen.
"Ich freue mich, dass wir gemeinsam daran arbeiten, viele Milliarden Dollar eingefrorener Guthaben an Libyen zurückzugeben. Und ich freue mich, dass wir mit noch mehr Geld helfen werden, dass Libyen gefährliche Waffen sicherstellen und vernichten kann. Die US-Regierung und der Kongress stellen dafür 40 Millionen Dollar bereit."
Wie in anderen Ländern der Region ist die Hoffnung auf das Entstehen eines modernen Rechtsstaates denn wohl auch in Libyen fehl am Platz. Zumindest, wenn man dafür einen engen Zeitrahmen anlegt. Solche Veränderungen brauchen ihre Zeit. Mehr noch als in den meisten anderen Staaten des sogenannten "Arabischen Frühlings" ist das in Libyen der Fall. Wegen des gewaltigen Nachholbedarfs, wegen der noch nicht geregelten innerlibyschen Machtverhältnisse und wegen der ungeklärten großen Frage, wohin der Nationale Übergangsrat wirklich steuern wird.
Nicht zuletzt wohl auch, weil das Interesse des Auslandes an den internen Entwicklungen in Libyen nun vermutlich rapide nachlassen dürfte. Böse Zungen sagen dem Westen ohnehin nach, die NATO nur aus Eigeninteresse eingesetzt zu haben. Nämlich, um die Energiezufuhr aus Libyen zu sichern. Der Übergangsrat hat bereits wissen lassen, dass er den Militäreinsatz entsprechend honorieren werde. Da besteht wohl kaum Gefahr, dass dieselben Länder künftig kritisch mit dem Übergangsrat umgehen werden, wenn dieser seine hoch gesteckten Ziele nicht erfüllen sollte…
Der Weg ist nun also frei für einen Neuanfang in Libyen. Doch wie der aussehen kann, wie es weitergehen soll nach diesem Nullpunkt, da sind noch viele Fragen offen. Einige möchte ich jetzt Michael Lüders stellen, Islamwissenschaftler und Politologe und nicht zuletzt Libyen-Kenner.
Moderatorin:
Herr Lüders, die Ergreifung Gaddafis, die ja auch zu seinem Tod geführt hat, ist ein Triumph für die Rebellen, aber auch für einen großen Teil der libyschen Bevölkerung. Aber es ist natürlich auch ein großer Erfolg für die NATO. – Also, sicherlich nicht der Tod Gaddafis, aber seine Festsetzung. Kann sich der Westen einmal mehr bestätigt fühlen in seiner Libyen-Strategie?
Michael Lüders:
Nun, eine wirkliche Libyen-Strategie gab es nicht. Denn es ist ja schon sehr erratisch verfahren worden, angefangen mit der Abstimmung im Sicherheitsrat und den Schwierigkeiten der militärischen Koordination im Anschluss daran. Aber dann haben sich die Dinge für die NATO und für die Rebellen günstig gefügt, am Ende steht nun der Sieg der NATO und der Rebellen. Nicht auszudenken, das Ganze wäre schiefgegangen und die NATO hätte sich jetzt in einen monatelangen blutigen innerlibyschen Machtkampf verstrickt, so aber können die Interventionsmächte zufrieden sein. Sie hatten Glück im Unglück, sie haben gewissermaßen auf das richtige Pferd gesetzt. Und der Nationale Übergangsrat war sehr geschickt in seiner bisherigen Politik, als er nämlich die Stämme, die bislang Gaddafi unterstützt hatten, sukzessive auf seinen Seite gezogen hatte mit den entsprechenden Versprechungen, in einem künftigen, neuen Libyen ebenfalls beteiligt zu sein an der Verteilung von Macht und Ressourcen.
Moderatorin:
Was bedeutet denn der Tod Gaddafis für die westliche Sicherheitspolitik und die Zukunft auch des Bündnisses?
Lüders:
Ich glaube, dass es für die Zukunft des Bündnisses, für die NATO unerheblich ist, ob Gaddafi nun getötet worden ist oder ob er idealerweise vor ein Gericht gestellt worden wäre. Für die arabische Revolution allerdings ist das ein wichtiges weiteres Symbol. Denn es gab ja doch viele, die skeptisch wurden mit Blick auf den Erfolg der arabischen Revolution. Die ägyptischen Militärs versuchten, sie auszubremsen, diese Revolution, und in Syrien, im Jemen ist dieser Kampf noch längst nicht entschieden. Aber gerade in diesen beiden letztgenannten Ländern werden die dortigen Herrscher, Baschar al-Assad vor allem in Syrien, natürlich dieses Schicksal von Gaddafi sich zum Anlass nehmen, noch einmal die eigene Strategie zu überdenken. Denn es ist durchaus vorstellbar, dass die Gewaltherrscher dort genau so enden wie Gaddafi, wenn sie nicht rechtzeitig einlenken.
Moderatorin:
Im Moment, das muss man ja nun auch ganz deutlich sehen, ist Libyen natürlich noch weit entfernt von einer zivilen Gesellschaft, von dauerhaften demokratischen Strukturen ganz zu schweigen. Welche Unterstützung braucht denn das Land jetzt, wenn es um die Entwicklung dieser Strukturen geht, und was kann zum Beispiel die Europäische Union dazu beitragen?
Lüders:
Ich denke, im Wesentlichen muss es jetzt darum gehen, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Das Letzte, was die Europäer, die Amerikaner jetzt tun sollten, wäre, den Libyern Ratschläge zu geben, wie sie ihren künftigen Staat zu organisieren hätten oder innerhalb welchen Zeitrahmens Wahlen idealerweise stattfinden sollten. Das müssen die Libyer selber bestimmen. Man kann sicherlich im Hintergrund versuchen, die eine oder andere Empfehlung auszusprechen, aber alles, was nach einer direkten Intervention von außen aussehen könnte, würde die Position des Übergangsrates und der künftigen Regierung schwächen. Es würde dann der Eindruck entstehen, die libysche Regierung sei ein Lakai anderer Interessen. Und das wäre Wasser auf den Mühlen radikaler Kräfte, möglicherweise auch islamistischer Kräfte, die dann eine entsprechende Frontstellung versuchen könnten. Also, Hilfe für Libyen ja, aber diskret.
An Geld mangelt es nicht, Libyen hat genügend Ressourcen, die müssen jetzt freigegeben werden, die Milliardenbeträge, die im Ausland bislang noch eingefroren sind, aber ansonsten hat Libyen eigentlich gute Rahmenbedingungen, was das Finanzielle betrifft. Und die Bereitschaft der Menschen ist auch sehr groß, etwas Neues zu wagen. Beruhigend ist es vor allem zu sehen, dass es bislang nicht – von wenigen Ausnahmen abgesehen – zu Lynchmorden und Racheaktionen gekommen ist gegenüber den Anhängern des ehemaligen Gaddafi-Regimes.
Moderatorin:
Der Jubel ist ja im Moment groß auf den Straßen, in den Städten in Libyen. Aber mit ein wenig Abstand betrachtet: War es den Libyern wirklich zu wünschen, dass Gaddafi bei diesen Aktionen tatsächlich zu Tode kommt? Denn die juristische Aufarbeitung fällt ja damit quasi flach?
Lüders:
In der Tat. In der idealsten aller Welten wäre es besser gewesen, man hätte Gaddafi lebend vor Gericht gestellt und ihn konfrontiert mit seinen Verbrechen. Es gibt aber auch viele, die sagen, dass ein solches Szenario ein langes Siechtum der letzten Reste des Gaddafi-Regimes bedeutet hätte. Mit seinem Tod ist die Zäsur unmittelbar und ist völlig klar auch für den letzten, verbohrtesten Anhänger von Gaddafi, dass eine Ära zu Ende gegangen ist. Im Gefängnis hätte es möglicherweise noch Überlegungen gegeben, ihn zu befreien oder doch noch mal die Geschichte, das Rad der Geschichte zurückdrehen zu wollen. Jetzt ist der Kampf endgültig entschieden.
Aber Sie haben natürlich völlig recht: Eine Aufarbeitung der 42 andauernden Verbrechen dieser Regierung, unter der die Menschen wirklich furchtbar gelitten haben, wird jetzt wahrscheinlich erst einmal verdrängt werden von neuen Aufgaben und Zielen, insbesondere dem Wiederaufbau des Landes.
Moderatorin:
Vielen Dank, Herr Lüders, für Ihre Einschätzungen!