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"Zeitkratzer Ensemble"
Alter Lou Reed-Lärm auf neuen Instrumenten

Mit seiner Band "The Velvet Underground" stellte Lou Reed die Rockmusik auf den Kopf. Besonders sein Album "Metal Machine Music", das viele bis heute für bloßen Lärm halten, sorgte für Aufregung. Das "Zeitkratzer Ensemble" aus Berlin spielt Reed Elektroklänge auf klassischen Instrumenten. Dabei entwickeln die Stücke immer wieder ein Eigenleben.

Von Raphael Smarzoch | 29.08.2014
    Der US-Rock-Star und Fotograf Lou Reed präsentiert sein Buch "Rhymes" auf einer Pressekonferenz am 14. November 2012 in Paris.
    Der US-Rock-Star und Fotograf Lou Reed am 14. November 2012 in Paris (afp / Eric Feferberg)
    Lou Reed lehnt in seinem Loft zwei Gitarren gegen ihre Verstärker. Schrille Rückkopplungen dröhnen aus den Lautsprechern. Reed braucht gar nichts zu tun. Seine Metal Machine Music spielt sich von selbst. Rauchend betrachtet er seine minimalistische Versuchsanordnung, deren Sound bis heute seine überwältigende Wirkung nicht verloren hat. Eine außer Kontrolle geratene Feedback-Sinfonie, die Reed aufnimmt und anschließend elektronisch bearbeitet.
    "Ich war verliebt in Gitarrenfeedbacks und wollte sie aufnehmen, da ich die Gitarre wirklich sehr schätze und etwas machen wollte, das nicht ein Song war."
    Damit steht Lou Reed im New York der Siebzigerjahre nicht alleine da. Komponisten wie La Monte Young experimentieren mit sogenannten Drones, Töne, die lange gehalten werden. Steve Reich komponiert mit minimalistischen musikalischen Strukturen, die wiederholt werden und eine hypnotische Wirkung entfalten. In der elektronischen Musik entdeckt man durch Verstärkung und Tonbandmanipulationen völlig neue Wege, Klang zu bearbeiten. Lou Reed lässt sich von diesen Ideen inspirieren: Seine Metal Machine Music kleidet den Geist der Avantgarde in die Lederkluft des Rock'n'Roll.
    Fans, die sich das 1975 veröffentlichte Album blind kaufen, bringen es scharenweise wieder zurück. Lou Reeds Plattenfirma ist entsetzt und nimmt die Feedback-Komposition wieder vom Markt. Ein kommerzieller Flop, der sich allerdings als Blaupause für zukünftige Experimente herausstellt. Eine Pionierarbeit, die Einfluss auf die Maschinenklänge des Industrials der Achtzigerjahre hat und auch die Entwicklung der amerikanischen Noise Musik beeinflusst. Bands wie Throbbing Gristle oder Wolf Eyes, die mit ihren elektro-akustischen Lärm-Experimenten mittlerweile durch die ganze Welt touren, hätte es womöglich ohne Metal Machine Music nie gegeben.
    "Es sollte keine Kakofonie aus Lärm sein. Ich wollte damit niemanden verschrecken. Wer aufmerksam hinhört, merkt, dass dort überall Melodien sind. Es war kein bloßer Angriff, nicht nur eine atonale Attacke, sondern etwas sehr Komplexes."
    Obwohl alle Stücke bis ins Detail notiert sind: die Musik entwickelt ein Eigenleben
    Man kann tatsächlich kleine Melodien hören. Mäandernde melodische Fragmente, die im Klangstrom auftauchen und wieder untergehen. Ein Sound, den Reinhold Friedl, Leiter des Berliner Zeitkratzer Ensembles, mit der Musik von Wolfgang Amadeus Mozart vergleicht:
    "Im dritten Satz plötzlich war das total klar und total licht und total transparent und total durchsichtig, und das meine ich mit mozartsche Qualität. Die Sache ist einfach da, und sie ist klar wie eine gewachsene Kathedrale."
    Mit verstärkten Streichern, Bläsern, Schlagwerk und Klavier covert Friedl mit seinem Zeitkratzer Ensemble diese Kathedrale: Lou Reeds Metal Machine Music. Durch die Verstärkung ist es möglich, mit akustischen Instrumenten Sounds zu erzeugen, die elektronisch klingen. Außerdem beherrschen die Musiker ihre Instrumente so, dass sie damit seltsame Geräusche und Klänge produzieren können. Obwohl die Instrumentalisten von einer Partitur spielen, auf der jeder Klang penibel fixiert ist, entwickelt die Musik ein Eigenleben.
    "Wenn ich da im Klavier pfeife und der Percussionist pfeift auf seinem Styropor mit einem Cellobogen, kann ich manchmal gar nicht unterscheiden, wer ist es – wahnsinnig schwierig zu hören, und irgendwann verliert man sich da drin und spielt plötzlich nicht mehr so direkt bei sich, sondern irgendwo da draußen."
    Die Einspielung des Zeitkratzer Ensembles verdeutlicht nicht nur, dass Lou Reeds Metal Machine Music eine sorgfältig ausgearbeitete Komposition ist, in der nichts dem Zufall überlassen wurde. Die Coverversion hat auch eine tiefer gehende Bedeutung: Lou Reed war nicht nur ein Rock'n'Roll Musiker, sondern auch ein Komponist. Vielleicht trägt diese Einsicht dazu bei, die Unterteilung von Musik in ernst zu nehmende und Unterhaltungs-Musik endlich einer Revision zu unterziehen.