Locker wie in einem Gospelchor der US-Südstaaten geht es zu im Weihnachtslied des Berliner Komponisten Jobst Liebrecht. Es wird geschnipst, hinter dem Gesang von Dietrich Henschel meldet sich das Ensemble United, ein solistisch besetztes Kammerorchester, als Background-Chor zu Wort.
Natürlich hat neue und zeitgenössische Musik der europäischen Avantgarde schon immer Traditionen in sich aufgenommen – aber meistens insofern, als die Komponisten offensiv gegen diese Tradition anarbeiteten. Dieses Dagegenanarbeiten ist in Jobst Liebrechts Nummer "Christmas" höchstens noch in einem humorvollen Unterton zu spüren. Der bekannte Bariton Dietrich Henschel, seit Jahrzehnten immer wieder auf dem Gebiet der zeitgenössischen Musik unterwegs, hat die Kompositionsaufträge zu den Weihnachtsliedern erteilt.
"Humorvoll haben einige der zwölf Komponisten dieses Thema angegangen und haben mit einer Träne im Auge und einer Lachfalte im anderen diese Aufgabe bewältigt: Schreibe ein persönliches Statement zum Thema Weihnachten."
Unglaubliche Materialfülle
Humor scheint in dem Programm tatsächlich so eine Art Katalysator zu sein. Er ermöglicht es den Komponistinnen und Komponisten, sich zwischen kritischem Blick auf und Bekenntnis zu Bräuchen und Traditionen zu bewegen, ohne sich selbst dabei zu widersprechen. Jobst Liebrecht reizt noch etwas anderes: die unglaubliche Materialfülle, aus welcher er im musikalischen Kontext von Weihnachten als Komponist schöpfen kann.
"Ich komme ja aus einer christlichen Familie, also meine Mutter ist Pastorin. Und mit Weihnachten verbinde ich natürlich unheimlich viele auch musikalische Erinnerungen. Also Weihnachten ist ja eine Zeit, wo ganz viel Musik stattfindet und immer stattgefunden hat. Und da gibt es einen ganz großen Raum, wo ich was nehmen kann."
Die Beziehungen des Sängers Dietrich Henschel sowie des Ensembles United Berlin zu Komponisten ganz verschiedener nationaler und kultureller Herkunft sind vielfältig. Über Henschel kamen dabei eher die Kontakte zu namhaften Komponisten aus Deutschland wie Manfred Trojahn oder Detlef Glanert zustande.
"Detlev Glanert hat sich selbst einen Text gedichtet, basierend auf dem Text "Stille Nacht" von dem Weihnachtslied, daraus Extrakte gezogen und die mit einer Klangwolke umgeben, mit wirklich faszinierend schönen Harmonien, die mir zeigen, dass der Mann doch das Thema Weihnachten sehr ernst nimmt – also überhaupt nicht bissig."
Ein bisschen Drama und Qual
Packend ist Glanerts "Stille-Nacht"-Variante, weil er sich die Idee einer kosmischen Stille herausgreift und sie in einer altmodisch expressionistischen Konzentration in Töne setzt.
"Die Idee war, ein Gegengewicht zu schaffen zu der allgegenwärtigen Weihnachtszuckerbeschallung, die man in der Weihnachtszeit erfährt und die einem so schrecklich auf die Nerven geht. Und bei der Gelegenheit ist mir bewusst geworden: Als Sänger habe ich zwar viel mit Musik zu tun zur Weihnachtszeit, aber es handelt sich immer um dieselben Stücke. Immer Messias und Weihnachtsoratorium. Und Kompositionen unserer Zeit zum Thema Weihnachten findet man eigentlich ganz wenig. Ganz im Unterschied zum Thema Passion und zum Thema Christentum überhaupt. Viele Komponisten schreiben Musik zu religiösen Anlässen, aber zu Weihnachten selbst kenne ich eigentlich so gut wie nichts."
Rückhaltlose Freude und Positivität ohne Wenn und Aber ist eben nicht das, was die Komponistinnen und Komponisten zeitgenössischer Musik mit Vorliebe vertonen. Ein bisschen Drama und Qual darf schon immer dabei sein. Und so gerät auch das Weihnachtslied der 32-jährigen Britin Jamie Man in gewisser Weise zu einer Passion: Sie schildert Christi Geburt aus dem Schoß Marians so naturalistisch wie möglich. Wenn schon die Menschwerdung Gottes ein so großes Ereignis ist, dann kann man auch die Geräusche dazu künstlerisch modellhaft darstellen – das ist vielleicht der Gedanke dahinter.
Vladimir Jurowski leitet den Abend
Für Außenstehende ist es überraschend, dass dieser oft kammermusikalisch intime Abend im Werner-Otto-Saal des Berliner Konzerthauses von einem weltberühmten Dirigenten wie Vladimir Jurowski geleitet wird. Mit dem Ensemble United, 1989 im Berlin der Wendezeit gegründet, verbindet Jurowski das Interesse an zeitgenössischer Musik abseits der großen Spezialfestivals. Andreas Bräutigam, heute Geschäftsführer des Ensembles United, war früher Geiger an der Komischen Oper Berlin und hat den jungen Jurowski dort kennengelernt.
"Anfang der 90er-Jahre, auch schon früher, dirigierte sein Vater sehr viel an der Komischen Oper, vor allem Ballette. Und da wurde dieser eine seiner Söhne kurzfristig zum Dirigat von seinem Vater bestellt, und Vladimir hat dann auch die Arbeit fortgeführt. Und in diesem Zuge habe ich ihn einmal angesprochen, ob er denn interessiert wäre, auch neuere Musik zu machen, neue Musik. Er war sofort sehr offen, bereit. Es gab dann wirklich eine mehrere Jahre heftige Zusammenarbeit, bis seine Karriere natürlich sich von unserer löste."
Jedoch nicht soweit, dass Vladimir Jurowski zwischen den Reisen zu seinen Chefpositionen in München, Moskau und Berlin nicht regelmäßig zu seinem Lieblingsensemble für Neue Musik zurückkehrt und eine breite Aufmerksamkeit für dessen Programme ermöglicht – unter anderem für nagelneue Weihnachtslieder.