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Zeitreisen ins Ich

Ohne Erinnerungen ist der Mensch ein leeres Blatt. Erst ein spezielles Gedächtnissystem im Gehirn erlaubt es jedem Einzelnen, Zeitreisen ins eigene Ich zu veranstalten. So verschafft es ihm das Gefühl, eine einigermaßen einheitliche und kontinuierliche Persönlichkeit zu sein. So wichtig dieses autobiographische Gedächtnis für den Menschen ist, so viele Fragen wirft es noch auf. Wie stark wird es durch soziale Einflüsse geprägt? In welchem Ausmaß verändert es sich im Laufe eines Lebens? Und inwieweit geht diese bewusste Erinnerungsfähigkeit auf unbewusste Wurzeln zurück? Ein interdisziplinäres Forschungsprojekt sucht Antworten und arbeitet an einem bio-psycho-sozialen Modell des autobiographischen Erinnerns.

Von Martin Hubert | 01.05.2005
    Ein heller, karg eingerichteter Raum im Forschungszentrum Jülich. Die lauten, rhythmischen Geräusche kommen aus der schmalen Röhre eines Kernspintomographen in der Raummitte.

    Der Kernspintomograph sendet Magnetfelder aus und stellt mit ihrer Hilfe fest, wo im Gehirn bei bestimmten menschlichen Aktivitäten der Energieverbrauch zunimmt. Der Apparat zeigt den Wissenschaftlern also, welche Hirngebiete für welche Fähigkeiten zuständig sind, zum Beispiel fürs Sprechen, Sehen oder Hören. Bei dem Experiment, das gerade vorbereitet wird, interessieren sich die Forscher für eine ganz bestimmte Art des Erinnerns

    Die medizintechnischen Assistentinnen Gaby Oefler und Barbara Elghahwagi haben eine Testperson auf eine Liege gelegt und festgeschnallt.

    " Stimme: Sie liegen bequem? Dann geht es jetzt erst mal nach oben… "

    Die Liege mit der Testperson wird nach oben gefahren, direkt vor die Röhre des Kernspintomographen.

    " Und zunächst ein klein Stückchen rein: Augen schließen und geschlossen halten …Jawohl, und jetzt können sie wieder öffnen. Und ich fahr sie jetzt langsam ganz rein, das wird jetzt erst mal ein bisschen eng… "

    Nachdem die Testperson in die die enge Röhre des Kernspintomographen eingefahren ist, hören sie eine Stimme. Sie erinnert sie an vergangene Ereignisse ihres Lebens.

    Anna Schwab, die Versuchsleiterin vom Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen hat ihre Testpersonen vor einigen Wochen bereits ausführlich über deren Lebensgeschichte befragt. Jetzt spielt sie ihnen in der Kernspinröhre eine Reihe von Sätzen zu, die mal diese Lebensgeschichten betreffen, mal allgemeine Geschichtsereignisse . Ziel ist es, herausbekommen, welche Hirnareale ausschließlich am autobiographischen Erinnern beteiligt sind.

    Das menschliche Gedächtnissystem arbeitet hochgradig arbeitsteilig, es existieren also unterschiedliche Gedächtnisformen. Neben einem "prozeduralen Gedächtnis", das z.B. die Programme für automatisierte Bewegungsabläufe wie das Radfahren speichert, existiert ein so genanntes "semantisches Gedächtnis": Es enthält unser sachliches Weltwissen:

    Wie hoch ist die Zugspitze, wann starb Adenauer ?

    Zusätzlich gibt es das emotionalere "episodische Gedächtnis": es bezieht sich auf Ereignisse, die zeitlich und örtlich eingrenzbar sind , auf erzählbare Episoden mit Anfang und Ende:

    Das Hochzeitsfest von Kathrin und Jürgen letzten August; der Bretagneurlaub 2003 mit Verena.

    Die meisten Forscher sind überzeugt, dass dieses episodische Gedächtnis mit dem autobiographischen Gedächtnis identisch ist, mit dem Erinnerungsvermögen an persönliche Ereignisse der Lebensgeschichte, die für das eigene Ich relevant sind.

    Welche innere Dynamik besitzt dieses ichbezogene Gedächtnissystem? So heißt die Leitfrage des Forschungsprojekts, an dem Anna Schwab mitarbeitet. Sein Titel: "Autobiographisches Gedächtnis: Entwicklung und Hirnkorrelate von Kindheit bis Alter".

    " Wir untersuchen das autobiographische Gedächtnis an unterschiedlichen Personengruppen, d.h. Personen, die in unterschiedlichen Alterskohorten sich befinden. Ich habe vor einem Jahr eine Untersuchung durchgeführt mit Probandinnen, die älter als 60 waren. Jetzt war die zweite Untersuchung, heute stattgefunden mit Probandinnen, die im mittleren Bereich ihres Lebens stehen, im Alter zwischen 37 und 42, d.h. sie haben bereits eine bestimmte Lebenserfahrung hinter sich, aber auch genauso viel Leben vor sich und die Kollegin von mir, die untersucht junge Erwachsene im Alter von 21, also wo sie in ihr eigenes Leben eintreten, und dann möchten wir noch Jugendliche im Zeitraum der Pubertät untersuchen. "

    Was das von der Volkswagenstiftung unterstützte Forschungsprojekt besonders auszeichnet: es arbeitet interdisziplinär. Hans-Joachim Markowitsch, Professor für Psychologie an der Universität Bielefeld und einer der beiden Projektleiter:

    " Wir haben uns eben vorgenommen, autobiographisches Gedächtnis wirklich in seiner Komplexität zu untersuchen: einmal die individuelle Ebene, das könnte man auch die psychologische Ebene nennen, wie geht das Individuum mit Gedächtnis um, mit biographischem Gedächtnis; dann die Hirnebene, das wäre dann die Bio-Komponente, was macht das Gehirn da, welche Entwicklung macht das Gehirn dabei durch und inwieweit gibt es dann ein Aufeinander-Eingestelltsein der Hirnentwicklung mit der biographischen Gedächtnisentwicklung. Und dann eben als drittes die soziale Komponente: wie entwickelt sich autobiographisches Gedächtnis aus der Verbundenheit einer Person mit anderen Personen. "

    Für diese soziale Komponente des autobiographischen Gedächtnisses interessiert sich vor allem der zweite Leiter des Forschungsprojekts, der Sozialpsychologe Harald Welzer vom Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen. Er möchte verstehen, warum Menschen unbedingt an einer eigenen Sicht der Dinge festhalten, obwohl die Fakten dagegen sprechen:

    Ein brisantes Beispiel : die Erinnerungen von Angehörigen der Kriegsgeneration in Deutschland. Obwohl es Belege dafür gibt, dass die deutsche Wehrmacht Kriegsverbrechen begangen hat, bestreiten das viele ehemalige Soldaten auf das Entschiedenste. Hat das nur ideologische Gründe?

    " Den deutlichsten Konflikt in dem Zusammenhang gab es sicher bei der so genannten Wehrmachtsausstellung, wo deutlich wurde, dass die Ausstellungsmacher einen völlig anderen Blick auf die Geschichte haben als diejenigen, die Angehörige der so genannten Erlebnisgeneration waren. Und ich komme als Sozialwissenschaftler nicht weiter in der Analyse solcher Phänomene, wenn ich sie bloß darauf zurückführe, dass es sich dabei um Vorlieben , das eine gegenüber dem anderen lieber zu erinnern oder weniger lieb zu erinnern, wenn ich sozusagen in so einem Feld das betrachte oder sage, Leute, die das anders sehen, die verdrängen die Vergangenheit oder verleugnen sie. Sondern es scheint mir so zu sein, und da wird die Zusammenarbeit mit Neurowissenschaftlern interessant, dass wir in unterschiedlichen Lebensaltern unterschiedlich auf unsere Lebenserfahrungen Bezug nehmen. "

    Mit seiner komplexen Fragestellung betritt dieses Forschungsprojekt Neuland. Ziel ist es, überhaupt erst einmal ein interdisziplinäres, "bio-psycho-soziales" Modell des autobiographischen Gedächtnisses zu erstellen, von dem aus weitere Forschungen möglich werden. Die beiden Projektleiter Hans Markowitsch und Harald Welzer klammern dabei bewusst eine grundlegende Frage aus, die zwischen Soziawissenschaftlern und Hirnforschern oft zu Streit führt: Sind die Aktivitäten von Neuronen nur das Begleitphänomen psychischer Erlebnisse oder verantworten sie diese bzw. sind sie sogar mit ihnen identisch? Stattdessen konzentriert sich das Forschungsprojekt pragmatisch darauf, empirische Wechselbeziehungen zwischen Hirn und Psyche festzustellen. Ausgangspunkt ist die These, dass das autobiographische Gedächtnis von Anfang an einen sozialen Charakter besitzt. Es verhilft dem Einzelnen zu einem klaren Selbstbezug, zu einer konturierten Sicht seines eigenen Ich. Aber dies geschieht, indem diese Sicht des eigenen Lebens immer wieder mit den Lebensgeschichten anderer Menschen abgeglichen und synchronisiert wird. Harald Welzer:

    " Es ist eigentlich ein System, was Menschen entwickelt haben, um, wenn man so will, sich selbst immer adressieren zu können. Wir müssen uns abstimmen können, wir müssen Verlässlichkeiten produzieren können, wir müssen deshalb auch synchrone Lebensgeschichten haben und synchrone Erzählmuster und alles dieses leistet das autobiographische Gedächtnis, es stellt ja diese Kontinuität nicht nur für sich selbst her, also dann, wenn ich mich in meiner eigenen Rückschau betrachte, sondern es stellt es ja auch für die anderen her, mit denen ich mich ja abstimmen muss, ob meine Geschichte tatsächlich so gewesen ist. "

    Das Problem ist allerdings: die Wurzeln des bewussten autobiographischen Erinnerns reichen in die vorsprachliche, also unbewusste Zeit der frühen Kindheit zurück. Hans-Joachim Markowitsch und Harald Welzer mussten daher auch diesen unbewussten Grundlagen des biographischen Gedächtnisses nachspüren. Sie taten dies in enger Zusammenarbeit mit führenden Säuglingsforschern und Entwicklungspsychologen.

    Bis ins zweite Lebensjahr hinein machen Säuglinge und Kleinkinder hauptsächlich Erfahrungen mit der Welt, indem sie mit den Bezugspersonen interagieren. Sie lachen und weinen, machen sich schreiend oder strampelnd bemerkbar, wenn sie hungrig sind oder spielen möchten. Und sie sind unwillig, wenn etwas nicht so richtig klappt. Die Erfahrungen aus diesem Wechselspiel mit den Bezugspersonen gehen in ein sogenanntes implizites Gedächtnis ein.

    Der Ausdruck " implizites Gedächtnis" steht weniger für eine eigene Gedächtnisform wie das prozedurale oder das episodische Gedächtnis, sondern bezeichnet den körperhaft-unbewussten Charakter vieler Erinnerungen: diese Erinnerungen lassen sich nicht bewusst abrufen , sondern sie stecken sozusagen "in der Haut" eines Menschen. Implizite Erinnerungen machen sich zum Beispiel dann bemerkbar, wenn jemand in eine Situation gerät, die emotional gesehen einer früheren, unbewusst erfahrenen Situation ähnelt. Ein krasses Beispiel sind traumatische Erfahrungen aus der Kindheit. Ein Mensch, der als baby etwa im letzten Augenblick aus den Flammen eines Hauses gerettet wurde, kann noch als Erwachsener mit schrecklicher Angst auf jedes größere Kaminfeuer reagieren. Die alten emotionalen Erinnerungen schwelen unterschwellig weiter. In den ersten beiden Lebensjahren ist das Gedächtnis nahezu vollständig körperhaft-implizit.

    Colin Trevarthen von der Universität Edinburgh ist einer der Pioniere der modernen Säuglingsforschung. Er hat sich auch mit den Grundlagen des impliziten Gedächtnisses beschäftigt. Seiner Meinung nach bilden Säuglinge vorsprachliche innere Repräsentationen ihrer Bezugspersonen aus: sie halten wiedererkennbar fest, wie sich die Bezugspersonen bewegen, welche Mimik und Gestik sie haben, welche Emotionen sie ausstrahlen. Diese inneren Repräsentationen entstehen und verändern sich im Lauf der Interaktionen mit den Bezugspersonen. Colin Trevarthen unterscheidet dabei zwei Arten von Intersubjektivität:

    " Wir sprechen von primärer Intersubjektivität, wenn babies und ihre Bezugspersonen direkt mimisch und gestisch miteinander kommunizieren. Das findet vor allem nach der sechsten Woche statt. Ab dem 9. Lebensmonat entdeckten wir beim baby Tendenzen zu eine "sekundären Intersubjektivität" : da erfinden Mutter und Kind etwas gemeinsames im Spiel mit einem Objekt. Die Mutter signalisiert dem Kind mit Worten und Gesten, was das Kind mit dem Objekt machen soll, das Kind nimmt das auf, modifiziert es vielleicht ein bisschen und führt die Aktion schließlich aus. Beide handeln also kooperativ, sie teilen sich eine Aufgabe. "
    Das baby kann sein Handeln mit dem seiner Bezugspersonen in elementarer Weise synchronisieren. Man einigt sich, wie man mit einem Dritten umzugehen hat. Babies können nach Colin Trevarthen sogar noch mehr: sie leben nicht nur in voneinander getrennten Inseln aus Gegenwartserlebnissen, sondern streben danach, Verbindungen in der Zeit herzustellen.

    " Ich glaube, dass sich auch Babys schon stark dafür interessieren, wie die Dinge sich entwickeln . Sie haben zum Beispiel ein Gespür für das Ende eines Liedes, das vielleicht schon vor einer geraumen Zeit erklungen ist. Ich denke, mit diesem Gespür setzt auch die Fähigkeit der Kinder ein, Verbindungen zwischen ihren Augenblickserlebnissen herzustellen, um größere "Geschichten" im allgemeinen Sinne des Wortes zu formen. Es ist hochinteressant, dass die narrativen Perioden, die wir im Singsang von Babys gefunden haben, bei ungefähr 30 Sekunden liegen und dass die Kinder jede dieser 30-Sekunden-Perioden in kleinen Variationen wiederholen, sodass diese sich miteinander verbinden und eine größere Sing- oder Erzähleinheit bilden. Und ich denke, das ist eine angeborene Eigenschaft des Geistes: so arbeitet er grundsätzlich. "

    Colin Trevarthens Forschungen legen also nahe, dass es drei frühkindliche Voraussetzungen für die Ausbildung eines bewussten autobiographischen Gedächtnisses gibt.

    Erstens: Erfahrungen aus Interaktionen zwischen dem baby und seinen Bezugspersonen, die auf Verhaltenssynchronisierung angelegt sind. Zweitens: interne geistige Repräsentationen dieser Bewegungs- und Verhaltensmuster. Drittens: den inneren geistigen Drang, Erlebnisperioden miteinander zu größeren Einheiten zu verbinden.

    Aber wie entsteht daraus eine bewusstes Erinnerungsfähigkeit, die mit einem Konzept des eigenen Selbst verbunden ist? Die New Yorker Entwicklungspsychologin Katherine Nelson hat zu dieser Frage jahrelang ausführlich gearbeitet. Ihre Antwort: Bewusstes autobiographisches Erinnern beginnt allmählich ab dem zweiten Lebensjahr und legt sich wie ein neuer Rahmen über die bereits vorhandenen unbewussten Inhalte des impliziten Gedächtnisses. Die Kinder üben dieses neue, ichbezogene Erinnern in Gestalt von so genannten Ko-Narrationen ein. Sie lernen von den Erwachsenen, wie man einzelne Erinnerungsbruchstücke erzählerisch miteinander verbindet.

    " Das zwei Jahre alte Kind, das von seiner Mutter nach Erinnerungen an bestimmte Ereignisse gefragt wird, schlägt spontan ein Thema an. Die Mutter dominiert aber anfangs, sie leitet die Konversation und damit die Erinnerung an. Sie verleiht ihr ein Gerüst, indem sie wichtige Dinge wiederholt und den Erinnerungen des Kindes zeitliche und logische Sequenzen einfügt. Zum Beispiel mit Sätzen wie " Puppe war vorher schon da, hat dir Opa doch geschenkt, weißt du noch?" Und die Mutter fragt das Kind nach bestimmten Details und bringt einen emotionalen Inhalt hinein : "Mit wem hast du gespielt? Hat dir das gefallen ?" Damit verleiht sie der Geschichte für das Kind eine persönliche Bedeutung, sodass sie auch in der Zukunft noch interessant ist. "

    Anfangs erzählen die Kinder also selber noch kaum in ichbezogener Weise . Sie schildern vielmehr generelle Ereignisabläufe wie "Am Geburtstag gab es erst die Geschenke, dann Torte, dann wurde gespielt, dann gingen wir ins Bett ". Erst über den von Katherine Nelson so genannten "memory talk" mit den Erwachsenen wird die Ich-Perspektive ins episodische Erinnern eingeführt. Das selbstbezogene Erinnern wächst aus einer sozialen Rede-Praxis heraus.

    " Wenn das Kind ein bisschen älter ist und sich an den memory talk gewöhnt hat, fängt es an, mehr und mehr seine eigenen, für ihn wichtigen Erinnerungsdetails einzufügen. Erst ab dem dritten oder vierten Lebensjahr nehmen die Kinder dann wirklich eigenständig an diesen Konversationen teil. Sie entwickeln über diese Konversationen eine Gefühl der Einheit und der Kontinuität ihres Selbst. Außerdem werden sie fähig, spezifische Vergangenheiten zu erkennen und überhaupt ein Konzept von Vergangenheit auszubilden. Das geht einher mit dem Aufbau eines Wortschatzes für die Vergangenheit und die Zukunft und die Kinder verstehen allmählich, was Ausdrücke wie "letzte Nacht", "gestern", "letzte Woche" oder sogar "nächsten Sommer" bedeuten. "

    Die Entstehung des autobiographischen Gedächtnisses im memory talk verläuft in Etappen, die eng an bestimmte Phasen der Hirnreifung geknüpft sind.

    Ab dem zweiten Lebensjahr bilden sich die Sprachregionen des Gehirns aus. Ab etwa dem vierten Lebensjahr entwickeln sich die Regionen im Gehirn, die überhaupt erst einen bewussten Abruf von Erinnerungen ermöglichen

    Wenn das bewusste autobiographische Gedächtnissystem entstanden ist, gehen die frühen impliziten Erinnerungen aus den vorsprachlichen Interaktionen nicht verloren. Nur können sie nicht direkt im Rahmen des nunmehr dominierenden sprachorientierten Gedächtnissystems artikuliert werden. Sie bilden sozusagen den körperlich-emotionalen Kontext oder den einflussreichen Untergrund, auf dem sich alle weitere autobiographische Erinnerungsarbeit das ganze Leben hindurch vollzieht. Und die braucht noch einige Zeit, um gut zu funktionieren.

    Erst mit dem Ende der Jugendzeit ist die Kompetenz, autobiographisch zu erzählen, vollständig ausgebildet. Aber schon die Intensität und der Stil des mit dreieinhalb Jahren praktizierten "memory talk" legen fest , woran sich Kinder mit fünf bis sechs Jahren noch erinnern können. Studien von Kathrine Nelson zeigen, dass Kinder sich nur an diejenigen Bilder einer Ausstellung erinnern, über die die Eltern mit ihnen kurz danach gesprochen haben. Die Regel heißt: häufiger und ausführlicher memory talk führt zu besserem späteren Erinnerungsvermögen. Viele Kinder haben außerdem ein umso besseres Gedächtnis an frühere Zeiten, je befriedigender und freundlicher ihre Interaktionen mit den Eltern generell verliefen.

    Autobiographisches Erinnern hat also offenbar von früh an ganz direkt etwas mit sozialer Anerkennung und Synchronisierung zu tun. Aber wie geht es weiter, nachdem das autobiographische Gedächtnis etabliert worden ist? Darüber gibt eine Studie an fünfzehn zwanzig- und einundzwanzigjährigen Testpersonen Aufschluss, die Sylvia Oddo vom Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen durchgeführt hat .

    Auch in dieser Studie wurden den Testpersonen im Kernspintomographen Sätze aus ihrer eigenen Lebensgeschichte zugespielt – abwechselnd mit Sätzen über
    allgemeine Geschichtsereignisse aus der jeweiligen Zeit. Die persönlichen Erinnerungen waren dabei in vier verschiedene Zeitphasen unterteilt.

    Erinnerungen aus der Zeit des Kindergartenalters zwischen drei bis sechs Jahren; Erinnerungen aus der Grundschulzeit bis zum zehnten Lebensjahr; Erinnerungen aus der Pubertät bis zum Alter von 17 Jahren. Und kürzliche Erinnerungen der Testpersonen, die nicht älter als 1 Jahr zurückliegen.

    Die Ergebnisse der Studie zeigen, wie das autobiographische Gedächtnis sich über diese Zeitphasen hinweg konsolidiert:

    " Hier ist eigentlich interessant, dass eben die Erinnerungen keine besonders unterschiedlichen Aktivierungsmuster bilden, ob es jetzt um das letzte Jahr geht, als sie 18 oder 19 waren, ob es um das Alter von 15 Jahren geht oder so – aber für die frühen Erinnerungen bildet sich ein anderes Muster, was wiederum dafür sprechen würde, dass ähnlich wie bei den älteren Befragten sich tatsächlich hier ein System quasi abbildet, das noch in der Entwicklung begriffen ist, das noch nicht diese Form des Ablegens von Erfahrungen entwickelt hat, wie das später der Fall ist. "
    Wenn sich die 20 und 21jährigen Testpersonen zum Beispiel an kürzliche Ereignisse erinnern, ist zum Beispiel der so genannte retrospinale Cortex aktiv, bei Erinnerungen an ihre Kindheit dagegen nicht.

    Die Hirnforscher gehen davon aus, dass der retrospinale Cortex für den Abruf gespeicherter Informationen und für die bildliche Vorstellung von Ereignissen wichtig ist.

    Die neuronalen Areale, die für bewusste autobiographische Erinnerungsarbeit zuständig sind, werden also offenbar erst mit dem Ende der Pubertät vollständig funktionstüchtig. Das passt gut zu den entwicklungspsychologischen Ergebnissen von Katherine Nelson, dass erst am Ende des Jugendalters die Kompetenz zum autobiographischen Erzählen voll and ganz ausgebildet ist.

    Ein anderes Ergebnis der Studie von Silvia Oddo zeigt, dass innerhalb der Pubertät beim autobiographischen Erinnern etwas Eigenartiges geschieht.

    Normalerweise sind bei der Erinnerungsarbeit die Hirnareale für das autobiographische Gedächtnis intensiver aktiv als die Areale für das semantische Gedächtnis, das allgemeine Wissensdaten speichert. In der Pubertät dagegen ist das anders: hier gleicht sich die Aktivierungsintensität beider Systeme aneinander an.

    Sylvia Oddos vorläufige Interpretation dieses Ergebnisses: In der Pubertät arbeiten die Jugendlichen daran, sich die Welt selbstständig neu zu erschließen, um ein autonomes Selbst auszubilden. Sie machen neue Erfahrungen, engagieren sich sozial, kulturell oder politisch. Da hier also die Aneignung von neuem Wissen und die Ausbildung eines eigenen Selbst Hand in Hand gehen, vermindert sich auch der Aktivitätsunterschied zwischen autobiographischen und semantischen Erinnerungen.

    Und wie sieht es bei den älteren Menschen, den über sechzigjährigen aus? Projektleiter Hans Markowitsch fasst das Ergebnis der Studie zusammen, die Anna Schwab dazu an 14 Testpersonen durchgeführt hat:

    " Da findet man, was die Ergebnisse an den alten Menschen zeigen, dass die Erlebnisse, die eher so der Zeit des jungen Erwachsenenalters stammen, am stärksten auf Hirnebene Netzwerke aktivieren. Die letzten zwei Jahre aktivieren kaum noch etwas, die ganz frühe Jugend oder Kindheit aktiviert interessanterweise auch nicht mehr ganz so viel. Also da gibt’s einen Gradienten, der vielleicht damit zusammenhängt, dass man als junger Erwachsener in den Beruf getreten ist oder Kinder gekriegt hat, geheiratet hat, dass da sich der Beginn der Erwachsenwelt gefestigt hat und man eventuell auch da ganz gern zurückblickt, was man damals begonnen und inzwischen erreicht hat. "

    Die frühe Kindheit scheint schon zu weit weg zu sein, in der jüngsten Vergangenheit dagegen passiert bei den meisten älteren Menschen nicht mehr all zu viel Aufregendes. Die Erinnerungen an die wichtige Zeit des Einstiegs ins Erwachsenenalter nehmen im autobiographischen Gedächtnis hingegen einen besonderen Stellenwert ein. Wobei das noch von einer zweiten Tendenz überlagert wird. Anna Schwab:

    " Je weiter die Erinnerung in die Vergangenheit zurückreicht, desto mehr "semantisiert" sie, was man vielleicht sagen kann was umgangssprachlich immer wieder erwähnt wird als " Die Zeit heilt alle Wunden", also man distanziert sich auf der emotionalen Ebene von den eigenen Erinnerungen. "

    Frühe Erinnerungen behandelt das ältere Gehirn offenbar eher wie faktisches Wissen und nicht so sehr wie ein persönliches Erlebnis. Das kann heilsam sein, wenn es sich um negative Erfahrungen handelt. Allerdings trägt es für Harald Welzer auch zum problematischen Umgang von Kriegsteilnehmern mit ihrer Soldatenzeit bei. Die Erinnerungen aus der frühen Erwachsenenzeit haben im Gedächtnis dieser Zeitzeugen eine solche Bedeutung und Stabilität gewonnen, dass diese in gewisser Weise unfähig sind, sie neu zu bearbeiten. Welzer stellte eine solche Inflexibilität schon im Erzählstil älterer Zeitzeugen fest.

    " Wir würden das nennen, dass ein 60-Jähriger, ein älterer Mensch eine höhere Form der Semantisierung vornimmt, d.h. der repräsentiert sein Wissen nicht in Form einer gelebten Erzählung, wo noch viele Bezüge darauf genommen werden, direkte Rede und Lebendigkeit und was man da für Merkmale finden kann, sondern er präsentiert sie in einer relativ abgeschlossenen Form, alltagssprachlich würde man sagen, es ist immer gleich die Moral der Geschichte dabei. "

    Es gibt also offenbar einen neurobiologischen Grund dafür, warum sich ehemalige Kriegsteilnehmer oft nicht mehr über die Kriegszeit belehren lassen: das Gehirn behandelt ihre damaligen Erinnerungen wie ein starres, unverrückbares Weltwissen.

    Diese Forschungsergebnisse bedeuten natürlich keinen Freispruch für unverbesserliche Geschichtsklitterer. Aber sie regen doch zu einem differenzierten Umgang mit uneinsichtigen Vergangenheitsbeschönigern um. Während man gegen bewusste Ideologen scharf vorgehen muss, hilft bei manch anderen vielleicht eher ein psychologisch einfühlsameres Vorgehen: es akzeptiert die starre Weltsicht zunächst einmal als subjektive Sicht der Dinge um dann in einem ausführlichen "memory talk" deren Begrenztheit aufzudecken.

    Eine erste Zwischenbilanz der bisherigen interdisziplinären Forschungen zum autobiographischen Gedächtnis bestätigt also, dass es möglich ist, das Zusammenspiel biologischer und sozialer Faktoren über die Lebensgeschichte hinweg kenntlich zu machen.

    Am Beginn der Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses haben soziale Interaktionen und Narrationen einen großen Einfluss. Im hohen Alter dagegen sind neuronale Besonderheiten für eine individuelle Starre des Gedächtnisses stark mitverantwortlich. Es gibt also lebensgeschichtliche Verschiebungen im Wechselspiel der biologischen und sozialen Einflussfaktoren. Trotzdem sind immer beide an dem beteiligt, was ein einzelner Mensch erinnern kann und was er an Erinnerungen äußern darf, ohne auf Widerspruch zu stoßen.

    Reichen diese Forschungsresultate aus, um bereits ein interdisziplinäres Modell des autobiographischen Gedächtnisses zu formulieren? Einen Konsens gibt es innerhalb der Forschungsgruppe noch nicht, aber Harald Welzer wagt zumindest eine erste These.

    " Also ich würde das eine formative Theorie des Gedächtnisses nennen. Und zwar meine ich damit, dass wir in bestimmten Lebensaltern das, was wir ohnehin schon als Erinnerungskompetenz gelernt haben oder was sich in bestimmter Weise gebahnt hat, in ein neues Format bringen. "

    Die unbewussten Interaktionserfahrungen des frühen impliziten Gedächtnisses werden ab dem zweiten Lebensjahr in das neue Format des bewussten Selbstbezugs gebracht. Ende der Adoleszenz wird dann dieses selbstbezogene Erinnern neu formatiert, wenn die Jugendlichen den memory talk selbstständig beherrschen: wie erzähle ich von meinen Erinnerungen, damit andere sie akzeptieren? Im Verlauf des Lebens verschieben sich dann in neuen Formaten die Bezugspunkte der Erinnerung: bestimmte Lebensphasen werden wichtiger, anderer unwichtiger, manche Erinnerungen werden starrer usw. usf.

    Um diese Hypothese eines formativen Gedächtnisses zu überprüfen und genauer zu klären, wie das autobiographische Gedächtnis mit den anderen Gedächtnissystemen zusammenhängt, müssen noch laufende Studien ausgewertet und neue durchgeführt werden. Die bisherige interdisziplinäre Zusammenarbeit im Projekt verlief jedoch so erfolgversprechend, dass in Essen ein internationales " Center for Interdisciplinary Memory Research" gegründet wurde, das Natur-Geistes- und Sozialwissenschaftler langfristig zusammenführen soll.